Beiträge im Archiv Oktober 2011

Hector Berlioz´ “La Damnation de Faust“ (Fausts Verdammnis) an der Stuttgarter Staatsoper

31.
Okt.
2011

Foto: A.T. Schaefer

So viel Spannung war lange nicht vor einer Opernpremiere in Stuttgart: Davon zeugte, neben einer ausführlichen Vorberichterstattung der lokalen Presse,  nicht zuletzt das ausverkaufte Haus – ja, es gab sogar Etliche,  die noch am Abend vergeblich nach Karten anstanden für Hector Berlioz´„La Damnation de Faust“, der ersten Neuproduktion unter der Verantwortung der neuen Hausregisseurin Andreas Moses. Am Ende gab es herzlichen Applaus, viele Bravos und einzelne Buhs für ein alles in allem eindrucksvolles Debüt der gebürtigen Dresdnerin, bei dem auch verständlich wurde, warum der neue Intendant Jossi Wieler die zuletzt am Theater Dessau engagierte Moses nach Stuttgart geholt hat.

Denn wie Wieler steht auch Moses für eine zeitkritische Theaterarbeit, in der auch historische Stoffe schon mal in den Fokus aktueller gesellschaftlicher Verwerfungen gestellt werden. Im Falle Berlioz bedeutete das, den ersten Teil der „dramatischen Legende“ – wie der Komponist sein ursprünglich konzertant angelegtes Werk unterschrieben hat – auf die politisch prekäre Lage des heutigen Ungarn zu beziehen. Bekanntlich werden dort wieder Minderheiten verfolgt, und so treten in der Oper rechtsradikale Schlägertrupps auf, die die Hochzeitsgesellschaft der Sinti und Roma brutal zusammenknüppeln. Dass solches Unrecht nicht nur politisch, sondern auch kirchlich geduldet wird, zeigt Moses im Schlussbild der Oper, wenn der zum Kardinal (?) mutierte Méphistophélès die Schläger sogar segnet und en passant Marguerites Himmelfahrt mittels einer vergifteten Kommunionsgabe verhindert. Der Teufel, mit den Faschisten im Bunde?

Starker Tobak, der aber jederzeit schlüssig herausgearbeitet und vor allem: szenisch beglaubigt wird. Moses erzählt Fausts Geschichte als die eines lebensuntüchtigen, orientierungslosen Künstlers, der sich in die Fänge des zynischen Mephisto begibt und am Ende daran zugrundegeht, nachdem auch seine Liebeswerben um Marguerite nicht von Erfolg gekrönt ist. Die einzelnen Szenen spannt Moses unter einen großen Bogen –  Innen- und Außenwelt, Realität und Fiktion, ja auch Gegenwart und historische Projektionen werden dabei virtuos in- und übereinandergeblendet . Bildmächtiger – und aufwendiger – als hier kann Oper kaum sein: unglaublich, was da vom Bühnenbildner Christian Wiehle während der ständigen Verwandlungen an fantasievollen Kostümen und üppigen Arrangements aufgefahren wird. Und dennoch ist das konzises Musiktheater. Denn bei aller szenischen Fantasie folgt Moses immer dem Puls, den die Musik vorgibt – und entwickelt dazu grandiose Bilder: wie den skurrilen Cancan zur Amen-Fuge oder die von Videosequenzen unterlegten Traumszenen des paralysierten Faust.

Unerklärlich nur, warum es der neuen Opernleitung nicht gelungen ist, eine adäquate Sängerbesetzung zu verpflichten. Außer Mark Munkittrick (Brander) wird keiner den Anforderungen seiner Rolle wirklich gerecht. Pavel Cernoch (Faust) ist ein überzeugender Darsteller mit Potential,  seinem gut geführten Tenor mangelt es aber etwas an (Höhen-)Strahlkraft, zudem zeigt er sich wenig vertraut mit der französischen Prosodie, die das Fundament für den klanglichen Gestus dieser Musik ist. Besser gelingt das Robert Hayward (Méphistophélès), noch besser Maria Riccarda Wesseling (Marguerite), deren etwas eindimensionaler Sopran in der Höhe aber bedenklich zum Flackern neigt. Und auch der grandiose Staatsopernchor kann nicht vergessen machen, dass es dem Dirigenten Kwamé Ryan zu häufig misslingt, Bühne und Orchester zusammenzuhalten. Neben durchaus vorhandener koloristischer Vielfalt vermisst man auch mitunter rhythmischen Drive,  Spannung, Kitzel: es steckt durchaus mehr in dieser zukunftsweisenden Partitur, als in  Stuttgart bei der Premiere  zu hören ist.

