Beiträge im Archiv Oktober 2017

Kay Johannsens „Credo in Deum“ in der Stiftskirche

29.
Okt.
2017

Auf ausgetretenen Pfaden

 

War es noch zu Brahms´ Zeiten durchaus üblich, dass Musiker nicht nur Virtuosen auf ihrem Instrument waren sondern dazu noch komponierten und dirigierten, so sind derartige Multitalente heute rar geworden. Insofern darf man sich glücklich schätzen, mit Kay Johannsen einen Stiftskantor zu haben, dessen Kompetenzen als Organist und Dirigent unbestritten sind, der darüberhinaus aber auch zunehmend als Komponist in Erscheinung tritt. Bilden kürzere Werke wie Choralbearbeitungen und Psalmvertonungen für Chor und/oder Orgel das Gros seiner Werke, so wurde sein bisher vermutlich ambitioniertes Werk nun im Rahmen der Stunde der Kirchenmusik in der Stiftskirche uraufgeführt: Credo in Deum heißt das einstündige, mit Orchester (Stiftsphilharmonie Stuttgart), Chor (Stuttgarter Kantorei) und vier ausgezeichneten Vokalsolisten umfangreich besetzte Werk, das Johannsen zum 500-jährigen Reformationsjubiläum geschrieben hat. Den lateinischen Credotext hat Johannsen mit ins Englische übersetzten Texten aus Luthers Kleinem Katechismus ergänzt – wobei er wohl gespürt hat, dass die darin formulierte Glaubensgewissheit mit dem Zweifel heutiger Menschen an Gottes allumfassender Fürsorge angesichts der Schrecken der Welt nicht so recht in Einklang zu bringen ist. „…Do I believe?“ oder „…Is this most certainly true?“ lässt er so die Sänger fragen, das lutherische Bekenntnis in Zweifel ziehend. Ob das reicht, um dem Werk zeitgenössische Relevanz zu verleihen ist freilich die Frage, denn musikalisch bewegt sich Johannsen trotz seiner kompositionstechnischen Souveränität in ausgetretenen Pfaden. Manche expressiven Mittel wie Paukengrollen, chromatische Schärfungen der Tonalität oder Beckenschläge an Kulminationspunkten wirken heute verbraucht, manche instrumentatorische Details wie bloße Garnitur.
Dass Johannsen mit kleineren Formen möglicherweise besser zurechtkommt, zeigte sein zu Beginn gespieltes, im Rahmen des Kirchentags 2015 uraufgeführtes „…ihrer ist das Himmelreich“. Mit seinem emphatischen Duktus reißt es den Hörer fast soghaft mit – ein Stück ohne Längen, mit wunderbar ins Gesamtgewebe eingebauten Solostimmen, bei dem sich die Beschränkung auf die reine Tonalität nicht als Manko sondern als Bescheidenheit vermittelt: es möchte nicht mehr sein, als es ist.

