Beiträge der Kategorie ‘Kulturkritik’

Beatrice Rana spielt Beethoven und Chopin

13.
Mrz.
2024

Man kann es für verwegen halten, für die erste Einspielung einer Beethovensonate die „Hammerklaviersonate“ op. 106 zu wählen, eines der schwersten Klavierwerke überhaupt. Und ist dann beim Hören verblüfft, mit welch unglaublicher technischer Souveränität Beatrice Rana dieses Monsterwerk nicht nur bewältigt, sondern in einer Differenziertheit gestaltet, die fast sprachlos macht. Rana arbeitet die Extreme dieses Werks mit größter Sensibilität und Tiefe heraus. Das Adagio sostenuto spielt sie als erschütternde, metaphysische Klage, der in der fulminant hingelegten Schlussfuge ein fast trotzig zupackender Lebenswille entgegengesetzt wird.

Mit derselben existenziellen Dringlichkeit interpretiert Rana Chopins Sonate b-Moll: fast überirdisch das Espressivo im Mittelteil des berühmten Trauermarsches, das Prestofinale spielt sie als irrlichternden Fiebertraum. Eine sensationelle Einspielung.

Beatrice Rana. Chopin. Beethoven. Sonatas „Funeral March“. „Hammerklavier. Warner 5054197897658.

Wer bezahlt für unseren Luxus?

30.
Okt.
2023

Richard Strauss´ „Die Frau ohne Schatten“ an der Staatsoper Stuttgart

Wann ist eine Frau eine Frau? Wenn sie Kinder gebären kann? Selbst wenn diese Ansicht innerhalb der aktuellen Geschlechterdiskussion als hoffnungslos anachronistisch gelten dürfte, erscheint sie in Richard Strauss´ Oper „Die Frau ohne Schatten“, die nun an der Staatsoper Stuttgart neu inszeniert worden ist, sogar metaphorisch überhöht. Hier steht für die weibliche Fruchtbarkeit das Symbol des Schattens: die titelgebende Kaiserin, als Tochter des Geisterfürsten Keikobad eine Art Mischwesen, muss diesen Schatten innerhalb von drei Tagen erlangen. Ansonsten wird ihr Gatte, der Kaiser, versteinern.
Strauss und sein Librettist Hugo von Hofmannsthal haben für diese romantische, während des Ersten Weltkriegs entstandene Oper verschiedenste Sphären kombiniert. Man findet, garniert mit diversen Orientalismen, Elemente aus Drama, Märchen und Volkstheater. Dazu bezieht sich Strauss auf Mozarts „Zauberflöte“, was sich auch in der Trennung der Protagonisten in ein hohes und ein niederes Paar zeigt: neben Kaiserin und Kaiser sind das die Färberin und deren Mann Barak.
Der Regisseur David Hermann nun zeigt in seiner Inszenierung die Lebenswelten beider Paare gleichsam als Vorder- und Rückseite unserer modernen Zivilisation. Jo Schramm hat ihm dafür in Stuttgart eine Bühnenkonstruktion gebaut, wie man sie in solch visionärer Wucht lange nicht gesehen hat. Oben, quasi in der Beletage, residiert das Kaiserpaar in einem Ambiente, das an Architektenhäuser oder Museumsfoyers erinnert. Kein Krümel trübt das Bild der edel gestylten, grauen Steinelemente, dezent schimmert die indirekte Beleuchtung. Doch wer bezahlt dafür den Preis? Das erfährt man, wenn in einem fulminanten Szenenwechsel diese Ebene während des ersten Akts nach oben fährt und den Blick auf die Unterwelt freigibt, wo in einer Art Betonbunker das Prekariat ums Überleben kämpft. Die Außenwelt, so scheint es, ist bereits weitgehend zerstört und kontaminiert, sodass die Menschen nur in Schutzkleidung und mit Gasmasken nach draußen können. In dieser Tristesse leben auch der Färber und seine Frau, die von der Amme, einer Bediensteten der Kaiserin, das verlockende Angebot bekommt, gegen Abtretung der Fruchtbarkeit ihr Elend gegen Luxus und Liebesglück zu tauschen.
Doch das Ganze erfährt eine weitere, noch beeindruckendere Volte im dritten Akt. Dann öffnet sich, wie ein zusammengestecktes Schokoladenei, plötzlich der Bunker in zwei Teile und gibt den Blick nach draußen frei in ein totales Schwarz – das man nicht zuletzt deshalb mit Weltraum assoziert, weil hernach ein vielfarbig schillerndes Gestirn herunterfährt – wie eine Mischung aus göttlicher Emanation, magischem Auge und Geist, das der Szene eine verstörende Eindringlichkeit verleiht.
Nicht alles lässt sich eindeutig interpretieren und erklären in dieser insgesamt spektakulären Inszenierung, was man durchaus als Qualität begreifen kann. Dazu zählt auch der in der Mitte des Bunkers sich windende Riesenwurm. Der verschwindet, taucht dann aber am Ende der Oper – wie, das soll hier zugunsten jener, die die Oper besuchen möchten, nicht verraten werden – auf sehr überraschende Weise wieder auf.
Die Wirkung dieser Produktion ist aber auch deshalb so nachhaltig, als die musikalische Umsetzung schlichtweg grandios zu nennen ist. Das beginnt bei den fabelhaften Sängern: dass das Stück so selten gespielt wird, liegt nicht zuletzt daran, dass man für die Hauptrollen mindestens fünf Wagner- und Strauss-gestählte Spitzenkräfte mit belastbaren Stimmbändern benötigt. Und die hat man in Stuttgart. Zwar ist nur die überragende Simone Schneider als Kaiserin aus dem hauseigenen Ensemble, aber mit Benjamin Bruns (Kaiser), Evelyn Herlitzius (Amme), Martin Gantner (Barak) und Iréne Theorin (Färberin) wurde eine Riege an Sängern verpflichtet, die auch höchsten Ansprüchen gerecht wird.
Der Stuttgarter Cornelius Meister schließlich evoziert mit dem Staatsorchester einen Klangrausch, wie man in in solcher Vielfalt kaum je gehört hat. Es ist ein Riesenorchester, das Strauss hier verlangt, angereichert mit exotischem Instrumentarium wie Glasharmonika und chinesischen Gongs, dazu kommt der verdeckt agierende Opern- und Kinderchor, und Meister koordiniert diese Massen auf imponierend souveräne Manier. Mitreißend die fast cineastische Wucht der Klangeruptionen, berührend aber auch das subtile Ausleuchten von Details, die fein gesponnenen kammermusikalischen Passagen samt der berührend intensiven Streichersoli. Am Ende tosender Jubel, nur vereinzelte Buhs für die Regie. (Südkurier)

Die Stuttgarter Oper hat die neue Spielzeit mit Schorsch Kameruns „Come together“ eröffnet

