Bellinis Oper „I Puritani“ am Stuttgarter Opernhaus

10.
Jul.
2016

Die Welt ist aus den Fugen

Viele Opernhandlungen entwickeln ihre Dynamik aus dem immergleichen Dreierkonflikt: Tenor liebt Sopran, Bass (oder Bariton) liebt Sopran aber auch und will die Verbindung der hohen Stimmen verhindern. Am Ende kriegt sich das Paar dann doch.

Das gilt auch für Vicenzo Bellinis Oper „I Puritani“, deren Neuinszenierung durch das Regieduo Jossi Wieler und Sergio Morabito nun am Stuttgarter Opernhaus eine zu Recht umjubelte Premiere gefeiert hat. Nun gehört es freilich zum Selbstverständnis vieler Regisseure, solch billigen Happy End-Klischees zu misstrauen – und auch Bellinis letzte Oper gibt solcher Skepis reichlich Nahrung. Dass Elvira (Sopran), die Tochter des puritanischen Gouverneurs Lord Valton, nach der Flucht ihres Geliebten Arturo (Tenor) und den anschließenden Zudringlichkeiten von Seiten Riccardos (Bariton) zunächst den Verstand verliert und ihn dann pünktlich zu Arturos Rückkehr zurückerlangt, zählt ebenso zu den Kruditäten des Librettos wie der Umstand, dass jener Arturo, ein Parteigänger der verfeindeten katholischen Stuarts, bei seinem ersten Auftritt im Kreise der Puritaner mit Glanz und Gloria empfangen wird. Nein, auf der realistischen Ebene ist dem Stück, das zur Zeit des englischen Bürgerkriegs nach der Ermordung Karls I. und dem Sieg Oliver Cromwells über die Katholiken spielt, schwerlich beizukommen. Deshalb haben Wieler und Morabito für ihre dritte Inszenierung einer Bellini-Oper nach „La Somnambula“ und „Norma“ ihr Analysebesteck ausgepackt und aus „I Puritani“ eine Charakterstudie entwickelt, die den Fokus weg von der Rahmenhandlung darauf lenkt, was die Protagonisten im Innersten bewegt.

Im Zentrum steht dabei Elvira, die von dem Stuttgarter Koloraturenwunder Ana Durlovski überwältigend gesungen und gespielt wird: als eine emotional unreife, in ihren Phantasmagorien gefangene Frau, die Heftchen liest und von jenem Märchenprinzen träumt, der in Arturo dann (Bühnen-)gestalt annimmt – großartig dessen Auftritt in roten Samtpluderhosen, degenschwingend wie ein Musketier in einer Hollywoodverfilmung. Nicht nur hier gelingt der Regie ein bildkräftiger, überraschende Einblicke ermöglichender Perspektivenwechsel, indem Bühnen- und Innenwelt symbolkräftig überblendet werden. Nachhaltig verstörend ist auch der Auftritt von Elviras Onkel Giorgio: eine im Stil des 19. Jahrhunderts gekleidete, aus dem zeitlichen Kontext fallende Figur, die wie ein Varietékünstler eine Handpuppe aus ihrem Requisitenkoffer zieht – ein alter ego Sigmund Freuds?

Ins Unterbewusste zielt jedenfalls vieles in dieser grundklugen Inszenierung: das Puppenhaus, in das sich Elvira im zweiten Akt zurückzieht, nachdem sie von Riccardo betatscht (sollte man sagen: missbraucht?) wurde. Die abgeschlagenen Köpfe der Heiligenfiguren, die sie Arturo nach dessen Rückkehr vor die Füße wirft. Der stolpert wie blind darüber – will oder kann er die Realität nicht sehen? Nicht alles lässt sich da zweifelsfrei deuten, aber dass die Welt gründlich aus den Fugen ist, wird auch in Anna Viebrocks kongenialem Bühnenraum sichtbar, wo sich die Wände im zweiten Akt fast unmerklich zu verschieben beginnen. In den finalen Jubel über die Freilassung der Gefangenen kann das „hohe Paar“ Elvira und Arturo jedenfalls nicht einstimmen: am Ende bleiben sie isoliert, ja: zerstört zurück. Das Happy End fällt aus.

Zum Abschluss der Saison ist der Stuttgarter Oper noch einmal eine überragende Produktion gelungen, die das Niveau der Regie auch musikalisch hält. Bis auf Edgardo Rocha, der die mörderische hoch liegende Partie des Arturo fulminant meistert, sind alle Rollen aus dem Ensemble besetzt. Ana Durlovski (Elvira) festigt ihren Ruf als grandiose Darstellerin neurotischer Frauenfiguren, Diana Haller meistert die Partie der Enrichetta bravourös. Die Männerstimmen, vor allem Adam Palka als bassbeweglicher Giorgio und Gezim Myshketa als ruppig-viriler Riccardo stehen dem nicht nach, und auch der Dirigent Giuliano Carella trifft mit dem prächtig disponierten Staatsorchester den Charakter von Bellinis melodiensatter, immer aufs Gefühl zielenden Musik ideal.  (Südkurier)

Aufführungen am 11., 14.,17.,27. Juli

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