Beiträge im Archiv Mai 2011

Händels Oratorium „Il trionfo del tempo e del disinganno“ am Stuttgarter Opernhaus

29.
Mai.
2011

Zwanghaftes Fummeln

Was ist wichtig im Leben? Schönheit und Vergnügen oder Wahrheit und Moral? In seinem Oratorium „Il trionfo del tempo e del disinganno“ geht der junge Georg Friedrich Händel diesen Fragen nach und lässt die allegorischen Figuren „Bellezza“ (Schönheit), „Piacere“ (Vergnügen), „Tempo“ (Zeit) und „Disinganno“ (Enttäuschung) singend gegeneinander antreten. Piacere verspricht Bellezza, wenn sie zu ihr halte, werde sie auf ewig schön sein. Tempo und Disinganno überzeugen sie schließlich, dass die Schönheit vergänglich ist, bis Bellezza schliesslich den Weg ins Kloster antritt. Händel schrieb das Stück während seines Aufenthalts in Rom 1707 auf einen Text des Kardinals Benedetto Pamphilj und schuf damit eine äusserlich schematische, im Inneren aber überwältigend dramatische und vielfarbige Abfolge von Dacapo-Arien und Rezitativen. Ein Disput in Gesang, praktisch ohne Handlung. Wie bringt man das auf die Bühne?

Calixto Bieito hat sich bei seiner Neuinszenierung für das Stuttgarter Opernhaus für ein Karussell als zentrale Metapher entschieden, das das Sich-im-Kreise-drehen des Lebens ebenso symbolisiert wie das schiere Vergnügen und sich in jenem Moment zu drehen beginnt, als die Musik im Orchestergraben ansetzt. Eine einleuchtende Idee, die dann aber auch so ziemlich die einzige an diesem Abend bleibt. Denn Bieito wirkt ratlos angesichts der Stilisierungen des Librettos, zu denen ihm nicht mehr einfällt, als sie mittels überzeichneter Drastik auf den Boden einer (vermeintlichen) Realität herunterzuholen. So wird den ganzen Abend in öder Zwanghaftigkeit gefummelt und ansatzweise kopuliert, jeder treibt es mit jedem; Belleza (expressiv, aber in der Höhe nicht immer sauber fokussiert: Camilla de Falleiro) ritzt sich die Oberschenkel und die wie eine abgewrackte Nutte ausstaffierte Disinganno (darstellerisch fulminant, sängerisch durchwachsen: Marina Prudenskaja) verstümmelt sich gegen Ende gar selber: ihre abgeschnittene Brust reicht sie Belleza, die sich damit ihr weißes Kleid befleckt. Bieito findet keine Bilder für die Imaginationsräume, die Händels Musik aufschließt – aufschließen könnte. Zwar klingt das Staatsorchester unter der Leitung von Sébastien Rouland streckenweise wie ein genuines Alte-Musik-Ensemble: trocken und transparent, mit schlüssiger Phrasierung und rhythmisch pointiert. Doch vieles wirkt gehetzt, atemlos, allzuoft vergisst der Dirigent, die Sänger mitzunehmen bei seinen ehrgeizigen Tempi. Die haben ohnehin schwer zu kämpfen mit ihren Partien: Koloraturen werden da schon mal in Glissandi aufgelöst, auch mit der Intonation steht es nicht immer zum besten. Am besten packt das noch derTenor  Charles Workman (Tempo), aber vor allem Ezgi Kutlu (Piacere) bleibt oft nichts anderes, als dem Orchester hinterherzuhecheln. Insgesamt eine verschenkte Premiere.

(Mannheimer Morgen)

Bill Frisell und Sam Amidon bei den Ludwigsburger Schlossfestspielen

26.
Mai.
2011

Auf der Suche nach den Wurzeln amerikanischer Musik

Es dauerte bis zur letzten von insgesamt drei Zugaben, als der Abend endlich abhob. Sam Amidon sang über einem simplen Akkordgerüst Strophen eines amerikanischen Folksongs, als Bill Frisell sich anschickte, mit seinem eigenen Gitarrenspiel via Effektgerät in Dialog zu treten. Frisell legte harmonische Klangflächen aus, über die er dann in seiner unnachahmlich intelligenten Art improvisierte, unter Einsatz aller denkbaren Flageoletts und jenseits allen konventionellen Skalengenudels. Das dauerte, während Amison auf seiner Westerngitarre seine Akkorde weiterschrubbte, gefühlte zehn Minuten. Und es hätte noch lange so weitergehen dürfen.