19.
Sep.
2022

Es kommt ja eher selten vor, dass Ex-Punker sich im bürgerlichen Kulturbetrieb etablieren können. Schorsch Kamerun, einst Frontmann der Punkband „Die goldenen Zitronen“, ist das trefflich gelungen. Landauf, landab wird er von Theatern als Regisseur verpflichtet, dazu kommen Programme wie die Musiktheaterperformance „All together now!“, die im Juli diesen Jahres am Münchner Residenztheater über die Bühne ging. An der Stuttgarter Staatsoper hat Kamerun zwei Projekte gestaltet, zuletzt im Juli 2021 einen „Nocturne“ betitelten Abend, der gleichzeitig den Abschluss der Spielzeit markierte. Die Eröffnung der neuen Spielzeit hat die Oper nun Kamerun mit einer Produktion anvertraut, die sich – der einem Beatlessong entlehnte Titel „Come together“ weist darauf hin – thematisch an die aus München anlehnt.
Versteht man dieses Motto als Imperativ, so sind ihm am Sonntagabend viele gefolgt. Dass dennoch einige Plätze, ziemlich viele sogar, leer geblieben sind, könnte an der Postcorona-Lethargie liegen. Vielleicht aber auch daran, dass sich Kameruns Modell mittlerweile etwas erschöpft hat. Denn sein dramaturgisches Rezept erscheint einigermaßen simpel: Zunächst überlege man sich einen Titel, der das Ganze dramaturgisch kittet. „Come together“ kann dabei als der kleinste gemeinsame Nenner des Kulturbetriebs gelten, gibt es ohne das Zusammenkommen von Menschen doch keine Veranstaltung. Da auch die örtlichen Kräfte, in diesem Fall die der Staatsoper, einzubinden sind, nehme man einige thematisch passende Opernarien, garniere sie mit Orchestralem und konfrontiere das alles möglichst hart mit Musik aus anderen Genres. Vorzugsweise Rap. Dazu kommt Selbstgesungenes mit der eigenen Band, was den Vorteil hat, dass man auch gleich die neue CD promoten kann. Jetzt fehlt, eine visuelle Ebene ist heute Standard, nur noch ein Videokonzept, in diesem Fall eine Übertragung aus einem verglasten Bühnenkubus, in dem eine Schauspielerin (Annemaaike Bakker) Blüten seziert und Kameruns Texte rezitiert. Fertig ist der Abend.
Musikalisch beginnt der großartig. Schwer atmet und seufzt das Akkordeon (Anne-Maria Hölscher) auf der ins Halbdunkel getauchten Bühne, ehe die Altistin Stine Marie Fischer mit den ersten Worten von Johann Christoph Bachs berühmtem „Lamento“ einsetzt: „Ach, dass ich Wasser gnug hätte in meinem Haupte, und meine Augen Tränenquellen wären…“ Dann tritt das Orchester hinzu und es entsteht, was große Kunst vermag: Verzauberung, Aura, emotionale Berührung.
Im Verlauf des Abends gibt es noch mehrere solch intensiver Momente. Rückenschauererregend die Arie der Sapho aus Charles Gounods gleichnamiger Oper „O ma lyre immortelle“, die Diana Hallers sengender Mezzo regelrecht ins Herz brennt, genauso eindringlich wie Gustav Mahlers Orchesterlied „Ich bin der Welt abhanden gekommen“. „Musik aus Österreich, wunderbar“ kommentierte das der in einem kaftanartigen Gewand und mit Badelatschen an den Füßen von seinem Tischchen am vorderen Bühnenrand aus moderierende Schorsch Kamerun – selbst wenn das Österreichische nun vielleicht doch das am wenigsten Bemerkenswerte an Mahlers Musik ist.
Für Kamerun freilich, das vermittelt er mit Produktionen wie dieser, ist ohnehin alles irgendwie gleich. Ob das nun die schlichten Verse der Rapperin Ebow sind, Charles Ives´ Orchesterstück „The Unanswered Question“ oder sein eigener fistelnder Sprechgesang – alles ist halt Musik. Es gibt keine Hierarchie, und so darf alles mit allem kombiniert werden.
Für einige Zeitgenossen mag diese Freiheit im Umgang mit Genres verlockend klingen, zumal wenn sie, wie im Fall des domestizierten Punkers Kamerun, obendrein mit gesellschaftlich angesagten Attributen wie Diversität und Nachhaltigkeit einhergeht – auch wenn musikalisch sensible Naturen einwenden könnten, dass es vielleicht doch nicht ganz egal ist, ob ein Vokalsolo Sofia Gubaidulinas nach einem Rap gesungen wird oder nicht.
Aber vielleicht geht es ja an diesem Abend auch mehr darum, einfach mal etwas Spaß haben zu dürfen im Opernhaus. Aus voller Kehle mitzusingen beim „Konzert für Publikum und Orchester“ von Nicola Campogrande, sich zu amüsieren über das Duo aus Schwirrholz und Gänsegeierflöte und mal wieder kollektiv optimistisch in die von Krisen bedrohte Zukunft zu blicken. „Crisis, what Crisis?“ fragt Schorsch Kamerun am Ende ins merklich euphorisierte Publikum. Und lobt sich selber: „Wow, das uns das gelungen ist!“Na dann. (STZN)

