Helmut Lachenmanns „Got lost“ im Württembergischen Kunstverein

21.
Feb.
2011

 

Es ist eine viel diskutierte Frage: sollte sich die Kunst auch dorthin bewegen,wo sich Menschen aufhalten, also auf öffentliche Plätze wie Fußgängerzonen und Bahnhöfe, oder muss, wer etwa Musik hören möchte, dazu deren angestammte Aufführungsorte aufsuchen? Nach Ausflügen in Straßenbahnen, Autohäuser und auf Verkehrskreuzungen hat sich die Zeitoper-Reihe der Stuttgarter Staatsoper, zu deren Selbstverständnis die Auseinandersetzung mit dieser Frage gehört, nun in einen originären Kunst-Raum begeben: dem Württembergischen Kunstverein nämlich, wo sie diesmal nicht die Begegnung mit dem Profanen, sondern mit dem Künstlerischen, in diesem Fall den Gemälden von Michael Borremans, gesucht hat. Dazu hat der Dramaturg Xavier Zuber das Stück „Got lost“ für Klavier und Sopran von Helmut Lachenmann szenisch eingerichtet. Borremans selbst war für die Kostüme verantwortlich, die Aufführung fand mitten in der Ausstellung, umgeben von Borremans Bildern statt. Die zeigen auf den ersten Blick ganz normale Motive – Körper, Gesichter, Tiere. Doch ist all diesen Darstellungen ein Moment der Irritation gemeinsam: mal fehlt ein Auge, mal ein Unterleib, oft sind die Konturen beunruhigend verwischt.Je länger man durch die Ausstellung geht, umso mehr baut sich ein subtiler Horror auf – nichts ist hier, was es zunächst scheint, und je länger man hinschaut, desto mehr verstörende Details offenbaren sich. In einem Film zeigt der Künstler ein einziges Foto von sitzenden Personen, aber wie auf alten Super-8-Streifen in schwankenden Belichtungen – das Moment der Zeitlichkeit dringt auf diese Weise subtil ein in die Statik bildnerischer Darstellung.

Ganz ähnlich verfährt Helmut Lachenmann, wenn er den Zeitcharakter der Musik etwa dadurch aufbricht, dass er die Sopranistin sekundenlang Konsonanten dehnen lässt oder Klavierakkorde wie Klangflächen im Raum stehen lässt. Gut möglich, dass es an solchen grundsätzlichen Analogien von Komponist und Künstler liegt, dass diese Aufführung eine derartige Faszination entwickelt – ja, man fast den Eindruck hat, als sei das Stück, in dem Lachenmann Texte von Nietzsche, Fernando Pessoa und die Notiz einer Waschfrau kombiniert, originär szenisch angelegt.

Wie Borremans die Bildwelt ins Kippen bringt, so spielt Lachenmann auf virtuoseste Weise mit den Kategorien der Klänge, setzt Klavier und Gesang, Geräusch und Töne in vielfältige Korrespondenzen. Die wunderbare Yuko Kakuta tiriliert, gurrt, schnalzt und schnauft, die Saiten des geöffneten Flügels bündeln ihre Töne zu Akkorden, auch der Pianist Stefan Schreiber beteiligt sich vokal an diesem schillernd-schrägen Gesamtkunstwerk, das nicht zuletzt durch seinen absurden Witz besticht. Denn Borremans hat die Akteure – neben Sängerin und Pianist noch drei stumme Darsteller – in eine Art Western-Ausgehuniform mit Cowboyhüten und -stiefeln gesteckt und lässt sie darin mehr oder weniger sinnfreie Aktionen ausführen. Man versteht wenig, im herkömmlichen Sinne, auch die Texte haben kaum mehr als lautmalerische Funktion. Fast scheint es, als sei man in eine andere Welt versetzt, in der die üblichen Normen keine Gültigkeit haben. Ein Karneval? Große Kunst auf jeden Fall. (Stuttgarter Zeitung)

 

 

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