Weitere Aufführungen am 05.11., 10.11., 18.11., 27.11.
und viele weitere bis zum 24.01.

Brahms´ Violinsonaten mit Daniel Gaede und Xuesu Liu

27.
Okt.
2011

Mit pochendem Herzen

„Schauernd kühlte jeder Tropfen / Tief bis an des Herzens Klopfen.“ Ob das Thema des Regenlieds nach einem Gedicht von Klaus Groth, das Brahms im Finale seiner G-Dur-Sonate anklingen lässt, dem Komponisten die Haltung für jenes Stück eingegeben hat, unter dessen freundlich-unbeschwerter Oberfläche man das Pochen eines nervösen Herzens hören kann? Brahms hat die Sonate op. 78 Clara Schumanns Sohn Felix gewidmet, der 1879 an Tuberkulose starb und dessen Tod in sehr getroffen hat: Felix war sein Patenkind. Auch in Brahms´ anderen beiden Violinsonaten liegt der musikalische Gehalt nicht immer offen zutage, sondern muss aus dem motivischen Dickicht, das Brahms über die Sätze spannt, freigelegt werden. Mit solistischen Attitüden ist hier wenig gewonnen, und so liegt die Qualität der Neueinspielung der drei Sonaten mit dem Geiger Daniel Gaede und der Pianistin Xuesu Liu vor allem in dem kammermusikalischen Gleichklang, mit dem sie den emotionalen Facetten dieser ungemein vielschichtigen Musik nachspüren – auf höchstem technischen Niveau und mit einer gestalterischen Souveränität, die immer die Musik selber sprechen lässt.

Brahms. Complete Sonatas for piano and violin. Tacet 193.

Zunehmend uncool: Gutmenschen

27.
Okt.
2011

Noch bis vor 20 Jahren begriffen sich Ökoaktivisten und Umweltschützer gern als Opposition zum herrschenden System. Man war gegen Atomkraft und die Macht der Großkonzerne, aß Müsli statt Burger und trug Jute statt Plastik: Mit dem Image des Revoluzzers konnte man sich gut schmücken. Heute ist Grünsein in, viele der einstigen Forderungen sind gesellschaftliches Allgemeingut geworden: auch Spießer trennen heute Müll und lesen Ökotest. Deshalb gelten umweltschonendes Verhalten und das Eintreten für benachteiligte Randgruppen plötzlich vielen als uncool: Gutmenschen schimpft man zunehmend jene Ewiggestrigen, die angeblich noch nicht kapiert haben, dass der raue Wind der Globalisierung solcherart Weicheiverhalten längst ins gesellschaftliche Abseits geblasen hat. Wer heute was auf sich hält, versucht sich als abgebrühter Zyniker zu profilieren: fährt Jaguar wie Harald Schmidt und watscht wie Henryk M. Broder jene ab, die nicht die großen Zusammenhänge kapieren, sondern die Welt erst mal im Kleinen verbessern wollen. Mir drängt sich da freilich ein Verdacht auf: könnte es vielleicht sein, dass jene politisch Unkorrekten im Gutmenschenbashing nun genau jenen Distinktionsgewinn finden, den ihnen das Weltverbessern nicht mehr bieten kann? Robert Gernhardt ahnte es: die schärfsten Kritiker der Elche waren früher selber welche. (Stuttgarter Zeitung, Wochenendbeilage)

Das Freiburger Barockorchester mit Werken von Beethoven und Pauset

27.
Okt.
2011

Fragmente des klassischen Stils

Zeit ist relativ. Das hat Einstein bewiesen, und das weiß auch der Konzertbesucher, dem eine halbe Stunde Sinfonik sehr lang oder kurz erscheinen kann, je nachdem. Das von Gottfried von der Goltz geleitete Freiburger Barockorchester jedenfalls spielte im Hegelsaal Beethovens achte Sinfonie derartig federnd durchpulst und mitreißend dynamisch, dass man am Ende ungläubig auf die Uhr blickte: was, schon so spät?