Wagners „Rheingold“ an der Staatsoper Stuttgart

24.
Nov.
2021

Nie war Richard Wagners „Der Ring des Nibelungen“ so aktuell wie heute. Die Ursünde des Menschen in dem vierteiligen Bühnenfestspiel ist der Raub des Rheingolds durch Alberich, ein Vergehen an der Natur, das einen Kampf um Macht und Geld initiiert, dessen Ausgang bekannt ist: am Ende steht der Untergang der bestehenden Ordnung. Glaubt man Klimaforschern, so befinden wir uns heute ebenfalls in einer Art Götterdämmerung. Die der Erde entrissenen und in den Produktionskreislauf eingebrachten Wertstoffe haben zu einer Erhitzung des Planeten geführt, die, falls sie nicht gestoppt wird, das Ende der Zivilisation in einigen Teilen der Welt zumindest denkbar erscheinen lässt.
Auch in dem von Stephan Kimmig inszenierten „Rheingold“, dem ersten Teil einer Gesamtaufführung der Ring-Tetralogie an der Staatsoper Stuttgart, hat die herrschende Klasse sichtlich abgewirtschaftet. Kimmig verzichtet auf den ganzen germanischen Nibelungenkitsch und holt die Götter in die Niederungen der kapitalistischen Ausbeutungsgesellschaft herab. Das Bühnenbild zeigt ein heruntergekommenes Jahrmarktsambiente, Reste einer Manege, ausgestattet mit allerlei Versatzstücken der Zirkuswelt. Darin necken die drei Rheintöchter den Zwerg Alberich. Die drei in Schuluniformen gekleideten Gören, offenbar aus wohlhabenden Verhältnissen stammend, haben ihn wie ein wildes Tier angekettet und halten ihm die vermutlich aus Papas Safe stammenden Goldbarren vor die Nase.
Gott Wotan ist ein derangierter Zirkusdirektor im Paillettenfrack, der, wie seine netzbestrumpfte und dauerqualmende Frau Fricka, schon bessere Zeiten gesehen hat. Dass der Laden noch nicht ganz abgewirtschaftet ist, beweisen die Artistinnen, die an langen Tüchern in gefährlichen Höhen Kunststücke proben, während die Riesen Fasolt und Fafner in gelben Gabelstaplern hereinbrausen und von Wotan den Lohn für den Bau der Burg Walhall einfordern. Die Götter Donner und Froh, beide Angebertypen Marke „neureicher Blender“, flitzen derweil mit ihren Gocarts herum. Sie gehören offenbar zu den Gewinnern des Systems, genauso wie der durch die Macht des Ringes vor Selbstbewusstsein nur so strotzende Alberich, der in den Nibelheimer Produktionsanlagen seine Arbeiter drangsaliert: es sind Kinder, die, wie bei Smartphoneherstellern in Asien, in sterilen Ganzkörperanzügen Platinen löten.
Geld und Macht, das jedenfalls wird klar, sind für den allgemeinen Niedergang verantwortlich. Hoffnung gibt es allenfalls durch die Frauen, speziell den drei Rheintöchtern: die outen sich später als Ökoaktivistinnen und rufen mit einem Transparent, auf dem „Lasst alle Feigheit fahren“ steht, zur Aktivität auf. Unklar bleibt dagegen, warum sich alle am Ende gelbe Regenjacken überziehen? Wegen der Klimakatastrophe?
Es ist ein gänzlich unmythisches „Rheingold“, das da in Stuttgart zu sehen ist. Vieles in der Inszenierung wirkt reichlich plakativ, manches auch schlicht platt, daran ändert auch die im Hintergrund installierte Videowand nicht viel, auf der in einer Art surrealistischen Verfremdung mittels Traum- und Fantasiesequenzen unbewusste Anteile der Protagonisten beleuchtet werden sollen.
Ganz stark ist auf jeden Fall die Ensembleleistung. Nicht nur ist jede Figur prägnant charakterisiert, auch sängerisch gibt es keinerlei Schwachpunkte. Aus dem formidablen Ensemble ragt der ungemein präsente Alberich von Leigh Melrose heraus, der sogar auf einer drehenden Messerwurfscheibe nichts von an stimmlicher Kraft verliert. Großartig auch Matthias Klink als ränkeschmiedender, verschlagener Loge.
Das Grundproblem dieser Inszenierung freilich ist der Widerspruch zwischen Szene und Musik. Der Stuttgarter GMD Cornelius Meister nämlich liefert zwar am Pult des Staatsorchesters einen weiteren Beweis seiner Kompetenz als Wagnerdirigent, indem er einerseits die Partitur detailgenau ausleuchtet, andererseits die Dramatik Pathos der wagnerschen Musik mit geradezu überbordender Klangpracht zum Ausdruck bringt. Beginnend mit dem aus dunklem Urgrund hervorzüngelden Es-Dur-Beginn hält er so den Spannungsbogen bis zum blechgesättigten Ende. Sein emotional aufgeladenes Musizieren findet aber kaum Entsprechungen auf der Bühne, wo die Regie ja weitestgehend aufgeräumt hat mit all den großen Gefühlen, dem mythischen Pathos der Wagner-Tradition, was immer wieder zu merkwürdigen Divergenzen führt.
Auch das Publikum reagiert am Ende gespalten. Den Ovationen für Ensemble und Orchester folgt eine Buhorgie für die Regie, wie man sie in Stuttgart lange nicht erlebt hat.

Hifi und Wohnen

12.
Nov.
2021

In den 50er und 60er Jahren gehörte sie zu einer guten deutschen Wohnstube wie der Petticoat zur Damengarderobe: die Musiktruhe. Oft in dunkle Furniere gekleidet, trugen die Geräte klingende Namen wie Isabella, Sonata oder Symphonie, meist stammten sie von deutschen Traditionsfirmen wie Kuba, Graetz, Saba, Nordmende oder Grundig. Ausgestattet waren sie in der Regel mit einem Radioteil mit UKW, Lang-, Mittel- und Kurzwelle, manche hatten dazu noch einen Plattenspieler, einige sogar ein Tonbandgerät an Bord.
Verstecken ließen sich diese schrankartigen Truhen, auch Tonmöbel genannt, nicht. Allein die bis Anfang der 60er Jahre dominierende Röhrentechnik bedingte schon eine gewisse bauliche Dimension. Aber man wollte sie auch nicht verstecken, galten sie in der Wirtschaftswunderzeit doch ebenso als Symbol des gelungenen sozialen Aufstiegs wie der Opel Kapitän in der Garage. Und wie dieser waren sie teuer. Für die legendäre Musiktruhe „Königin von Saba“ der gleichnamigen Firma Saba aus Villingen im Schwarzwald etwa musste man im Jahr 1960 knapp 4.800 DM auf den Tisch legen. Zum Vergleich: ein VW Käfer kostete in der Grundausstattung 3.750.- DM. Dafür war das Monstrum, das optional sogar mit einem Fernsehgerät bestellt werden konnte, knapp zwei Meter breit und wog je nach Ausstattung bis zu 170 kg.

Heute ist eine ordentliche Musikanlage für vergleichsweise wenig Geld zu haben und lässt sich im Vergleich zu den Musiktruhen der Nachkriegszeit unauffällig in den Wohnraum integrieren. Für einen akzeptablen Klang reicht schon ein Smartphone oder Streamer, dazu kommen je nach Anzahl der zu beschallenden Räume Aktivlautsprecher, in denen schon die Elektronik einschließlich Verstärker verbaut sind. Mögen solch smarte Anlagen auch nicht als Statussymbol taugen, so vermitteln sie gleichwohl die Haltung ihrer Besitzer zu Technik und Ästhetik wie in früheren Zeiten.

Schneewittchensarg

Denn schon in den 50er Jahren gab es Zeitgenossen, die mit dem vorherrschenden, überladenen Schrankwanddesign nicht viel anfangen konnten. Für diese brachte die Firma Braun 1956 ein Gerät auf den Markt, das sich designmäßig extrem abhob von den massiven Klötzen der Konkurrenz: SK4 war die Modellbezeichnung der Radio-Plattenspieler-Kombination, die unter dem Namen „Schneewittchensarg“ Designgeschichte schrieb. Aus (hellem) Holz waren an ihm nur die seitlichen Zargen, ansonsten war das fast zierlich wirkende Gerät in dezentem Weiß gehalten. Der Clou war freilich die transparente Haube aus dem damals noch neuen Material Plexiglas, was die Assoziation an den gläsernen Sarg Schneewittchens aus dem Märchen der Brüder Grimm hervorrief. War diese Bezeichnung zunächst noch abfällig gemeint, so tat sie der Beliebtheit des Geräts keinen Abbruch. Im Gegenteil: bis zum Jahr 1968 wurde das von dem Professor an der Ulmer Hochschule für Gestaltung Hans Gugelot, dem legendären Braun-Designer Dieter Rams und dem Bauhausschüler Wilhelm Wagenfeld entworfene Gerät, das sich perfekt in den damals in stilbewussten Kreisen angesagten dänischen Möbelstil einfügte, in diversen Modifikationen produziert. Als Ikone des Industriedesigns steht der Schneewittchensarg heute auch im New Yorker Museum of Modern Art. Der Schriftsteller Günter Grass, so eine Anekdote, soll sich von seinem ersten Honorar des Bayerischen Rundfunks 1958 einen gekauft haben. In der letzten gebauten Version kostete ein Braun SK4 495.- DM, mittlerweile ist er ein begehrtes Sammlerobjekt: für ein funktionsfähiges, gut erhaltenes Exemplar werden heute 1.000 € und mehr bezahlt.

