Dieter Schnebels „Utopien“ zum Auftakt von „Der Sommer in Stuttgart“

05.
Jun.
2014

Menschliche Befindlichkeiten im Schnelldurchlauf

Zu lachen gibt es im Allgemeinen wenig in Konzerten mit zeitgenössischer Musik. Meist dominiert ein heiliger, gern von kryptischen Programmhefttexten unterfütterter Kunst-Ernst, und insofern steht Dieter Schnebels dadaistisch angehauchtes Musiktheaterstück „Utopien“, das nun im Rahmen der Reihe „Sommer in Stuttgart“ im Stuttgarter Theaterhaus aufgeführt wurde, auf sympathische Art außerhalb des aktuellen Avantgarde-Mainstreams. Nun gilt der 84-jährige Schnebel zusammen mit Mauricio Kagel und John Cage als ein Mitbegründer jener Ästhetik, die das theatrale Element der Klangerzeugung ins Zentrum gerückt hat. Auch „Utopien“, vor wenigen Wochen bei der Münchner Biennale uraufgeführt, steht in dieser Tradition. Das Publikum im gut gefüllten T2 sieht zu Beginn nur ein von weißen Tüchern verhängtes Karree, eine Bassklarinette steuert schnarrende Töne bei zum dumpfen Gegrummel der Pauke, eine Sopranistin singt die Worte „Glaube Liebe Hoffnung“: eine Art kleinster gemeinsamer Nenner, auf den sich die im Verlauf des Stückes gelesenen und gesungenen Texte von René Descartes, Thomas Morus, Sebastian Brant und Joseph Conrad bringen lassen, die von Glaubenszweifeln (Descartes) und gesellschaftlichen Utopien (Morus) handeln. Auch bilden diese Texte so etwas wie das hochkulturelle Rückgrat des Stücks, das ansonsten in spielerischer, fast assoziativer Manier immer wieder neue, auf menschliche Grundbefindlichkeiten weisende Szenen und Situationen entwickelt. Den Mitgliedern der Neuen Vocalsolisten werden dabei blitzschnelle Rollen- und Perspektivwechsel zugemutet. Vom aufrührerischen Gegen-die-Wand-laufen bis zum entmutigten Kriechen ist es oft nur ein Wimpernschlag, insgesamt weist das Programmheft an die 40 Situationen aus, die die Sänger bravourös bewältigen. Wenn es dabei gar zu ernst und getragen zu werden droht, wird der hohe Ton auch schon mal durch einen flapsigen Spruch gebrochen – hier zeigt sich Schnebels Nähe zur ideologiekritischen Fluxusbewegung der 60er Jahre. Musikalisch scheint Schnebel in seinem Alterwerk nichts mehr am Hut zu haben mit überkomplexem Klanggetüftel. Längst bestellt ist sein musikalisches Feld, über das er nun fern stilistischer Scheuklappen souverän verfügt. Manche Patterns des fünfköpfigen Instrumentalensembles erinnern an Steve Reich, dazwischen sind auch mal Zitate (Wagner, Mahler, Beethoven) versteckt. Schnebels vokale Mittel schließen die der neuen Musik mit ein, ohne sie in den Vordergrund zu stellen – insgesamt klingt die Musik fast alterweise in ihrer bewussten Reduziertheit. Offen bleibt freilich, was das alles mit Utopien zu tun hat. Der Abend ist unterhaltsam, aber so wie die 75 Minuten im Fluge vergehen, bleibt von dem szenisch-musikalischen Schnelldurchlauf auch wenig hängen. Utopisches Musiktheater – gar selber eine Utopie?

(StZ)

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