Die SWR1 Hitparade. Oldies in der Endlosschleife

23.
Okt.
2017

Montag morgen um fünf Uhr war der Startschuss mit Platz 1070: Mike Oldfields „Shadow on the Wall“, und von nun an geht es nonstop durch bis zum kommenden Freitag, wenn bei der Finalparty der SWR1 Hitparade in der ausverkauften Schleyerhalle gegen 21.50 Uhr der Siegertitel bekanntgegeben wird. Das wird, wie immer, „Stairway to heaven“ von Led Zeppelin sein, gefolgt von Queens „Bohemian Rhapsody“ und „Child in time“ von Deep Purple. Alles andere wäre eine kleine Sensation. Nur einmal, 2013, landete Queen auf dem ersten Platz, knapp vor Led Zeppelin – was die Fans der bereits 1980 aufgelösten Band in den folgenden Jahren verstärkt zur Abstimmung angestachelt haben dürfte. Seitdem ist die alte Ordnung wieder hergestellt.
Der Ausgang der SWR1 Hitparade ist, zumindest was die Siegertitel anbelangt, ungefähr so spannend wie Tischtennisweltmeisterschaften mit chinesischer Beteiligung. Auch wenn saisonbedingt mal der ein oder aktuelle Hit wie Helene Fischers „Atemlos“ (in diesem Jahr vermutlich Luis Fonsis Sommerhit „Despacito“) in die oberen Ränge gespült wird: das Gros der Titel besteht aus jenem Basisrepertoire von Oldies, das von SWR1 tagein, tagaus in einer Art Endlosschleife durchgenudelt wird, von ABBA bis Billy Joel, von Phil Collins bis zu den Eagles. Der Hörerbegeisterung tut dies keinerlei Abbruch, im Gegenteil: In der Berechenbarkeit besteht die Attraktivität nicht nur der Hitparade, sondern des Senders SWR1 insgesamt. Das Publikum, so SWR1-Redakteur Maik Schieber, der auch öffentliche Veranstaltungen moderiert, reagiere regelrecht verwundert, wenn man einen Titel spiele, der kein bekannter Hit sei. Zwar werden seit Anfang Juli, wo das Programm für Baden-Württemberg nicht mehr aus Baden-Baden, sondern aus Stuttgart kommt, nach 20 Uhr auch vermehrt Stücke jenseits des Mainstreams gespielt. Dennoch bildet die Musik der 70er und 80er Jahre den Markenkern von SWR1, dessen avisierte Zielgruppe in dieser Zeit musikalisch sozialisiert worden ist. Es war die Zeit der alten Bundesrepublik, in der Popmusik für Heranwachsende eine viel größere Bedeutung hatte als heute. Eltern waren in der Regel spießig und nicht cool. Lange Haare galten ebenso als Zeichen der Rebellion wie Rockmusik, und wo sich heute Jugendliche in ihrer Freizeit mit Snapchat und Youtube die Zeit am Smartphone vertreiben, ging man damals ins Jugendhaus, wo man Selbstgedrehte rauchte. Es war die Generation der Babyboomer, die anders sein wollten als ihre Eltern, und Rock lieferte ihr dafür das Rollenmodell, wobei das Spektrum der musikalischen Stile zwischen John Denver und AC/DC für jeden Charakter etwas Passendes bereithielt.
Dass der Revoluzzergestus des Rock im Modus der SWR1 Dauerberieselung zur Pose verkümmert ist, dass, was einst gefährlich war, heute gemütlich ist, hat mit dem gesellschaftlichen Wandel zu tun. Wer in den 70ern und 80ern jung war, hatte praktisch eine Gewähr auf einen festen Job. Die Welt war überschaubar, der Eiserne Vorhang noch geschlossen, China war keine ökonomische Weltmacht und der Anpassungsdruck für den Einzelnen so schwach, dass man sich ein bisschen Rebellion gut leisten konnte. Wenn es schief ging, trampte man halt nach Berlin und lebte dort billig in einer WG.
Globalisierung und Digitalisierung haben damit gründlich aufgeräumt. Das Leben ist heute weniger berechenbar geworden. Wer nicht aufpasst, landet nach 18 Monaten Arbeitslosigkeit in Hartz 4 und läuft Gefahr, unter die Räder zu kommen.
So sind Oldieparties wie die am Samstag in der Schleyerhalle auch eine Art Retroveranstaltung für die Generation 50plus, die dabei nostalgisch auf jene guten alten Zeiten zurückblickt, in denen ein Gitarrensolo noch eine unverhohlene Darstellung sexueller Potenz sein durfte und das Verwüsten von Hotelzimmern zu den Grundkompetenzen von Rockmusikern zählte. Auch wenn man selber wenig später den ersten Bausparvertrag abgeschlossen hatte und heute das Reihenhaus abbezahlt ist. Man hat da, im Rückblick gesehen, vielleicht doch ziemlich Glück gehabt.

Jérémie Rhorer und „Le cercle de l´harmonie“ mit Mozarts Don Giovanni

15.
Okt.
2017

Ungemütlich

 

Zusammen mit Teodor Currentzis zählt der Franzose Jérémie Rhorer derzeit zu den angesagtesten Mozartdirigenten. Beide sind gleich alt, und beide eint ein historisch informierter Ansatz, der auf Dramatik und klangfarbliche Kontraste setzt und jeden Anflug von Gemütlichkeit zu vermeiden trachtet. Wie Currentzis mit seiner „MusicAeterna“ verfügt auch Rohrer über ein eigenes Ensemble, das sich „Le cercle de l´harmonie“ nennt und exquisit besetzt ist – was auch nötig ist, denn Rohrer legt es in seiner Einspielung des „Don Giovanni“ mit forschen Tempi und blitzsauberer Artikulation merklich darauf an, verbliebenen Staub aus der Partitur zu fegen – wenngleich er dabei nicht ganz so radikal vorgeht wie Currentzis, der Sänger wie Musiker gern mal an ihre Grenzen (und darüber hinaus) treibt.
Keine Überraschung, dass diese Aufnahme ihre Stärken in der dramatischen Zuspitzung hat. Gleich in der Ouvertüre wird der Ton vorgegeben, vermittelt sich mittels kompakter Klanglichkeit und trocken dreinfahrenden Schlägen die Dringlichkeit dieser düstersten aller Mozartopern. Vom Pulsschlag des unter Hochspannung musizierenden Orchesters wird so die Handlung über drei Stunden weiter vorangetrieben, bis zum grandiosen, rückenschauererregenden Finale mit Don Giovannis Höllenfahrt. Das ist in jedem Moment spannend und schlüssig musiziert und dürfte vielen gefallen, selbst wenn die Sängerbesetzung nicht durchweg dem orchestralen Niveau entspricht: vor allem Julie Boulianne (Donna Elvira) passt mit ihrem vibratosatten Sopran nicht so recht zu den anderen wendig-schlanken Stimmen. Aufgenommen wurden die CDs live bei Aufführungen im Pariser Théatre des Champs-Èlysées, einschließlich dem Applaus am Ende der Akte und einzelner Arien – was für den einen Hörer vielleicht das Gefühl verstärkt, live dabeizusein, andere aber ebenso irritieren könnte wie der hörbare Umstand, dass sich die Sänger im Raum umher bewegen.

