Beiträge im Archiv Juli 2011

Philippe Jaroussky mit Werken Vivaldis im Hegelsaal

14.
Jul.
2011

Pures Gesangsglück

Geht man von den für sie geschriebenen Arien aus, so müssen Kastraten in der Lage gewesen sein, eine ganze Partiturseite zu singen ohne Luft zu holen. Möglich war dies, weil die Entfernung der Hoden nicht nur dazu führte, dass sie als erwachsene Männer die Stimmlage eines Kindes bewahrten, sondern auch ihren Hormonhaushalt derart durcheinander brachte, dass nicht nur die Gliedmaßen, sondern auch innere Organe wie die Lunge überproportional wuchsen. Jedenfalls wurden dadurch jene sängerischen Effekte möglich, die das Publikum im Barockzeitalter in Verzückung geraten und die Kastraten zu gefeierten Stars avancieren ließen – zumindest jene wenigen, die das Talent dazu besaßen. Denn viele überlebten schon den Eingriff nicht, von den anderen schafften es die allerwenigsten auf die Bühne.

Kastraten gibt es heute zum Glück keine mehr, doch welche Faszination sie auf das Publikum im 18. Jahrhundert ausgeübt haben, das konnte man nun beim Konzert des französischen Countertenors Philippe Jaroussky im Hegelsaal mit Werken Antonio Vivaldis zumindest ansatzweise nachvollziehen.

Denn auch Jaroussky beherrscht – und das allein kraft seiner überragenden Technik – viele jener sängerischen Effekte, die das Publikum damals zur Raserei brachten. In der Aria „Descende, o coeli ros“ etwa hält man als Zuhörer unwillkürlich den Atem an, wenn er die Phrasen schier endlos in die Länge zieht, ohne an Klang oder Volumen nachzulassen. Auch die messa di voce, also das An- und Abschwellenlassen eines Tons ist eines jener Register, über die Jaroussky virtuos verfügt. Es dürfte zurzeit keinen anderen Countertenor geben, der eine derartige Technik und zugleich eine so reine und klanglich flexible Stimme besitzt wie der 33-jährige Franzose, der erst im Alter von 20 Jahren ernsthaft mit dem Singen begonnen und mittlerweile an die 25 CDs aufgenommen hat. Obwohl er, wie alle Countertenöre, nur mit der Kopfstimme singt, hat sein Timbre so gar nichts Künstliches: in seiner Stimmfarbe verbindet sich ein spezifisch männlicher Kern mit einer betörend süßen Obertönigkeit – eine singuläre Mischung, die das Auditorium im nicht ganz gefüllten Hegelsaal nachhaltig in den Bann zog.

Freilich – und das ist das Entscheidende – bleiben bei Jaroussky auch gesangstechnische Effekte immer eingebunden in ein Singen, das Ausdrucksreichtum und Gefühlstiefe ins Zentrum stellt. Das wurde gleich im ersten Teil des Programms deutlich, das Vivaldis geistlicher Musik gewidmet war, einem Repertoire, das lange Zeit etwas stiefmütterlich behandelt worden ist. Dabei zeigt sich Vivaldi hier – wie in seinen Opern – als Meister in der Darstellung von Affekten. Schon in der Motette „Longe mala umbrae terrores“, wo Jaroussky alle Facetten seiner Verzierungskunst offenlegt, aber vor allem in „Nisi Dominus“, Vivaldis wohl ambitioniertester Psalmvertonung für Sologesang. Abwechslungsreicher als in diesen neun Sätzen hat Vivaldi auch sonst kaum komponiert. Man findet schlichte Continuo-Arien, dazu Kirchenarien in konzertantem Stil und Solitäre wie das grandiose, im Sicilianostil komponierte „Cum dederit somnum“, dessen chromatisch ansteigende Linien und Dissonanzreibungen Schläfrigkeit vermitteln sollen. Hier wurde auch deutlich, weshalb Jaroussky sich mit dem Ensemble Artaserse um den fabelhaften Geiger und Viola-d’amore-Spieler Alessandro Tampieri zusammengetan hat: Mitfühlender, Mit-atmender, klanglich feiner als hier kann man einen Sänger nicht begleiten.

Auch die Instrumentaleinlagen, sonst gerne ein Lückenfüller in Sängerprogrammen, hielten hier das künstlerische Niveau, ja, fügten dem Abend entscheidende Mosaiksteinchen dazu: Lernte man dabei doch Preziosen wie Vivaldis Konzert für Viola d’amore, Laute und Orchester RV 540 kennen, bei dem sich Tampieri als ebenso kompetenter wie stilsicherer Solist erwies wie im Violinkonzert D-Dur RV 208 – an seine fast zirkusmäßig hochgeschraubte Kadenz wird man noch lange denken.

In der zweiten Hälfte brachte Jaroussky die enthusiasmierten Hörer mit ausgewählten Opernarien dann endgültig in jene feierliche Hochstimmung, die musikalischen Sternstunden wie dieser vorbehalten ist. Was soll man groß sagen? Jedes Stück ein Juwel, makellos und vielfarbig glänzend. Geht es schöner? Wohl kaum. Bravi, Ovationen im Stehen, und dann zwei Zugaben, die man, fast benebelt vor Glück, dankbar mit nach Hause nimmt: „Alto giove“ von Nicola Porpora und Vivaldis „Sento in seno“.
(Stuttgarter Zeitung)

