Emil Gilels The Seattle Recital
Russischer Wunderpianist
Am 16. Oktober wäre er 100 Jahre geworden: Emil Gilels, der zusammen mit Sviatoslav Richter als der bedeutendste russische Pianist der Nachkriegszeit gilt. Nach Stalins Tod war Gilels 1955 der erste sowjetische Künstler, der auf eine Amerikatournee geschickt wurde, bis 1983 reiste er insgesamt zwölfmal durch die USA. „Ich habe“, so Gilels, „den USA nicht nur mein Herz, sondern auch einen Großteil meiner Lebenszeit geschenkt“. Nun gab es auch im Westen gute Pianisten, doch Gilels ungeheure technische Souveränität, gepaart mit Kraft und Empfindsamkeit, muss damals überwältigend gewirkt haben. Dass er ein Live-Künstler war, der im Konzert über sich hinauswachsen konnte, lässt sich inzwischen anhand des Mitschnitts eines Recitals nachvollziehen, das Gilels 1964 in Seattle gegeben hat. Er beginnt mit Beethovens Waldsteinsonate, einem seiner Paradestücke, feurig, zupackend aber sehr beherrscht, gefolgt von Chopins Variationen über „Là ci darem la mano“ – reines Virtuosenfutter, das Gilels mit spürbarer Lust am Risiko spielt. Danach ist das Publikum euphorisiert, erst recht nach Prokofjevs fulminant hingelegter 3. Sonate. Gilels, das spürt man, will seinem Ruf als Wunderpianist gerecht werden, gleichwohl kommen uns heute manche Interpretationen vielleicht etwas merkwürdig vor. „Reflets dans l´eau“ aus Debussys „Images I“ erscheint in seiner vordergründig rauschenden Motorik eher auf Bravour denn auf Atmosphäre angelegt. Gilels klangliche Fähigkeiten lassen sich ohnehin besser auf anderen Aufnahmen beurteilen: die Tonqualität dieses (Mono-)Mitschnitts ist insgesamt dürftig.
Emil Gilels. The Seattle Recital. DG 4796288.
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