Nun bilden Beethovens Sinfonien ja das Fundament der klassisch-romantischen Orchestertradition, und so werden sie oft auch gespielt: großsinfonisch aufgebläht, mit dominanten Streichern und luxuriöser Klangverblendung. Ganz anders das FBO. Streicher und Bläser sind paritätisch gewichtet, und mit den befreiten Nebenstimmen vermittelt sich auch der Gestenreichtum der eher selten zu hörenden Achten, in der Beethoven das Spiel mit Hörerwartungen auf die Spitze getrieben hat. Animierend, mit welcher Musizierlaune und technischer Brillanz Gottfried von der Goltz und seine Freiburger all die metrischen Verschiebungen und rhythmischen Spitzfindigkeiten präsentierten – so muss das klingen!

Begonnen hatte der Abend mit Brice Pausets „Kontra-Konzert“, in dem sich der Komponist auf Beethovens viertes, vom Fortepianospieler Andreas Staier attacca angeschlossenes Klavierkonzert bezieht. Ergänzt durch eine Perkussionsschicht, scheinen in Pausets Werk wie in einer imaginierten Rückblende Fragmente des klassischen Konzertstils auf: angedeutete Streicheraufschwünge, Bläsersätze, dazu virtuose Leerformeln des Solisten. Das alles grundiert von zarter Ironie und in seiner Leichtigkeit nur beeinträchtigt von der Größe des Saals, die dem Registerreichtum des Hammerflügels viel an Wirkung nahm.

Etwas hemdsärmelig danach das Beethovenkonzert Staiers, der seinen Part zwar mit dem gebotenen Artikulationsreichtum, aber technisch nicht immer ganz sattelfest absolvierte. Dass schwere Stellen als solche zu hören sind – vielleicht ist das ja auch ein Aspekt historischer Aufführungspraxis? (Stuttgarter Zeitung)

Ivo Pogorelich spielte mit den Stuttgarter Philharmonikern Chopins 1. Klavierkonzert

18.
Okt.
2011

Feltz in der Brandung

Ivo Pogorelich

Als Ivo Pogorelich Anfang der 80er Jahre die Pianistenbühne betrat, spaltete er die Fachwelt. Den einen galt er als pianistisches Genie,den anderen als manieristischer, auf Effekt schielender Blender. Im Gegensatz zu damals trägt Pogorelich heute sein Haar millimeterkurz: fast asketisch wirkt der 52-Jährige, wenn er im Beethovensaal am Flügel sitzt, freundlich, aber ungemein konzentriert. Schon zum zweiten Mal spielt er mit den Stuttgarter Philharmonikern, die das als Auszeichnung begreifen dürfen: Pogorelichs Vorbehalte gegen den Gastspielbetrieb sind legendär,  und wenn er mit einem Orchester auftritt, dann meist mit renommierten Klangkörpern wie dem Philharmonia Orchestra.  Gabriel Feltz weiß das und bemüht sich um seinen berühmten Gast nach Kräften. Pogorelichs Rubati können ein begleitendes Orchester leicht in die Verzweiflung treiben, und auch in Chopins erstem Klavierkonzert gibt es Stellen, an denen er die musikalische Zeit bis zum Zerreißen dehnt. Doch Feltz hat sein Orchester im Griff. Pogorelich bekommt die Zeit, die er braucht, um vor allem im Larghetto sein nach wie vor bezwingendes Espressivo weit ausschwingen zu lassen. Ansonsten aber überrascht sein betont männlicher Zugriff: als wolle er anspielen gegen jeden Anflug salonesker Parfümiertheit, legt er beunruhigende, verstörende Tiefenschichten in dem Konzert frei. Setzt einzelne Töne wie Nadelstiche, martellato, und steigert sich im dritten Satz in eine vor innerem Feuer und Energie berstende Tour de force. Ganz große Kunst.

Schwer für das Orchester, nach der Pause mit Mendelssohns Ouvertüre zu „Ein Sommernachtstraum“an diese Intensität anzuknüpfen. Aber sogar der heikle Bläserbeginn gelang weitgehend sauber, und im Verlauf arbeitete Feltz das Wunderliche, duftig Atmosphärische dieser Märchenmusik kongenial heraus.