Anfang der 60er kam die stereophone Schallplatte auf den Markt, Mitte der 60er Jahre wurde dann die Hifi-Norm DIN 45 500 eingeführt, die bestimmte technische Mindeststandards für High Fidelity, also hohe Klangtreue, definierte. Stereo – das hieß nun freilich: man benötigte zwei Lautsprecher. Waren diese in Röhrenzeiten, um einen guten Wirkungsgrad zu erzielen, meist üppig dimensioniert, so ermöglichte die Entwicklung der Transistortechnik im Verstärkerbau auch den adäquaten Betrieb kleinerer, geschlossener Lautsprecher, die entsprechend ihrer Gehäuseform als „Boxen“ bezeichnet wurden und aufgrund ihrer Kompaktheit keine Grundfläche im Wohnzimmer mehr beanspruchten. Damit war der bis heute mehr oder weniger gültige Prototyp der Stereoanlage geboren: Plattenspieler, Verstärker oder Receiver, zwei Lautsprecherboxen.

Diese Konstellation stellte andere Anforderungen an die Integration in den Wohnraum. Statt einer solitären Truhe mussten nun mindestens vier Teile untergebracht werden. Definierte der Begriff „Regalbox“ auch gleich deren Aufstellungsort, so taten die bald immer häufiger angebotenen großen Standlautsprecher dagegen erst einmal genau das: herumstehen. Das heißt, man musste Plätze für sie finden, was in manchen Haushalten durchaus Konfliktpotential barg. Während etwa für den hifibegeisterten Mann die Lautsprecherkisten gar nicht groß genug sein konnten, sah manche Gattin die ästhetische Ausgewogenheit ihres Wohnzimmers in Gefahr. Ein Problem übrigens, das die Zeitläufte überdauert und sich als sogenannter WAF, „Woman Acceptance Factor“, ernsthaft als Kürzel zur Einordnung von Geräten in Hifi-Kreisen etabliert hat.

Wenn man in den 70er Jahren die Elektronik noch gerne auf Sideboards stellt oder sie im Schrank versteckte, so enwickelte sich in den 80ern ein neuer Trend: der Hifiturm. Yamaha, Marantz oder Technics waren einige der nun angesagten, häufig aus Japan kommenden Marken, die den durch wachsendes Angebot und sinkende Preise immer stärker in Fahrt kommenden Hifi-Boom befeuerten. Und was einst kompakt in einem Gehäuse war, wurde nun in verschiedene Geräte ausgelagert und gestapelt. Vorverstärker, Endstufe, Equalizer, Cassettenrecorder und obendrauf der Plattenspieler, alles in metallicbraun: so sah der Traum des Hifi-Fans in den 80ern aus.
Dieses Turmprinzip hatte lange Bestand. Meist waren die Türme hoch und breit, für jene, die es dezenter wollten, hatte der Handel auch Modelle im Bonsaiformat im Angebot, oft im Verbund mit ebenso kleinen Lautsprechern. In einigen Haushalten sind diese Relikte der Hifi-Historie bis heute in Betrieb. Warum auch nicht? Klanglich sind diese Geräte für die Bedürfnisse der meisten Hörer ausreichend, dazu hat man mit CD-Spieler und Radioteil Zugriff auf die meistgenutzen Quellen. Und an ihre Anwesenheit im Wohnzimmer hatte man sich im Lauf der Zeit gewöhnt.

Heute freilich besitzen viele, vor allem jüngere Menschen, gar keinen CD-Spieler mehr. Wozu auch? Durch die Angebote der Streamingportale und die Möglichkeit des Downloads von Musik auf Smartphone und digitale Speichermedien sind physische Tonträger für viele kein Thema mehr. Das gilt vor allem für die CD. Interessanterweise zieht aber der Verkauf von Plattenspielern und Vinylschallplatten seit einigen Jahren wieder deutlich an. Dafür gibt es verschiedene Gründe. Zwar bilden nach wie vor jene Freaks einen beträchtlichen Teil der Vinylfans, die seit ihrer Jugend an der Nadel und ihrer Plattensammlung hängen und mit der digitalen Musikwiedergabe nie richtig warm geworden sind. Es gibt aber auch den Trend, dass sich digital sozialisierte Menschen, die Musik hauptsächlich als quasi materieloses Phänomen via Smartphone kennengelernt haben, für die Haptik und Aura der Schallplatte begeistern. Eine schwarze Plastikscheibe mit Rillen, in denen eine Nadel kreist und aus der Musik rauskommt: Was für eine schöne Sache! Und sogar im High End Bereich, wenn es um die Ausreizung der technischen Möglichkeiten von Musikwiedergabe geht, halten manche Liebhaber die Vinylschallplatte nach wie vor für das überlegene Medium.

So wird die aktuelle Situation auf dem Hifisektor heute von verschiedenen Tendenzen bestimmt. Der Mainstream ist auf Digitalisierung bei gleichzeitiger Reduzierung des Geräteparks ausgerichtet. Je weniger Geräte und Kabelgedöns, desto besser, am besten, die Musik wird irgendwann komplett ohne Hardware in alle Räume gestreamt. Auf der anderen Seite gibt es die traditionsbewussten Analogfans, die ihre Vinylscheiben mit speziellen Plattenwaschmaschinen reinigen und sich an den bunt beleuchteten Leistungsanzeigern ihrer schweren Verstärker ergötzen. Und dazwischen sind jene, die einfach nur Musik hören möchten und dafür nehmen, was vorhanden ist.

Werfen wir zu guter Letzt aber noch einen Blick in die merkwürdige Welt des High End-Audio. Dort, wo es darum geht, das letzte Quäntchen Klang herauszuholen, herrschen andere Gesetze.
Von der elektrischen Hausinstallation bis zur akustischen Optimierung des Hörraums kommt hier jedes Glied der Wiedergabekette auf den Prüfstand, werden mittels akribischer Hörtests immer neue Verbesserungspotentiale ausgelotet. Minimalismus hat hier keinen Platz, stattdessen wird größtmögliche Ausdifferenzierung betrieben. Je mehr Geräte, desto besser. Mit Vorverstärkern, Endstufen, Laufwerken, Digitalwandlern, Masterclocks, Stromaufbereitern und audiophilen Netzwerkswitches samt den zum Teil in separate Gehäuse ausgelagerten Netzteilen der Geräte kann eine solche High End-Installation schon mal an die zehn Komponenten und mehr umfassen. Dazu kommt dann eine ebenso hoch selektierte Verkabelung, ist doch der Einfluss von Verbindungs- und Netzkabeln auf die Klangqualität der Anlage beträchtlich. Preislich ist man dabei inflationsbereinigt locker wieder bei der „Königin von Saba“, manchmal auch weit darüber: ein entsprechend exklusives Netzkabel kann allein schon ein paar Tausend Euro kosten. Davon, wie deren Wohnzimmer dann aussieht, ganz zu schweigen. Viele dieser High Ender wurden, sofern es die Wohnverhältnisse zulassen, von ihren Ehefrauen deshalb – Stichwort WAF – in einen separaten Hörraum verbannt, wo sie ihre Neigung ausleben können.

Wem das alles zuviel ist: auch die gute alte Musiktruhe ist, in veränderter Form, wieder zu haben.
Etwa von der englischen Firma Ruark, die drei verschiedene Modelle baut, allesamt mit Radioteil, CD-Spieler und Streamingoption. Beim größten Modell sind sogar vier Standbeine im 60er-Jahre Retrostil dabei.