So oder so ähnlich hatte man sich den Abend eigentlich von vornherein gewünscht, aber dass es dann doch ein eher durchwachsenes Konzert wurde, lag wohl vor allem an der überambitionierten Dramaturgie. Nach dem grandiosen Erfolg der Song Conversations im Vorjahr, als sich Bill Frisell, Brad Mehldau und Joe Henry gegenseitig zu Höhenflügen inspirierten, lag es für Thomas Wördehoff, den Intendanten der Ludwigsburger Schlossfestspiele, nahe, in der aktuellen Saison an dieses Konzept anzuknüpfen. Diesmal stand die amerikanische (Folk)musiktradition im Mittelpunkt: an zwei „American Roots“ übeschriebenen Abenden sollte erkundet werden, wie sich eine genuin amerikanische Musikidentität im Schnittpunkt zwischen U- und E-Musik, Tradition und Avantgarde entwickelt hat. Dazu hatte man neben dem Bratscher Eyvind Kang, dem Perkussionisten Rudy Koyston und der Gitarrenlegende Bill Frisell auch den jungen Folksänger Sam Amidon eingeladen. Der aus Vermont stammende Amidon, der sich viel mit der Historie der Folkmusik beschäftigt hat, war für Wördehoffs Projekt insofern eine ideale Besetzung, als ihm daran gelegen ist, den alten Songs neue Facetten abzugewinnen, ohne ihre Substanz zu gefährden. Tatsächlich funktionierten die drei Folksongs zu Beginn des zweiten Konzerts am Freitag auch gut: Amidon sang „Johnny Brown“, „David´s Lament“ und „Hard Times“, Bill Frisell ließ dazwischen seine Gitarrengenieblitze aufleuchten, Perkussion und Bratsche begleiteten dezent. Doch dann hatte man Amidon die undankbare Aufgabe zugemutet, Lieder von Charles Ives zu singen – was ihm mehr schlecht als recht gelang. Amidon ist ein Folksänger: mit einer charakteristischen, in der Höhe etwas dünnen Stimme, Ives´Lieder aber sind veritable Kunstlieder, die eine ausgebildete Stimme voraussetzen. So bangte man beim Hören mit dem merklich überforderten Amidon und seinen ebenfalls etwas angespannt wirkenden Begleitern und war froh, als dieser Programmpunkt endlich bewältigt war.

Um die Einflüsse der Songtradition auf die Kunstmusik deutlich zu machen, standen an diesem Abend noch Ausschnitte aus drei Streichquartetten amerikanischer Komponisten auf dem Programm: John Cage, Henry Cowell und Charles Ives haben jeweils auf ihre Weise diese Tradition in ihrem Werk verarbeitet. Gespielt wurden die Quartette vom sogenannten „Streichquartett der Schloss-Solisten“ – vier aus dem Festspielorchester rekrutierten Streichern, die aber dem Ohrenschein nach kein eingespieltes Quartett sind: wenig strukturiert und klanglich amorph wirkten ihre Interpretationen. Von Festspielniveau war das weit entfernt.

Zum letzten Programmteil fanden sich dann alle auf der Bühne des nur mäßig gefüllten Ordenssaals zusammen, um einige von Nico Muhly arrangierte Folksongs zu spielen: manche davon interessant wie „Pretty Fair Damsel“, zu dem Frisell sein Wah-Wah-Gerät auspackte, andere wie „Little Satchel“ etwas überladen: manche der schlichten Lieder vertragen zuviel Drumherum schlecht. Das Publikum jedenfalls applaudierte nach Kräften: es spürte wohl, dass alle ihr Bestes gaben. Aber die Umstände ließen an diesem Abend einfach nicht mehr zu.

(Esslinger Zeitung)

Über Geländewagen

20.
Mai.
2011

Statistisch gesehen werden Porsche Cayennes und Audi Q 7 so gut wie nie abseits der öffentlichen Straßen eingesetzt. Doch darum geht es ja auch nicht.

