Boesmans Oper „Reigen“ hatte am Opernhaus Stuttgart Premiere

25.
Apr.
2016

Auf der Suche nach dem nächsten Kick

In Arthur Schnitzlers „Reigen“ geht es ziemlich durcheinander. Die Dirne treibt es mit dem Grafen, der Soldat mit dem Stubenmädchen, der Dichter mit dem süßen Mädel – quer durch die sozialen Schichten geht das erotische Wechselspiel, wobei der Akt als solcher ausgespart bleibt: Schnitzler beschrieb nur das Davor und Danach, was nach der Uraufführung 1920 des Stücks freilich für einen der größten Theaterskandale der Geschichte reichte. Heute, fast 100 Jahre später, gibt es kaum Tabus mehr, die gebrochen werden könnten. Sex ist nicht nur in der Werbung allgegenwärtig: Pornografie ist durch das Internet ohne Einschränkung verfügbar, mittels Partnerbörsen wie Tinder kann man sich online zum Sex verabreden.

Ein Aufreger ist also der „Reigen“ längst nicht mehr, das gilt auch für die Opernversion des Komponisten Philippe Boesmans und des Librettisten Luc Bondy. Die Oper wurde, anders als die meisten Werken zeitgenössischen Musiktheaters, nach ihrer Uraufführung in Brüssel 1993 diverse Male nachgespielt, was vor allem an Boesmans gefälliger, virtuos gemachter Musik liegen dürfte. Am Stuttgarter Opernhaus hat sie nun Nicola Hümpel neu inszeniert. Die Regisseurin hat sich als Mitgründerin des Berliner Ensembles Nico and the Navigators insofern einen Namen als innovative Theaterfrau gemacht, als sie ihre Inszenierungen meist improvisatorisch und in enger Zusammenarbeit mit den Schauspielern entwickelt. Auch in Stuttgart arbeitete sie dabei mit Oliver Proske zusammen, der für das Bühnenbild eine verblüffend schlüssige Konzeption entworfen hat: in jeder der zehn Szenen durchdringen (man könnte auch sagen: penetrieren) sich Wände und Mobiliar zu neuen Konstellationen – der Reigen-Charakter spiegelt sich auch in der Bühne. Und die zeigt, wie es in den Seelen der Protagonisten aussieht: kalt und leer. Meist begrenzen Fliesen den karg möblierten Raum, darin mal ein Bett, mal ein Stuhl, mal ein Whirlpool aus Beton. Wohlfühlen kann man sich hier schwerlich, aber darum geht es diesen Menschen auch nicht. Egal ob Soldat oder Herr, Hure oder Sängerin: es sind allesamt einsame, depravierte Individuen, die viel reden, aber nicht mehr kommunizieren. Begegnungen vermeiden sie, stattdessen wischen sie auf Ihren Smartphones, auf der Suche nach dem nächsten Date, dem nächsten Kick. Die Fassung können sie nurmehr in der Einsamkeit verlieren: der Dichter (Matthias Klink ) zeigt dies in einer der stärksten Szenen, beim Internetsex mit dem süßen Mädel (Kora Pavelic), wo ihm beim Auskosten der Lust die Gesichtszüge entgleisen. Sonst haben sich alle weitgehend im Griff.

Aber selbst wenn es einige dicht gespielte und auch manche witzige Szenen gibt – neu ist die Grundthese von der Beziehungslosigkeit des modernen Menschen nicht. Das bleibt doch alles nah an der (Benutzer-)Oberfläche: zu einem wunden Punkt, der einen nachhaltig berühren könnte, dringt diese Inszenierung nicht durch, von der Brisanz der schnitzlerschen Vorlage ganz zu schweigen.

So zieht sich der Abend vor allem nach der Pause mitunter zäh dahin, auch wenn die Musik immer wieder für Überraschungen sorgt. Boesmans ist ein Polystilist mit Sinn für Witz, der mit Zitaten und Verweisen jongliert und immer dicht am Text entlangkomponiert. Sylvain Cambreling, der auch schon die Uraufführung geleitet hatte, realisiert das mit dem Staatsorchester vorzüglich, und auch das sehr homogene Sängerensemble wird am Ende zurecht gefeiert. Ein schales Gefühl bleibt gleichwohl zurück: Was hätte wohl ein Regisseur wie Calixto Bieito daraus gemacht? (Südkurier)

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