Über die Geschichte der Tonaufzeichnung

21.
Jun.
2021

22 Mark. Soviel kostete Mitte der 70er Jahre eine Langspielplatte, und das war für einen Heranwachsenden, der im Monat um die 30 Mark Taschengeld bekam, ein ziemlicher Batzen. Der Kauf einer LP war für einen durchschnittlichen Jugendlichen zu dieser Zeit also ein Ereignis, dem in der Regel ein langer Auswahlprozess vorausgegangen war, und so verfolgte man das langsame Wachsen der eigenen Plattensammlung mit umso größerem Stolz. Und da Schallplatten empfindlich waren – schon kleine Kratzer konnten dauerhafte Knackser beim Abspielen verursachen – ging man entsprechend vorsichtig damit um. Eine LP zu verleihen kam einem Vertrauensbeweis gleich. Musik auf Cassetten aufzunehmen war keine wirkliche Alternative. Denn abgesehen davon, dass die Spulerei nervte und die Klangqualität mäßig war, waren Compactcassetten eben keine Originale, sie hatten kein Cover und besaßen keinerlei Sammelwert. Dagegen kam der Abspielvorgang einer LP einem Ritual gleich, das entsprechend zelebriert wurde: erst das vorsichtige Entnehmen der Platte mittels Spreizgriff am Rand und auf dem Label, um auf der Oberfläche keine Abdrücke zu hinterlassen, dann das Auflegen und Zentrieren der Scheibe auf dem Plattenteller, bevor sich der Tonabnehmer in die Rille senkte – das hatte etwas von einer Opfergabe auf dem Altar.

Dass dann tatsächlich Musik den Raum erfüllte, konnte man immer wieder als kleines Wunder empfinden. Und irgendwie war es das ja auch, denn noch bis vor etwa hundert Jahren konnte man Musik nur hören, wenn sie von jemandem gespielt wurde. Wer im 18. oder 19. Jahrhundert nicht in einer großen Stadt wohnte oder Zugang zur Hofkultur hatte und auch nicht selber musizierte, war auf Gastspiele reisender Musikanten angewiesen. Oper war ein exklusives Vergnügen, aber auch eine Sinfonie oder ein Kammermusikstück zu hören war den wenigsten Menschen vergönnt. Für die meisten spielte sich, vom sonntäglichen Gottesdienst abgesehen, das Leben weitgehend ohne Musik ab. Dafür dürfte deren Wirkung umso größer gewesen sein. Johann Wolfgang von Goethe beschreibt in einem Brief an Carl Friedrich Zelter im August 1823, was ein Konzert der Sängerin Anna Milder-Hauptmann in ihm auslöste: „Nun aber doch das eigentlich Wunderbare! Die ungeheure Gewalt der Musik auf mich in diesen Tagen! […] Zu einiger Erklärung sag ich mir: du hast seit zwei Jahren und länger gar keine Musik gehört.“

Jahrelang keine Musik. Wir Dauerbeschallten können uns das nicht mehr vorstellen, ebenso wenig, wie wir die Sensation nachvollziehen können, die die Erfindung der Tonaufzeichnung für die Menschen bedeutete. Es war am 18. Juli 1877, als der Amerikaner Thomas Alva Edison „Hello!“ in eine mit einer Nadelspitze versehene Membran rief und diese gleichzeitig über einen mit Paraffin überzogenen Papierstreifen zog. Als er die Nadel danach erneut über den Papierstreifen bewegte, konnte er leise das zuvor Gesprochene vernehmen. Bis zur Entwicklung von Apparaten, mittels derer man Musik hören konnte, dauerte es zwar noch einige Jahre, aber in den 1920er Jahren waren die sogenannten Grammophone so weit ausgereift, dass man damit auf ihnen sogar Opern und Orchestermusik abspielen konnte. Thomas Mann, der ein großer Fan des Grammophons war – um die 300 Schellackplatten soll er besessen haben – hat dem Apparat in seinem Roman “Der Zauberberg” gar ein eigenes Kapitel mit dem Titel “Fülle des Wohllauts” gewidmet. Darin ist der Protagonist Hans Castorp fasziniert von dem neu angeschafften Gerät, unter anderem hört er Arien aus “Aida” und “Carmen”. Allerdings, dies war das große Manko der Schellackplatte, durften die Stücke nicht länger als drei bis vier Minuten sein. Längere Werke mussten auf mehrere Platten verteilt und zu einem sogenannten “Album” zusammengestellt werden – ein Begriff, der dann auch auf die in den 1950er Jahren eingeführte Vinylplatte übertragen wurde, die mit gut 20 Minuten Spielzeit pro Seite ein ganzes Schellackplattenalbum ersetzen konnte.

Die Erfindung der Langspielplatte, die sich mit 33 statt wie bisher mit 78 Umdrehungen pro Minute bewegte, kam einer Revolution gleich. Endlich war es möglich, ganze Sinfoniesätze am Stück zu hören, Jazzmusiker konnten ihre Soli auch auf Tonträgern in der gewünschten Länge entwickeln. Im Bereich der Pop- und Rockmusik beeinflusste die Spielzeit einer Langspielplattenseite den Prozess der Komposition, vor allem Artrockbands wie Genesis oder Yes orientierten sich in ihren Stücken an dem 20-Minuten-Limit. Bei Alben, die aus kürzeren Tracks zusammensetzt waren, galt es, die Dramaturgie im Blick zu haben: Das Weiße Album der Beatles oder auch Pink Floyds “The Dark Side of the Moon” sind Gesamtkunstwerke unter den Bedingungen des LP-Formats. Wurde bei der Produktion von Schellackplatten die Musik noch direkt und ohne Korrekturmöglichkeit direkt in die Matrize geschnitten, so bildeten bei Stereolangspielplatten in der Regel Tonbänder das Ausgangsmaterial. Die Schnitttechnik ermöglichte es dabei, Teile eines Musikstücks bei der Aufnahme so oft zu wiederholen, bis diese fehlerlos vorlagen und am Ende das komplette Werk aus vielen kleinen Schnipseln zusammenzusetzen. Ein Patchwork – das man aber, sofern der Tonmeister sein Handwerk versteht, beim Hören nicht als solches wahrnimmt. Diese Methode hatte aber einen Nebeneffekt: Konnte man bei Aufnahmen der Schellackära noch hie und da Unsauberkeiten der Musiker hören, so etablierte sich vor allem bei Einspielungen klassischer Musik eine Perfektionsästhetik, die mit dazu führte, dass man von den Musikern auch im Konzert erwartete, dass sie ohne Fehler spielten.

Eine Symphonie konnte man auch mit einer Langspielplatte kaum ohne Unterbrechung hören. Meistens musste man spätestens nach dem zweiten Satz aufstehen und die Platte wenden, und so waren die Erfindung der digitalen Musikaufzeichnung und die Einführung der CD vor allem für Hörer klassischer Musik ein Segen – zumal es nun auch keine Störgeräusche mehr wie Knacksen oder Rauschen gab, die bis dahin etwa das Hören leiser Klaviermusik mitunter stark beeinträchtigen konnten. Mit der digitalen Speicherung von Musik schritt aber auch die Entmaterialisierung des Tonträgers fort, die heute im Streaming ihre Vollendung gefunden hat. Noch die mechanischen Grammophone mit den aufgesetzten Schalltrichtern hatten für sich reklamiert, eine Art Ersatzmusikinstrument zu sein: “Cremona” war der Markenname eines renommierten Herstellers, nach der italienischen Stadt, aus der Geigenbauer wie Stradivari und Guarneri stammten. Auch die sich drehende Vinylschallplatte besaß trotz elektrischer Verstärkung eine physische Präsenz. Dagegen verschwindet die CD in der Lade des Players, wird ungreifbar wie die Daten von USB-Sticks oder Festplatten.