Es gibt ja Menschen, die behaupten, ein Automobil diene einzig dem Zweck, damit von A nach B zu kommen. Ich glaube das nicht. Stattdessen bin ich der Überzeugung, dass der Beförderungsaspekt für viele eher eine untergeordnete Rolle spielt, was sich daran ablesen lässt, dass sie das Auto auch dann benutzen, wenn andere Verkehrsmittel schneller, billiger und bequemer wären. Doch gegenüber Designerklamotten oder Uhren besitzt ein Porsche oder Mercedes einen unschlagbaren Vorteil: er kann nicht gefälscht werden. So dient das Automobil als authentischer Nachweis für persönlichen Status, der gegenüber einer Immobilie obendrein den unschätzbaren Vorteil hat, dass man ihn in der Innenstadt parken und sich beim Ein- und Aussteigen beobachten lassen kann.

Vor diesem Hintergrund wird auch eines der merkwürdigsten Phänomene der letzten Jahre verständlich: der Geländewagenboom. Denn auf der rationalen Ebene bleibt unerklärlich, weshalb sich Männer unförmige, ursprünglich für Wildhüter und Farmer konzipierte Gefährte kaufen, die weder besonders schnell sind oder viel Platz bieten, dafür aber Unmengen Sprit verbrauchen und mit Funktionen ausgestattet sind, die im normalen Straßenverkehr überhaupt nicht gebraucht werden. Dafür demonstrieren die hohe Sitzposition und der panzerartige Look wie bei keinem anderen Gefährt das Dominanzbestreben des Fahrers: ich bin ganz oben und mir kann keiner. Leid können einem nur die Ehefrauen der Alphatiere tun: mit der M-Klasse im Breuninger-Parkhaus zu rangieren, macht nun wirklich keinen Spaß.

(Stuttgarter Zeitung, Wochenendbeilage)

Das New York Philharmonic Orchestra mit Werken von Mahler in Baden-Baden

17.
Mai.
2011

Missverständnis

Gustav Mahler hielt nicht viel von Dirigenten. Außer Willem Mengelberg und Bruno Walter gab es kaum welche, die er schätzte, und noch weniger, denen er die Aufführung seiner Werke zutraute. Aus diesem Misstrauen gründet sich auch die Ausführlichkeit, mit der Mahler seine Partituren mit Ausführungshinweisen versah: Wo sich andere Komponisten mit allgemeinen Tempo- und Charakterisierungsangaben begnügten, versuchte er, das Gewünschte möglichst genau zu beschreiben. Was allerdings dann auch nicht viel nützt, wenn ein Dirigent Mahlers Musik grundsätzlich missversteht, wie nun am Freitag abend im Baden-Badener Festspielhaus Alan Gilbert beim Konzert der von ihm geleiteten New Yorker Philharmoniker. Dabei hat gerade dieses Orchester eine besondere Beziehung zu Mahler: war es doch das letzte, dem Mahler als Chefdirigent vorstand wie auch jenes, das die Mahler-Renaissance im 20. Jahrhundert einleitete – mit seinem Chefdirigenten Leonard Bernstein machte es sich als erstes daran, alle Sinfonien auf Schallplatte einzuspielen. Eine stolze Tradition also, die auch zuletzt Lorin Maazel, Gilberts Vorgänger als Chefdirigent, mit seinen Einspielungen weitergeführt hat.

Nun hat Gilbert, der das Orchester seit 2009 leitet, durchaus einiges mit Maazel gemeinsam. Sein Dirigierstil ist von ähnlicher Präzision und Eleganz, und klanglich vermag auch er Verblüffendes aus diesem Luxusklangkörper herauszukitzeln. Allein, das reichte an diesem Abend nicht. Denn Mahlers fünfte Sinfonie ist eben kein spätromantischer Schinken, kein hollywoodesker Gefühlssoundtrack, dem mit Positivismus irgendwie beizukommen wäre. Die Musik klang an diesem Abend nach allem Möglichen – Mussorgsky, Tschaikowsky – aber nicht nach Mahler. Gilbert, der auf dem Podium nach Kräften schuftete, scheint nichts zu ahnen von den Untiefen dieser Musik, ihrem gebrochenen, auch in den strahlendsten Blechbläserausbrüchen immer gefährdeten Tonfall, ihrer Doppelbödigkeit, in der sich Weltschmerz und Verzweiflung mit Erlösungsfantasien verschränken. Gilbert suchte sein Heil in äußerlichem Aufpolieren, jede Phrase wurde mit Goldlack überzogen – und verfehlte so den Urgrund von Mahlers Musik völlig. Nicht nur der einleitende Trauermarsch blieb ein Sammelsurium diffus expressiver Stellen bar jeder immanenten Entwicklung, das Adagietto verkam zum sentimentalen Rührstück.

