Philippe Herreweghe und das Orchestre de Champs-Élysées beim Meisterkonzert

13.
Nov.
2016

Ein jubelnder Kuss

Viele kennen Beethovens 6. Sinfonie, die „Pastorale“, aus dem Schulunterricht. „Welche Vogelstimmen imitieren die Holzbläser im 2. Satz?“ (Antwort: Nachtigall, Wachtel, Kuckuck), so etwa lauteten die Fragen in der Klassenarbeit, und tatsächlich eignet sich das Werk besonders gut zur didaktischen Aufbereitung, weil sich hier, ähnlich wie in Smetanas „Moldau“, alles so leicht erklären lässt. Die melodischen Wellenbewegungen stellen den Bach dar, beim Tanz der Landsleute spielen die Bläser mal „falsch“, weil es sich halt um Dilettanten handelt – alles scheint hier eins zu eins aufzugehen, was vor allem den Lehrer freut.

Dass Musik auf Außermusikalisches verweist, ist freilich eher die Ausnahme als die Regel, weshalb man sich, derart konditioniert, mit anderen Sinfonien möglicherweise umso schwerer tut. Auf jeden Fall haben viele im Falle der „Pastorale“ Bilder im Kopf, die dann beim Hören wieder abgerufen werden. Angesichts der Ähnlichkeit vieler Interpretationen fällt das auch nicht schwer. Eine Gelegenheit, an den Sedimenten der eigenen Hörgewohnheiten zu kratzen, bot das Konzert des Orchestre de Champs-Élysées mit seinem Dirigenten Philippe Herreweghe beim Meisterkonzert im Stuttgarter Beethovensaal. Schon im März hatte das Orchester mit den Beethovensinfonien 4 und 5 einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen ( 8 und 9 folgen im Februar 2017), und auch nun trat man den Nachhauseweg mit dem Gefühl an, einen besonderen Konzertabend erlebt zu haben.

Eigentlich ist der Beethovensaal ja zu groß für dieses Orchester, das sich, wie um sich zu wärmen, eng um seinen Dirigenten herum in der Bühnenmitte platziert hat. Doch wenn auch alles leiser tönt als gewohnt – bald reift die Erkenntnis, dass, was vermeintlich an Klangstärke fehlt, durch die Fülle an Schattierungen der historischen Instrumente mehr als ausgeglichen wird. Gerade in der Pastorale taucht man ein in den Reichtum der Partitur, wird plötzlich der feinen Nebenstimmen der Holzbläser gewahr, die sonst meist untergehen im Streicherteppich. Grandios, wie Herreweghe dabei die Musik zum Sprechen springt, zu einer dramatischen Erzählung formt und ihre poetische, visionäre Kraft wieder begreifbar macht – wann hat man die Gewitterszene jemals so eindringlich erlebt?

Jenseits einer bloßen Perfektionsästhetik gibt Herreweghe Beethoven eine menschliche Stimme zurück – und was in der Pastorale der Erzählton ist, ist in der Siebten der hymnische, weltumspannende Jubel, der, getragen vom Rhythmus, auch das Publikum im Saal erfasst und allmählich in eine kollektive Hochstimmung versetzt. Am Ende, so schrieb Richard Wagner über die Siebte, beschlösse „ein jubelnder Kuss die letzte Umarmung“. Schöner kann man es nicht sagen.

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