Wenn aber nicht alles täuscht, ist auch die CD ein aussterbendes Medium. 2018 übertrafen die Umsätze mit Musikstreaming zum ersten Mal die des CD-Verkaufs. Dieser Trend dürfte sich fortsetzen. Die meisten Jugendlichen besitzen gar keinen CD-Spieler mehr, warum auch? Mit einem Smartphone kann man, ein Datennetz vorausgesetzt, zu jeder Zeit und an jedem Ort auf die Musikauswahl zugreifen, die von Streamingdiensten wie Spotify oder Qobuz angeboten wird. Damit hat sich das Musikhören weitgehend von allem materiellen Ballast emanzipiert, und vielleicht wird es ja bald möglich sein, sich einen Chip direkt ins Hörzentrum implantieren zu lassen. Immerhin hat der Klassikstreamingdienst Idagio unlängst eine App für die Apple Watch vorgestellt, mit der man Zugriff auf ein Angebot hat, das weitaus größer ist als das jedes Plattenladens. Daraus kann man sich selbst Stücke aussuchen, kuratierte Playlisten vorschlagen lassen oder gleich die “Moods”-Funktion nutzen, die Musik passend zur jeweiligen Stimmung spielt. “Erregt” oder lieber “Entspannt”? “Spritzig” oder “Melancholisch”? So wird klassische Musik zum Wohlfühlsoundtrack, zum jederzeit abrufbaren Wellnessangebot. Gleichwohl sind die Möglichkeiten, die das Streaming für ambitionierte Musikhörer bietet, enorm. Angenommen, man möchte verschiedene Einspielungen von Beethovens Streichquartett op. 132 vergleichen, so bekommt man bei Idagio binnen Sekunden 43 Aufnahmen vorgeschlagen, die man sofort abspielen kann. Dagegen ist ein analoger Konzertbesuch mit allerlei Unwägbarkeiten verbunden. Abgesehen von der Anfahrt und dem Erwerb einer Karte weiß man weder, ob die Musiker einen guten Tag haben, noch, ob der Sitznachbar unter chronischem Husten leidet. Man kann während des Konzerts auch nicht die Pausentaste drücken, um auf die Toilette zu gehen oder sich ein Glas Wein zu holen. Doch auch wenn in der Liveatmosphäre, dem Bewusstsein, etwas Unwiederholbarem beizuwohnen, für viele noch eine Qualität liegt, die keine Musikkonserve ersetzen kann, sind Auswirkungen der unbegrenzten Verfügbarkeit von Musik auf die musikalische Kultur schon erkennbar. Der Besucherschwund bei vielen klassischen Konzertreihen dürfte sich dadurch weiter verstärken. Dafür gewinnt das Event, ähnlich wie in der Popmusik, auch bei Konzerten klassischer Musik an Bedeutung, wovon dann vor allem jene Musiker profitieren, die sich griffig vermarkten lassen.

Selbst wenn es irgendwann gar keine physischen Tonträger mehr geben sollte, dürften das CD-Format wie auch der Begriff Album virtuell bestehen bleiben – einfach deshalb, weil auch Streamingdienste Formen brauchen, mit denen sich musikalische Werke listen lassen. Und auch wenn dem Streaming die Zukunft gehört, das langlebigste Medium überhaupt wird wohl die Langspielplatte sein. Genauer gesagt: zwei Langspielplatten. An Bord der 1977 gestarteten Raumsonden Voyager 1 und Voyager 2, die derzeit am Rande unseres Sonnensystems in den interstellaren Raum eintreten, befinden sind auch zwei vergoldete Kupferschallplatten mit diversen Geräuschen und Musikstücken – unter anderem von Chuck Berry, Louis Armstrong, Mozart und Beethoven. Über 500 Millionen Jahre sollen diese überdauern. Sollten sie bis dahin von Außerirdischen gefunden werden, kann man nur hoffen, dass sich diese noch im Analogzeitalter befinden: ein Plattenspieler ist nicht mit an Bord. (StZ, Brücke zur Welt)