Dabei hatte der Abend verheißungsvoll begonnen. Der Bariton Thomas Hampson sang Mahlers Kindertotenlieder mit der gebotenen, gezügelten Emotionalität, stimmlich ungeheuer präsent und weitgehend makellos, was Diktion und Textverständlichkeit anbelangt. Ein in seiner Intensität tief berührender Vortrag, zu dem Alan Gilbert und das Orchester ideale Begleiter waren – rhythmisch flexibel und gerade in leisen Passagen mit unglaublicher Klangkultur zeigte sich nachdrücklich, über welch großartiges Potential dieses Orchester verfügt.

(Stuttgarter Zeitung)

Das Freiburger Barockorchester mit Véronique Gens

10.
Mai.
2011

Auf Manieren kommt es an

Die Sopranistin Véronique Gens gilt als Spezialistin für all die unglücklich Liebenden der französischen Barockoper, für jene Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs, die in ihrer amourösen Exaltiertheit auch mal zum Äußersten greifen – egal ob sie Armide, Circe, Phädra oder eben, wie in Jean-Philippe Rameaus Tragédie en musique „Dardanus“, Iphise heißen. Die darf zwar am Ende der Oper ihren Geliebten heiraten, doch ihre bis dahin durchlebte Seelenpein schilderte Véronique Gens in der Arie „Cesse, cruel amour“ bei ihrem Konzert mit dem Freiburger Barockorchester auf hinreißende Manier. Die Französin verfügt über vokale Differenzierungsfähigkeit, ihre Stimme besitzt Wärme und Kraft, doch anders etwa als ihre sich mit Haut und Haaren in Koloraturen verlierende Kollegin Cecilia Bartoli behält Véronique Gens auch in emotionalen Ausnahmezuständen immer die Contenance – und entspricht damit dem Ideal der französischen (Hof-)Musik, in der Form, Manier und Stil alles sind. Das von seinem Konzertmeister Gottfried von der Goltz geleitete Freiburger Barockorchester hatte diesen ganzen Konzertabend der französischen Barockmusik gewidmet, neben Rameau hörte man Instrumentalsuiten von Jean-Baptiste Lully und Jean-Féry Rebel, dazu ein Violinkonzert von Jean-Marie Leclair und Auszüge aus Michel Pignolet de Montéclairs Kantate „Le dépit généreux“, ebenfalls mit Véronique Gens als Solistin.

Doch auch wenn das mit jener instrumentalen Kompetenz vorgetragen wurde wie von den fabulösen Freiburgern – so richtig glücklich war man an diesem Abend nicht. Zwar können die Auszüge aus Rameaus „Dardanus“ ob ihrer kompositorischen Originalität auch isoliert faszinieren, doch viele der Gavotten, Bourrées oder Passepieds von Lully und Rebel sind doch sehr formelhaft gesetzt und vertragen es nur schlecht, wenn sie aus ihrem höfisch-festlichen Kontext gelöst und in das bürgerliche Konzertritual implementiert werden. Am besten funktionierte das noch mit Jean-Marie Leclairs Violinkonzert, das Gottfried von der Goltz mit der gebotenen Stilsicherheit und virtuosem Impetus gespielt hat. Was andere Stücke anbelangt, so müsste die historisch informierte Aufführungspraxis hier vielleicht noch einen Schritt weiter gehen und auch die Aufführungsbedingungen der Werke künstlerisch reflektieren – wie das aussehen könnte, hat zum Beispiel Thomas Hengelbrock mit seinen musikalisch-theatralischen Gesamtkunstwerken eindringlich vorgemacht.  (Stuttgarter Zeitung)