 

Mozart: Don Giovanni. Le cercle de l´harmonie, Ltg. Jérémie Rhorer. Alpha 379. 3 CDs.

Das Budapest Festival Orchestra mit Emanuel Ax in Stuttgart

15.
Okt.
2017

Gefährliche Podeste

Hat man lange nicht gesehen, dass ein Musiker von der Bühne purzelt (wann passierte das überhaupt schon mal?), aber zum Glück, so beruhigte der Dirigent Iván Fischer am Ende des Konzerts das Publikum, sei dem Geiger nichts passiert. Wohl aus klanglichen Gründen hatte man die hinteren beiden Stuhlreihen der Geiger auf Podeste gestellt, und als der Unglücksrabe, auf diese Weise erhöht, nach dem ersten Satz von Dvoráks achter Sinfonie seinen Stuhl leicht verschob, war´s auch schon passiert: vermutlich rutschte ein Stuhlbein über die Kante und der Musiker flugs hinterher in Richtung Parkett. Die Sanitäter waren zum Glück rasch zur Stelle. Wem freilich der Applaus galt, als die Liege nach draußen gefahren wurde, bleibt ein Rätsel.
Das war aber beileibe nicht das einzige Ungewöhnlich beim ersten Konzert der Meisterkonzertreihe im Beethovensaal. Denn es kommt auch nicht alle Tage vor, dass ein klassisches Sinfonierorchester auf historischen Instrumenten spielt – wie das Budapest Festival Orchestra, das zu Beginn des Abends Bachs dritte Orchestersuite gemäß allen Regeln historischer Aufführungspraxis musizierte: im Stehen, dazu mit gehöriger Verve und kleinteilig rhetorischer Phrasierung und geleitet von einem Dirigenten, der nebenbei die Truhenorgel bediente. Mag sein, dass ein ausgewiesenes Barockorchester klanglich ausgefeilter spielt – aber für Nicht-Spezialisten war das aller Ehren wert, zumal man bachsche Orchesterwerke in Sinfoniekonzerten sonst kaum zu hören bekommt.
Anders als Mozarts Klavierkonzerte. Emanuel Ax war der Solist beim Konzert d-Moll KV 466, ob seines ungewöhnlich dramatischen Ausdrucksspektrums eines der berühmtesten Klavierkonzerte Mozarts. Dazu war das Orchester in beträchtlicher Besetzungsstärke angetreten, was dem Solisten einiges an Durchsetzungsfähigkeit abverlangte. Freilich ist Emanuel Ax ein so routinierter wie stilsicherer Mozartspieler, der es weder an virtuosem Impetus noch an Phrasierungseleganz gebricht, so war der Applaus am Ende herzlich. Ax bedankte sich mit „Des Abends“ aus Schumanns Fantasiestücken op. 12.
Zweifel, ob das Budapest Festival Orchestra wirklich das Spitzenorchester ist, als das es angekündigt wurde, lösten sich nach der Pause bei Dvoráks achter Sinfonie in Wohlgefallen auf. Packender musiziert und detailgenauer durchgearbeitet kann man sich diese Musik kaum vorstellen, zumal Iván Fischer es gerade im viertem Satz, wo die böhmischen Dorffeste aus Dvoráks Jugend ihre deutlichen Spuren hinterlassen haben, an musikantischem Schwung nicht fehlen ließ. Bei der Zugabe schlich sich dann wiederum Emanuel Ax auf die Bühne und zeigte zu den Klängen der Strauss´schen Pizzicato-Polka sein humoristisches Talent als dilettierender Mini-Beckenspieler. Wahrlich kein gewöhnliches Sinfoniekonzert. (STZN)