Die Staatsoper Stuttgart mit Mahler und Jelinek

28.
Okt.
2020

Vom Ende der Zivilisation

Endzeitvisionen haben derzeit Konjunktur. Die Tatsache, dass ein mutierter Virus unsere Welt derart erschüttern kann, offenbart drastisch die Fragilität unserer Zivilisation, die nicht allein durch den Klimawandel und die latente Gefahr eines Atomkriegs bedroht scheint. Dabei ist das Thema keineswegs neu: In seinem Film „12 Monkeys“ hatte Terry Gilliam 1995 das Szenario einer durch einen tödlichen Virus fast ausgerotteten Menschheit durchgespielt, und schon 1976 hatte die Schriftstellerin Elfriede Jelinek in ihrer Erzählung „Die Bienenkönige“ eine finstere Dystopie vom Ende der Welt durch eine Atomkatastrophe entworfen. Nun hat die Staatsoper Stuttgart Jelineks Text mit Gustav Mahlers „Das Lied von der Erde“ zu einem Abend zusammengespannt, der einen als Zuschauer zumindest bewegt, wenn nicht gar erschüttert zurücklässt.
Im April dieses Jahres, also schon unter Coronabedingungen, erläuterte der Intendant Viktor Schoner zu Beginn, sei das Programm konzipiert worden. Und anders als bei der ersten Premiere der Spielzeit, Leoncavallos „Cavalleria rusticana“, sind hier keinerlei durch das Einhalten von Abstandsregeln bedingte Defizite zu bemerken. Dabei erscheint die Kombination beider Werke durchaus riskant. Denn während Jelineks Text eine pessimistische, in der Beschreibung seiner charakterlichen Defizite gnadenlose Abrechnung mit der Spezies Mensch ist, lässt sich Gustav Mahlers Liederzyklus als subjektive, von Trauer grundierte Abschiednahme eines empfindsamen Menschen von einer Welt hören, deren Schönheit noch einmal wehmütig beschworen wird.
Auf der Opernbühne in Stuttgart sieht man zunächst einmal eine Art Industrieruine, einen runden Schlund mit hohen Wänden und einer drehbaren Achse in der Mitte. Das eigentlich für die wegen Corona abgesagte Produktion von Richard Strauss´ „Die Frau ohne Schatten“ gedachte Bühnenbild könnte der Kühlturm eines havarierten Atomkraftwerks sein – was insofern nahe läge, als in Jelineks Text ein nuklearer GAU die Menschheit bis auf einige wenige überlebende Wissenschaftler, die „Bienenkönige“, ausgerottet hat. Diese setzen die wenigen verbliebenen Frauen nach Gutdünken ein: Sofern fruchtbar als Gebärmaschinen, ansonsten zum persönlichen Lustgewinn. Am Ende werden sie aber selber massakriert, nachdem sich die Frauen mit den versklavten Männern verbündet haben. „So wie ich es sehe“, heißt es im Text, „hatten sich Wesen, die auf Grund ihres Geschlechtes benachteiligt waren, mit Wesen, die auf Grund ihrer Arbeitsbedingungen benachteiligt waren, zu einem handlungsfähigen Gesamtkörper zusammengeschlossen. Das entspricht einer reifen sozialen Leistung.“ Feministisch grundierte Gesellschaftskritik, die von der großartigen Schauspielerin Katja Bürkle als extraterrestrischer, das Desaster kühl analysierende Wissenschaftlerin mit einer zynischen Distanziertheit vorgetragen wird, die schaudern lässt.
Dramaturgisch brillant umgesetzt ist in Stuttgart der heikle Anschluss an Mahlers Liederzyklus. Schon vorher hatte Cornelius Meister mit dem klein besetzten Staatsorchester – man spielt Schönbergs Kammerfassung – immer wieder Fragmente aus dem „Lied von der Erde“ anklingen lassen. Nachdem sich aus dem verwaist scheinenden Turm dann überraschenderweise vier in Plastiklumpen gekleidete Überlebende nach oben geschleppt haben, setzt unvermittelt das „Trinklied vom Jammer der Erde“ ein. „Wenn der Kummer naht/Liegen wüst die Gaerten der Seele/Welkt hin und stirbt die Freude, der Gesang“ heißt es darin, und diese Zeilen entfalten in dem Endzeitszenario der Bühne eine enorme Wirkung, zumal die Partitur von den vier abwechselnd agierenden Sängern (Simone Schneider, Evelyn Herlitzius, Thomas Blondelle, Martin Gantner) und dem Staatsorchester so brillant wie emphatisch in Klang gesetzt wird. Welchen Effekt die Bühne auf die Wirkung der Musik hat, wird in nostalgisch zurückblickenden Sätzen wie „Von der Schönheit“ noch deutlicher: von der milden Hoffnung, die sich konzertant heraushören lässt, bleibt im Endzeit-Framing der Bühne nur noch eine bizarre Phantasmagorie.
Wenn Mahlers „Lied von der Erde“ eine Auseinandersetzung mit der Vergänglichkeit ist – Mahler stand bei der Komposition unter dem Einfluss gleich mehrerer Schicksalsschläge -, so bezieht diese von Ingo Gerlach konzipierte und von David Hermann als Regisseur umgesetzte Produktion den Einfluss mit ein, den der Mensch auf den Fortbestand der Zivilisation hat, ohne dabei in irgendeiner Weise belehrend zu wirken. Im letzten Satz „Der Abschied“ gelingt ein Schlussbild von verstörender Rätselhaftigkeit. Hier tritt die Wissenschaftlerin des ersten Teils in einem Raumanzug noch einmal herein, während von der Bühnendecke ein riesiges, schillernd pulsierendes Facettenauge erst herabsinkt und zu den Schlussworten „Ewig, ewig….“ wieder hebt. Auch wenn der Mensch verschwindet – die Erde wird überdauern.

Yuval Weinberg ist der neue Chefdirigent des SWR Vokalensembles

26.
Okt.
2020

Keine Rollen spielen

Käsekuchen. Den, so verriet mir Cornelia Bend, die Managerin des SWR Vokalensembles, würde Yuval Weinberg schätzen, und so treffe ich mich mit dessen neuen Chefdirigenten in einem Stuttgarter Café. Seit vier Wochen ist Weinberg nun offiziell im Amt, gerade kommt er von einer Probe für sein am 20. November geplantes Antrittskonzert. Das SWR Vokalensemble, einer der weltweit besten Profichöre, hatte sich nach nur einer Probe für den 29-Jährigen als neuen Leiter ausgesprochen – auch er selbst, so erzählt Weinberg, dessen Käsekuchen gerade serviert wird, sei davon sehr überrascht gewesen. Er war damals nur für ein Probendirigat verpflichtet worden, ein vierstimmiges Stück von Heinz Holliger sollte er einstudieren. Zwar habe er sich darauf sehr gut vorbereitet, doch in der Probe selbst sei er in Gedanken vor allem bei seiner in München weilenden Freundin gewesen: die war nämlich schwanger, der Geburtstermin stand kurz bevor. „Ich hatte schon verschiedene Szenarien im Kopf was ich machen würde, wenn sie anruft“, sagt Weinberg. „Ich hatte sogar mein Handy bei der Probe angelassen, was ich sonst noch nie mache. Aber dadurch war ich auch sehr entspannt, denn ich dachte: das Wichtigste passiert ja woanders.“ Der Eindruck, den er auf die 33 Sänger des Vokalensembles gemacht hat, muss jedenfalls nachhaltig gewesen sein. Von „schockverliebt“ war gar die Rede, alle waren voll des Lobes für Weinbergs gleichzeitig zielgerichtete und freundlich-entspannte Art des Umgangs, sodass sich der Chor kollektiv für ihn als Nachfolger des nach 18 Jahren abtretenden Chefdirigenten Marcus Creed aussprach. Zwar habe er zu der Zeit auch andere Optionen gehabt. „Aber als das Angebot aus Stuttgart kam, war mir klar: das ist genau das, was ich machen möchte“.
Sein musikalischer Werdegang begann in einem Kinderchor seiner Heimatstadt Tel Aviv. Die Chorleiterin sei damals in alle Klassen gekommen und hätte gefragt, wer zum Vorsingen antreten wolle. Und da man für diese Zeit vom Unterricht befreit wurde, meldete sich der achtjährige Yuval. Der hatte bis dahin zwar schon allerlei ausprobiert – Cello, Basketball, Tischtennis, Tennis – aber nach kurzer Zeit auch wieder aufgegeben. Singen aber, das merkte er rasch, war sein Ding, und das, obwohl er ziemlich darunter litt, der einzige Junge im Kinderchor zu sein. So studierte er nach dem Abitur in Tel Aviv Gesang und Orchesterdirigieren und wechselte danach an die Musikhochschule in Berlin, um mit Jörg-Peter Weigle zu arbeiten.
Zuvor, so erzählt Weinberg, während er seinen Kräutertee probiert, habe er sich viele Hochschulen angesehen. Doch bei Weigle habe er das Gefühl gehabt: „Das ist genau das, was ich jetzt brauche. Er hat eine klare Struktur und ist sehr genau, lässt einem aber trotzdem Freiheiten.“ Allerdings war der Unterricht in Berlin wenig praxisorientiert. Nur selten hatte er die Gelegenheit, selbst einen Chor zu dirigieren, weshalb es Weinberg nach den zweieinhalb Jahren in Berlin dorthin zog, wo die Chortradition schon immer groß geschrieben wird: nach Skandinavien, genauer an die Musikakademie in Oslo, wo die bekannte Chorleiterin Grete Pedersen eine Professur hat. Und was ihm dabei, neben dem Umstand, selber mit hervorragenden Chören arbeiten zu können, vor allem gefiel, war der entspannte, lockere Umgangston. Alle, so begeistert sich Weinberg, befänden sich dort auf einer Ebene, egal ob man Professor sei oder Student, Sänger oder Dirigent. „Und das will ich eigentlich auch so. Ich möchte keine Rollen spielen, egal ob als Mensch oder Dirigent. Das hat mir die Zeit in Oslo gezeigt.“ Authentisch sein – eine Qualität, die er auch in seine Arbeit mit dem SWR Vokalensemble einbringen wird, das, wie viele Ensembles, sehr unter den aktuellen Coronabedingungen leidet. Gleichwohl kann Weinberg den Abstandsregeln zumindest ein bisschen etwas Gutes abgewinnen. Die Chormitglieder, erläutert er, hätten auf diese Weise gelernt, quasi solistisch zu singen. „Aber eben so, dass es am Ende doch zusammen klingt.“ Man muss eben positiv denken.