Und sogar die Orchestermassen in Bartóks schreckenssatt-martialischer Konzertsuite „Der wunderbare Mandarin“ hielt der Dirigent auf souveräne Manier zusammen, seinem blendend disponierten Orchester immer die richtigen Impulse gebend: ein echter Feltz in der Brandung. (Stuttgarter Zeitung)

Nils Mönkemeyer und das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR im Meisterkonzert

18.
Okt.
2011

Poet auf der Bratsche

Foto: Felix Bröde

Die Bratsche gilt als das typische Mittelstimmeninstrument. Selten mit solistischen Aufgaben betraut, steht sie weniger im Rampenlicht als ihre kleinen und großen Geschwister Geige und Cello, und ist gleichwohl unverzichtbar: was täten Orchester oder Streichquartett ohne sie? Aber die Bratschenliteratur ist schmal, und so sucht sich, wer sich solistisch profilieren will, in der Regel ein anderes Instrument – weswegen es auch wenig berühmte Bratschisten gibt: Kim Kashkashian, Yuri Bashmet, Tabea Zimmermann sind einem bisher dazu eingefallen. Doch seit einiger Zeit gibt es einen weiteren hochbegabten jungen Musiker, der geeignet ist, das Ansehen des manchmal belächelten Instruments zu heben: Nils Mönkemeyer. Der jungenhaft wirkende 31-Jährige mit den Zauselhaaren hat fast alles an Preisen abgeräumt, was es für einen Bratschisten zu holen gibt und war nun im Meisterkonzert zusammen mit dem Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR unter der Leitung von Serge Baudo zu Gast. Auf dem Notenpult stand eines der wenigen romantischen Werke für Orchester und Solobratsche, Hector Berlioz´“Harold en Italie“: ein viersätziges, quasi-sinfonisches Tongedicht, das der Komponist als Auftragswerk für Niccolò Paganini geschrieben hat, der es allerdings als zu wenig virtuos verschmähte. Genau das Richtige also für einen Poeten wie Mönkemeyer: der versuchte erst gar nicht, geigerische Leichtigkeit auf dem tiefer gestimmten Instrument zu imitieren, sondern setzte auf die Wirkung seines samtig gedeckten, dunkel schimmernden Klangs, mit dem Berlioz seinen durch die Abruzzen wandernden Helden sprechen lässt. Man muss für dieses Werk Dramatiker und Epiker zugleich sein: die großen Bögen spannen und den Erzählton treffen, und das gelang dem blendend disponierten Orchester samt Solisten über weite Strecken vorbildlich. Berührend, mit welch euphorischer Gestimmtheit die Bratsche in den Gesang der vorbeimarschierenden Pilger im zweiten Satz einstimmte, inbrünstig das melodienselig-pastorale Idyll im dritten. Und nur im letzten Satz, beim Gelage der Räuber, vermisste man etwas die Ungestümheit, die das vergebliche Aufbegehren des Helden auch orchestral hätte beglaubigen können.

Strawinskys Ballettmusik „Pétrouchka“ wirkt in seiner an den Film erinnernden Montage- und Überblendtechnik auch heute noch modern. Für diese deskriptive, im Jahrmarktsmilieu spielende Musik mit ihren scharf gezeichneten Charakteren braucht man den Mut zum Drastischen, Hässlichen, grotesk Überzeichneten – und so ließ Baudo hier die Klarinette auch mal holzig klingen, die große Trommel mit Wucht in den Magen fahren. Es war eine kurzweilige, detailgenaue Aufführung, die vor allem von der Qualität des Orchesters, speziell seiner Bläser- und Schlagzeugsolisten lebte, das letzte Quentchen an kollektiver Emphase wie rhythmischer Präzision gleichwohl vermissen ließ. (Stuttgarter Zeitung)