Ernst Mantel feiert im Renitenz sein 30-jähriges Bühnenjubiläum

08.
Jul.
2011

Feinripp unterm Dinnerjacket

Nein, so kennt man Ernst Mantel eigentlich nicht. Mit weißem Dinnerjacket, Stehkragenhemd (unter dem sich aber das Feinrippunterhemd deutlich abzeichnet) und mit schwarzer Fliege entert er im Stil amerikanischer Entertainer die Bühne des Renitenztheaters, auf der zuvor schon die Musiker der Tobias Becker Bigband Platz genommen und das Publikum im Saal mit swingenden Music-Hall-Rhythmen aufgewärmt haben. „Die Mantel-Gala“ heißt das Programm, mit der das Ex-Kleine-Tierschau-Mitglied, das sich in den letzten Jahren mit seinem Duo „Ernst &Heinrich“ sehr erfolgreich in der Kabarett- und Comedyszene etabliert hat, sein dreißigjähriges Bühnenjubiläum feiert – und da dürfen etwas Glanz und Glamour ja schon sein. Aber Mantel wäre nicht der begnadete Komiker, würde er nicht auch diese Rolle parodieren: indem er selbstverliebt den Kopf nach hinten wirft oder verzückt den Blick nach unten auf seine tänzelnden Füße wirft, macht er schnell klar, dass er auch mit dieser Rolle nur spielt. Die Wandlungsfähigkeit, mir der Mantel in verschiedenste Rollen schlüpfen kann, ist eine seiner Stärken – das wird auch an diesem Abend deutlich, an dem er einige seiner komödiantischen Stationen Revue passieren lässt. Dazu zählen frühe Lieder aus seiner Tierschau-Zeit, aber auch aktuelle Songs aus seinen Solo- und Duoprogrammen wie „Scheissabach“ oder „No me hai“, zu dem dann sein Duopartner Heiner Reiff auf die Bühne kommt. Dazu gibt es eine kleine Diaschau mit Bildern aus der Tierschauzeit, als Mantel so legendäre Figuren wie den „Lurchi“ oder den „Heulenspiegel“ verkörpert hat. Seine beiden Ex-Kollegen sind darauf aber nirgends zu sehen – der Riss zwischen ihnen muss groß sein.

Erstaunlich, dass auch die Bigband-Arrangements jener im typischen Mantel-Moritatenstil konzipierten Songs wie „Dr Anfang“ ziemlich gut funktionieren. Gegen Ende – Mantel hat sein Dinnerjacket inzwischen abgelegt – servieren dann noch die famosen Vokalkünstler der Gruppe „Die Füenf“ ihr zwerchfellerschütterndes Lebensmittelmedley. Natürlich mit dem Klassiker „Schuhsohlenleder“.
(Stuttgarter Zeitung)

Julia Fischer und das RSO im Beethovensaal

08.
Jul.
2011

Es hat dann doch eine Weile gedauert, bis Julia Fischer und das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR zueinander gefunden hatten. Etwas verhalten wirkte die Geigerin zu Beginn von Beethovens Violinkonzert, als sei sie irritiert von dem sehr gemessenen, an klassischer Stilistik ausgerichteten Tonfall, den der Dirigent Andrey Boreyko mit dem Orchester anschlug. Man könnte da, gerade mit einem so schlackenlos-transparenten Orchesterklang wie dem des R SO, manches durchaus etwas spannungsvoller gestalten und damit der Solistin den Boden bereiten – zumal ja gerade dieses Konzert, in dem sich Solo-und Orchesterpart so sehr durchdringen, in besonderem Maße vom Miteinander von Solist und Orchester lebt, die hier eher Partner sind, als dass sie sich in Konfrontation befinden. Julia Fischer jedenfalls blühte erst in der Kadenz des ersten Satzes richtig auf, in der man spürte, welches Temperament und welch virtuoses Potential sich hinter ihrer zarten Erscheinung verbergen. Befreiter wurde es dann im Larghetto. Faszinierend die kontrollierte Innenspannung, mit der Julia Fischer hier die Kantilenen aussang und dabei Gelegenheit erhielt, das ganze klangliche Spektrum ihrer Guadagnini-Geige zu offenbaren. Anders als bei vielen ihrer Kollegen wirkt Julia Fischers Spiel niemals outriert: selbst Höchstschwierigkeiten absolviert sie mit elegant-diskreter Nonchalance, was gerade Beethovens Musik, die Inhalt immer über Wirkung stellt, sehr entgegenkommt. Im Rondo-Finale schließlich ließ Boreyko das Orchester dann geradezu empatisch aufspielen, und bis auf kleine Differenzen in der metrischen Gewichtung des ersten Themas strebten Solistin und das R SO dann in bester Gemeinsamkeit auf den Schlussakkord zu.

Der Applaus im Saal war da schon groß, wandelte sich aber am Ende des Konzerts zu Ovationen, und das zu Recht. Denn zuvor durfte man eine aufwühlende, an orchestraler Brillanz kaum zu überbietende Aufführung von Dmitrij Schostakowitschs fünfter Sinfonie erleben, die wieder einmal schmerzlich daran erinnerte, wie wenig repräsentiert dieser nach Mahler bedeutendste Sinfoniker auf unseren Konzertprogrammen immer noch ist. Freilich geht das nicht ohne ein tiefes Verständnis für den hybriden, von Widersprüchen und Brüchen geprägten Tonfall von Schostakowitschs Musik. Gerade in der Fünften, die Schostakowitsch nach heftiger Schelte Stalins geschrieben hat, war der Komponist gezwungen, sein Anliegen hinter äußerlichen Repräsentationstönen und Folklorismen zu verstecken. Boreyko riß diese Fassade mit dem in glänzender Form spielenden RS O ein, leuchtete die kammermusikalisch aufgebrochenen Strukturen aus und legte die Sarkasmen, die Desolatheit, das ganze subversive Potential frei, das sich hinter dem hohlen Parteitagspathos verbirgt. So hätte das Stalin nicht gefallen. (Stuttgarter Zeitung)