Lang Lang spielt Bachs Goldbergvariationen

22.
Okt.
2020

Gleich zwei Einspielungen der Goldberg-Variationen finden sich in diesem luxuriös aufgemachten 4er-CD-Schuber. Die erste hat Lang Lang im Studio eingespielt, die zweite in einem Take live in der Leipziger Thomaskirche aufgenommen, und in letzterer gelingt ihm zumindest ansatzweise, was der tüftelig wirkenden Studioversion völlig abgeht: einen dramaturgisch stringenten Bogen über die 30 Variationen zu schlagen. Doch auch live zelebriert Lang Lang das Aria-Thema wie ein romantisches Nocturne, wie er grundsätzlich die langsamen Variationen fast somnambul hinzutupfen pflegt. Die Variation 15 dehnt er so auf sieben, die Variation 25 gar auf über zehn Minuten, dafür meißelt er in manchen schnellen Sätzen Akzente über Gebühr heraus. Vieles wirkt da einfach selbstverliebt und insgesamt äußerlich – angesichts der Vielzahl erstklassiger Aufnahmen eine überflüssige Neuveröffentlichung.

Die Staatsoper Stuttgart zeigt Kurzopern von Mascagni und Sciarrino

12.
Okt.
2020

Mord aus verletzter Ehre

„Wenn Du geschwiegen hättest, wäre ich jetzt nicht entehrt“. Diese Worte spricht der Graf Malaspina in Salvatore Sciarrinos Oper „Luci mie traditrici“ zu seinem Diener, nachdem der ihm vom Techtelmechtel seiner Gattin mit einem fremden Gast berichtet hat. Großes Unglück, so prophezeit der Graf, werde aus dieser Information entstehen. Und so kommt es auch: am Ende ersticht der Graf seine Frau wie er zuvor deren Liebhaber erdolcht hat.
Sciarrinos Plot beruht auf einer wahren Geschichte. Carlo Gesualdo, der Fürst von Venosa, heute vor allem bekannt als Komponist hoch expressiver Madrigale, ermordete im Jahr 1590 seine Frau und deren Liebhaber – weil er fürchtete, seine Ehre zu verlieren. Ein Thema, das bis heute aktuell ist. Laut einer Untersuchung der Vereinten Nationen passieren weltweit jährlich etwa 5.000 sogenannte Ehrenmorde, davon allein 300 in der Türkei. Die Dunkelziffer dürfte, da viele Taten vertuscht werden, deutlich höher liegen. Als das Land mit der höchsten Ehrenmordrate gilt Pakistan, aber auch in Deutschland werden jährlich zwischen 30 und 50 Menschen, fast ausschließlich Frauen, umgebracht, weil sie gegen einen moralischen Codex verstoßen oder sich schlicht anders verhalten haben, als es ihr Mann oder ihre Familien von ihnen erwartet haben.
Brauchte der Fürst von Venosa schon allein aufgrund seiner privilegierten Stellung keine Konsequenzen zu fürchten, so waren und sind Ehrenmorde in manchen Kulturen durchaus legitimiert. Dazu gehörte auch die bäuerliche Gesellschaft im 19. Jahrhunderts in Sizilien, wo Pietro Mascagnis Einakter „Cavalleria rusticana“ spielt. Den hat die Staatsoper Stuttgart nun als erste Neuproduktion der Saison mit Sciarrinos Kammeroper zu einem Doppelabend zusammengespannt, der das Thema Ehebruch, Eifersucht und Mord epochenübergreifend in den Mittelpunkt stellt.
Wenn es bei Sciarrino die Ehefrau ist, die wegen eines erotischen Fehltritts ihr Leben verliert, so ist es in Mascagnis Oper der Fuhrmann Alfio, der Turrido, den Liebhaber seiner Frau Lola ersticht: zwar hat Turridu schon dem Bauernmädchen Santuzza die Ehe versprochen, doch nach seiner Rückkehr aus dem Militärdienst kann er den Avancen Lolas, mit der er vor Alfio verbandelt war, nicht widerstehen.
Doch auch wenn die Werke Sciarrinos und Mascagnis um dasselbe Thema kreisen, so liegen künstlerisch Welten dazwischen. Die „Cavalleria rusticana“ ist die vielleicht effektvollste Verismo-Oper überhaupt, eine emphatische Feier der Melodie, in der die Emotionen Funken schlagen und das Blut in Wallung gerät. Allerdings benötigt man dazu neben verismotauglichen Sängern auch eine entsprechend klangmächtige Orchesterbesetzung. Doch die lässt sich derzeit aus Corona-Gründen nicht realisieren, weswegen man in Stuttgart eine von Sebastian Schwab extra angefertigte Version für Kammerorchester spielt. So wurden die im Graben mit Abstand platzierten Streicher auf ein Quintett eingedampft, dazu kommt eine hinter der Bühne versteckte Banda und der im dritten Zuschauerrang verteilte Chor. GMD Cornelius Meister hatte so alle Hände voll zu tun, die verschiedenen Gruppen zusammenzuhalten, was ihm auch meistens gelang. Von einer adäquaten klanglichen Realisierung war das Ganze aber dennoch weit entfernt, was umsomehr schade war, als man mit Eva-Maria Westbroek für die Rolle der Santuzza eine Sopranistin von Format zur Verfügung hat, die sowohl vokale Durchlagskraft als auch dramatische Schärfung mitbringt.
Die Regisseurin Barbara Frey hat beide Opern in derselben, von Martin Zehetgruber gebauten Bühne inszeniert, einem stylish-schäbigen Hinterhofszenario mit graffitiverschmierten Wänden und einer riesigen, seitwärts gekippten und drehbaren Treppe, auf deren Hinterseite sich Farne ranken. Doch wenn bei Mascagni die Abstandsregeln für Sänger – 6 Meter müssen es in Ausstoßrichtung sein – zu mitunter merkwürdigen Konstellationen führen, so erscheint diese räumliche Distanz in Sciarrinos Kammeroper „Luci mie traditrici“ wie ein äußerliches Sinnbild für die emotionale Entfremdung zwischen Graf (Christian Miedl) und Gräfin (Rachael Wilson) , die sich im finalen Mord vollendet. Künstlerisch erscheint diese Inszenierung also durchaus gelungen. Dass einige Zuschauer im coronabedingt luftig besetzten Opernhaus dennoch vorzeitig das Weite suchten, dürfte eher an Sciarrinos musikalischem Vokabular liegen. Je nach Gusto kann man sein Abtasten der Ränder zwischen Ton und Geräusch, das manchmal an der Hörbarkeitsgrenze sich bewegende Flirren, Schaben und Fauchen hochspannend oder eben auch enervierend langweilig finden. An der Kompatibilität dieser beiden Werke – Coronabeschränkungen hin oder her – darf man jedenfalls Zweifel anmelden.