„Ins Ungewisse“

11.
Jul.
2018

Welch tolles Stück, denkt man beim Hören von Salvatore Sciarrinos “Andante” aus den “Sei Capricci” für Violine solo, das Carolin Widmann im Ludwigsburger Ordenssaal spielt. Auf sinnliche Weise werden darin die Übergänge zwischen Geräusch und Geigenklang ausgelotet, eine auratische, fast meditative Musik. Carolin Widmann spielt sie am Ende der ersten Hälfte ihres Konzerts mit dem Auryn Quartett und Alexander Lonquich im Rahmen der Ludwigsburger Schlossfestspiele – allerdings steht es nicht auf dem Programm. Denn der Intendant Thomas Wördehoff hat in dieser Saison ein Experiment gewagt. Bei acht ausgewählten Konzerten spielen die Musiker zusätzlich zum annoncierten Programm ein oder mehrere zeitgenössische Stücke, die im Programmheft mit “Ins Ungewisse” bezeichnet sind. Wördehoff möchte damit eine festgefahrene Situation aufbrechen. Er habe festgestellt, dass der Umgang mit zeitgenössischer Musik seitens der Zuhörer „nicht locker“ sei. „Bei Stücken oder Komponisten, die sie nicht kennen, werden viele unsicher. Und die häufigste Aussage ist: Ich versteh’ davon nichts.“ Es sei doch seltsam, dass viele meinten, ein sinnliches Medium wie die Musik nur über Kompetenz erfahren zu können und nicht über die eigene Wahrnehmung. Da wolle er ansetzen – am eigenen Hörempfinden.
Dafür hat Wördehoff für jedes dieser Konzerte einen sogenannten Hörpaten eingeladen, mit dem er nach dem Stück über dessen Eindrücke spricht. Keine Spezialisten, sondern Menschen, die sich für Musik interessieren – wobei etwas Prominenz gerade in Ludwigsburg nicht schaden kann, und so waren bisher unter anderem der Koch Vincent Klink, die Leiterin des Marburger Literaturarchivs Sandra Richter und der Dichter Wolf Wondratschek unter den Hörpaten. Deren Kommentare waren denn auch höchst individuell und offenbarten mindestens so viel über die Persönlichkeit der Hörpaten wie über die gehörten Werke. Einige Aussagen provozierten auch Gegenreaktionen von seiten des Publikums, und dabei zeigte sich ein Widerspruch, der als charakteristisch für die Situation zeitgenössischer E-Musik ist. Ein Konzertbesucher, der sich Wördehoff gegenüber begeistert über das Geigenstück Sciarrinos geäußert hatte, wurde von ihm gefragt, ob er auch ins Konzert gekommen wäre, wenn Werke von Sciarrino auf dem Programm gestanden hätten. Seine Antwort: Wahrscheinlich nicht.
Das ist paradox. Es gibt heutzutage offenbar neue Musik, die gefällt. Doch das Publikum bekommt sie nicht zu hören, denn wenn unbekannte Werke auf dem Programm steht, geht es gar nicht erst hin – und das ist nicht nur in Ludwigsburg so. Man könnte diese Situation als Ergebnis einer fortschreitenden Entfremdung zwischen Komponisten und Publikum beschreiben, die dazu geführt hat, dass – eine einmalige Situation in der Musikgeschichte – Programme klassischer Musik fast ausschließlich aus historischen Werken bestehen. Eingesetzt hat diese Entwicklung schon im 19. Jahrhundert mit der Erweiterung und Auflösung der Tonalität, der viele Hörer nicht folgen konnten oder wollten. Fortgesetzt wurde sie nach dem 2. Weltkrieg, als nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes der jungen Komponistengeneration erst einmal alles suspekt war, was mit bürgerlicher Musikkultur zu tun hatte. Luigi Nonos Verdikt, Melodie sei „eine bourgeoise Angelegenheit“ teilten damals viele, und so entwickelte sich im Kreis von Komponisten wie Pierre Boulez und Karlheinz Stockhausen eine hochkomplexe Tonkunst, in der Kategorien wie Melodie, Harmonie und (nachvollziehbarer) Rhythmus kaum noch eine Rolle spielten. Ausdruck war verdächtig, und Komponisten wie Hans Werner Henze, für die Kategorien wie Sinnlichkeit und Schönheit wichtig waren, mussten schon mal verbale Prügel seitens ihrer Kollegen einstecken.
Das Publikum spielte bei alldem eine eher untergeordnete Rolle. Viele Komponisten teilten damals die Auffassung, dass das bürgerliche Konzertpublikum ohnehin der falsche Adressat für ihre Werke sei und zogen sich auf Spezialveranstaltungen wie die Darmstädter Ferienkurse oder die Donaueschinger Musiktage zurück, wo man ungestört seine ästhetischen Diskussionen pflegen konnte. Eine Ghettoisierung, die bis heute nicht überwunden ist, obwohl sich die zeitgenössische Musik mittlerweile stilistisch in viele Richtungen geöffnet hat. Musik darf durchaus wieder sinnlich sein, und auch Tonalität ist nicht mehr verpönt. Doch das Trauma sitzt tief.
Interessant ist dabei, dass, so Wördehoff, alle von ihm direkt angesprochenen Musiker begeistert auf seine Initiative reagiert hätten. Alle hätten Werke in petto gehabt, erzählt er. „Als lauerte da ein Überdruck von Stücken, die herauswollten“. Vorbehalte spürte er nur bei Agenturen, von denen einige, so vermutet er, seine Anfrage gar nicht erst an die Musiker weitergeleitet hätten. „Manche Agenten haben Angst vor ihren Künstlern.“ Wördehoff jedenfalls will sein Konzept auch im nächsten Jahr bei den Schlossfestspielen weiterführen. Ob es wieder „Ins Ungewisse“ heißen wird, ist ungewiss. Ob es langfristig dazu beitragen kann, die Vorbehalte gegenüber neuer Musik abzubauen, auch. Doch den Versuch ist es wert.

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