 

Die Verleihung der Hugo-Wolf-Medaille an das Liedduo Hampson/Rieger

01.
Okt.
2017

Seismograf der Seele

Es sei schade, meinten einige, dass Thomas Hampson nicht selber bei der Verleihung der Hugo-Wolf-Medaille singe. Aber man kann Hampson verstehen. Nicht nur gilt der Amerikaner als sensibel, ganz grundsätzlich erscheint die körperliche wie mentale Vorbereitung auf ein Liedkonzert schwer vereinbar mit dem Stress einer Preisverleihung und den damit verbundenen Pflichtübungen, sofern man den Liedgesang nicht bloß als Routineübung begreift. Und genau das widerspräche Hampsons Anliegen zutiefst, der sich seit den 80er Jahren neben seiner internationalen Karriere als Opernsänger intensiv dem Kunstlied widmet – wobei er von der landläufigen Trennung von Opern- und Liedsängern nicht viel hält. Schließlich, so sagte er in einem Interview, gehe es immer um Gesang: in der Oper sei er Teil einer großen Geschichte sei, beim Lied dafür Regisseur, Bühnenbildner und Sänger in einem. Hampson nimmt das Kunstlied ernst, und auch dafür wurde der 62-jährige Bariton nun ausgezeichnet, zusammen mit dem Pianisten Wolfram Rieger, der ihn seit 25 Jahren begleitet. Hansjörg Bäzner, der Vorstandsvorsitzende der Internationalen Hugo-Wolf-Akademie, bezeichnete in seiner Rede beide als „außergewöhnliche Liedpartnerschaft“: zum ersten Mal in der Geschichte dieses zum siebten Mal verliehenen Preises habe man ein Liedduo ausgezeichnet.
Dass die althergebrachte Hierarchie zwischen Vokalsolisten und dienendem Begleiter überholt sei, betonte auch die Musikjournalistin Eleonore Büning in ihrer kurzweiligen Laudatio. Büning begann mit der so gewagten wie interessanten These, dass Musikpreise eigentlich immer zum falschen Zeitpunkt kämen. Vorschusslorbeeren für Kinder bedeuteten für diese eine schwere Hypothek, und Auszeichnungen für das Lebenswerk von Künstlern seien überflüssig, hätten die bis dahin den Hauptgewinn doch längst gezogen: das Publikum. Es folgten eine Würdigung der Verdienste beider Preisträger, und dann, ausgehend von Schumanns Diktum, Töne seinen „höhere Worte“, einige kluge Reflexionen über das Verhältnis von Sprache und Musik. Die mündeten in in das Bekenntnis, dass ein historisches Kunstwerk letztlich in einer fremden Sprache zu uns spräche, für die man Übersetzer brauche, womit Büning wieder beim Duo Hampson/Rieger war, für die der Preis genau zum richtigen Zeitpunkt käme – eine Vorlage, die Hampson launig aufnahm und seinen Kompagnon Rieger als „immer noch sehr vielversprechenden jungen Mann“ bezeichnete. Dazu betonte er die Verantwortung, die er als Mentor für junge Sänger habe, wobei er sich weniger um den künstlerischen Nachwuchs Sorgen mache als um Nachwuchs, was das Publikum anbetrifft.
In der Tat scheint es, dass das Interesse an der „fremden Sprache“ des deutschen Kunstlieds am Schwinden ist – doch was der Gesellschaft dabei verloren zu gehen droht, das zeigte die eben mit dem Titel „Sängerin des Jahres“ ausgezeichnete Anja Harteros zusammen mit Wolfram Rieger anhand einer Auswahl von Liedern Schuberts, Schumanns, Wolfs und Strauss´ auf eindringlichste Weise. Bei ihr kommt alles zusammen, was eine große Liedinterpretin auszeichnet. Scheinbar unerschöpflich in ihren vokalen Möglichkeiten, erscheint ihre Stimme wie ein Seismograf der Seele. Aus einem tiefen Verständnis heraus setzte Harteros, getragen von Riegers emphatischem Spiel, den poetischen Kern der Gedicht in Klang: berührend in Schuberts Ode „An die Laute“, mitreißend in Wolfs Vertonung von Mörikes „Er ist´s“ und nachhaltig erschütternd in Richard Strauss´ „Allerseelen“, einer Allegorie der Vergänglichkeit. Ovationen und zwei Zugaben: Richard Strauss „Zueignung“ und „Morgen!“.