Händels Oper „Alcina“ wieder an der Stuttgarter Staatsoper

06.
Okt.
2011

Foto: A.T. Schaefer

Das nennt man wohl Kult: es soll ja Fans gegeben haben, die jede einzelne Aufführung von Händels „Alcina“ am Stuttgarter Opernhaus – und das waren nicht wenige nach der Premiere im Mai 1998 – besucht haben. Es war die Zeit, als es so richtig losging mit der Inszenierung von Barockopern an deutschen Bühnen, und meist versuchte man der starren Dramaturgie der Barockoper beizukommen, indem man unter Einsatz der Bühnenmaschinerie das Illusionstheater mit modernen Mitteln wiederbelebte. Insofern war die Inszenierung von Jossi Wieler und Sergio Morabito – die hier zum ersten Mal gemeinsam Regie führten – in mancherlei Hinsicht ein Novum: statt Maschinentheater inszenierten sie ein psychologisch bis ins Detail ausgefeiltes Kammerspiel, das Innen- und Außenräume, Sein und Schein auf raffinierte Weise verschränkt. Alcinas Zauberinsel ist hier ein derangierter Salon, und der geniale Einfall der Bühnenbildnerin Anna Viebrock, die Bühne mittels eines riesigen Rahmens in Vorder- und Hinterbühne zu teilen, erlaubt im Verlauf der Handlung die vielfältigsten szenischen Assoziationen: der Rahmen blendet Vergangenheit und Zukunft, Realität und Fiktion ineinander, dient mal als Bühne, mal als Spiegel. Und in einer der ergreifendsten Szenen ist er auch schlicht: ein goldener Rahmen. Das Hochzeitspaar Bradamante und Ruggiero hat sich darin wie für den Fotografen aufgestellt, die Musik spielt dazu, doch die Idylle, das spürt jeder im Publikum, ist erzwungen. Es wird böse enden.

Am schlimmsten ergeht es schließlich Alcina, die von Bradamantes Lehrer Melisso erschossen wird, obwohl sie als einzige so etwas wie einen emotionalen Reifeprozess durchlaufen hat: wie sie sich aus ihrer Demütigung, verlassen worden zu sein, löst, und schließlich sogar ihrem einstigen Geliebten Ruggiero verzeiht, hat Catherine Naglestad auf bezwingende Weise sängerisch und darstellerisch beglaubigen können.

So wie damals Naglestad das Herz dieser Inszenierung war, so ist es nun die Sopranistin Myrtò Papatanasiu. Vielleicht waren ja auch deshalb einige Reihen leer geblieben, weil sich viele nicht vorstellen konnten, dass man für die Naglestad einen adäquaten Ersatz finden konnte: doch die junge, attraktive Griechin hat bei ihrem ersten Auftritt im Stuttgarter Haus das Publikum im Sturm erobert. Stimmlich von erlesener Qualität, mit Farbe, Fülle, Glanz und absoluter Koloraturensicherheit, ist sie wie die Naglestad eine Tragödin, die sich singend verzehren kann und dabei das Herz des Zuschauers rührt: herzzerreißend ihre Klage im dritten Akt „Mi restano le lagrime“. Momente, in denen man am liebsten die Zeit anhalten würde. Doch auch die anderen Sänger des bis auf die Rolle des Melisso (ein Bass wie ein Baum: Michael Ebbecke) völlig neu besetzten Ensembles können mit einzelnen Abstrichen überzeugen. Großartig in ihrer Differenzierungskunst und Phrasierungsgenauigkeit Sophie Marilley als Ruggiero: ihr gelingt es auch, Koloraturen als Ausdrucksmittel und nicht als technische Hürden erscheinen zu lassen. Damit hat die ansonsten sehr souveräne Marina Prudenskaja (Bradamante) noch zu kämpfen, im Gegensatz zu Ana Durlovski (Morgana): das wohl geläufigste Kehlchen im Ensemble singt hinreißend in den Arien – berückend das Duett mit dem Solocellisten Francis Gouton – klingt aber in den Rezitativen gelegentlich eng. Tadellos Diana Haller (Oberto), auch Stanley Jackson (Oronte) wirkt sehr engagiert in seiner Bühnenpräsenz.  Sein feiner Tenor besitzt Farbe und lyrische Geschmeidigkeit, allerdings sind seine Linien nicht immer auf jenem Puls, den Händels Musik vorgibt. Den arbeitet Sébastien Rouland mit dem klein besetzten Staatsorchester freilich auch nicht immer mit der nötigen Prägnanz heraus. Der Franzose hat seine Stärken im Atmosphärischen, Farben und Stimmungen zeichnet er sensibel, aber wenn es um Rhythmus und Phrasierung geht, fehlt allzuoft die Balance – die Ouvertüre kam rhythmisch kaum vom Fleck. Gleichwohl: Kultpotential besitzt diese neue alte „Alcina“ allemal. (Stuttgarter Zeitung)