Beiträge der Kategorie ‘E-Musik’

Hifi und Wohnen

12.
Nov.
2021

In den 50er und 60er Jahren gehörte sie zu einer guten deutschen Wohnstube wie der Petticoat zur Damengarderobe: die Musiktruhe. Oft in dunkle Furniere gekleidet, trugen die Geräte klingende Namen wie Isabella, Sonata oder Symphonie, meist stammten sie von deutschen Traditionsfirmen wie Kuba, Graetz, Saba, Nordmende oder Grundig. Ausgestattet waren sie in der Regel mit einem Radioteil mit UKW, Lang-, Mittel- und Kurzwelle, manche hatten dazu noch einen Plattenspieler, einige sogar ein Tonbandgerät an Bord.
Verstecken ließen sich diese schrankartigen Truhen, auch Tonmöbel genannt, nicht. Allein die bis Anfang der 60er Jahre dominierende Röhrentechnik bedingte schon eine gewisse bauliche Dimension. Aber man wollte sie auch nicht verstecken, galten sie in der Wirtschaftswunderzeit doch ebenso als Symbol des gelungenen sozialen Aufstiegs wie der Opel Kapitän in der Garage. Und wie dieser waren sie teuer. Für die legendäre Musiktruhe „Königin von Saba“ der gleichnamigen Firma Saba aus Villingen im Schwarzwald etwa musste man im Jahr 1960 knapp 4.800 DM auf den Tisch legen. Zum Vergleich: ein VW Käfer kostete in der Grundausstattung 3.750.- DM. Dafür war das Monstrum, das optional sogar mit einem Fernsehgerät bestellt werden konnte, knapp zwei Meter breit und wog je nach Ausstattung bis zu 170 kg.

Heute ist eine ordentliche Musikanlage für vergleichsweise wenig Geld zu haben und lässt sich im Vergleich zu den Musiktruhen der Nachkriegszeit unauffällig in den Wohnraum integrieren. Für einen akzeptablen Klang reicht schon ein Smartphone oder Streamer, dazu kommen je nach Anzahl der zu beschallenden Räume Aktivlautsprecher, in denen schon die Elektronik einschließlich Verstärker verbaut sind. Mögen solch smarte Anlagen auch nicht als Statussymbol taugen, so vermitteln sie gleichwohl die Haltung ihrer Besitzer zu Technik und Ästhetik wie in früheren Zeiten.

Schneewittchensarg

Denn schon in den 50er Jahren gab es Zeitgenossen, die mit dem vorherrschenden, überladenen Schrankwanddesign nicht viel anfangen konnten. Für diese brachte die Firma Braun 1956 ein Gerät auf den Markt, das sich designmäßig extrem abhob von den massiven Klötzen der Konkurrenz: SK4 war die Modellbezeichnung der Radio-Plattenspieler-Kombination, die unter dem Namen „Schneewittchensarg“ Designgeschichte schrieb. Aus (hellem) Holz waren an ihm nur die seitlichen Zargen, ansonsten war das fast zierlich wirkende Gerät in dezentem Weiß gehalten. Der Clou war freilich die transparente Haube aus dem damals noch neuen Material Plexiglas, was die Assoziation an den gläsernen Sarg Schneewittchens aus dem Märchen der Brüder Grimm hervorrief. War diese Bezeichnung zunächst noch abfällig gemeint, so tat sie der Beliebtheit des Geräts keinen Abbruch. Im Gegenteil: bis zum Jahr 1968 wurde das von dem Professor an der Ulmer Hochschule für Gestaltung Hans Gugelot, dem legendären Braun-Designer Dieter Rams und dem Bauhausschüler Wilhelm Wagenfeld entworfene Gerät, das sich perfekt in den damals in stilbewussten Kreisen angesagten dänischen Möbelstil einfügte, in diversen Modifikationen produziert. Als Ikone des Industriedesigns steht der Schneewittchensarg heute auch im New Yorker Museum of Modern Art. Der Schriftsteller Günter Grass, so eine Anekdote, soll sich von seinem ersten Honorar des Bayerischen Rundfunks 1958 einen gekauft haben. In der letzten gebauten Version kostete ein Braun SK4 495.- DM, mittlerweile ist er ein begehrtes Sammlerobjekt: für ein funktionsfähiges, gut erhaltenes Exemplar werden heute 1.000 € und mehr bezahlt.

Anfang der 60er kam die stereophone Schallplatte auf den Markt, Mitte der 60er Jahre wurde dann die Hifi-Norm DIN 45 500 eingeführt, die bestimmte technische Mindeststandards für High Fidelity, also hohe Klangtreue, definierte. Stereo – das hieß nun freilich: man benötigte zwei Lautsprecher. Waren diese in Röhrenzeiten, um einen guten Wirkungsgrad zu erzielen, meist üppig dimensioniert, so ermöglichte die Entwicklung der Transistortechnik im Verstärkerbau auch den adäquaten Betrieb kleinerer, geschlossener Lautsprecher, die entsprechend ihrer Gehäuseform als „Boxen“ bezeichnet wurden und aufgrund ihrer Kompaktheit keine Grundfläche im Wohnzimmer mehr beanspruchten. Damit war der bis heute mehr oder weniger gültige Prototyp der Stereoanlage geboren: Plattenspieler, Verstärker oder Receiver, zwei Lautsprecherboxen.

Diese Konstellation stellte andere Anforderungen an die Integration in den Wohnraum. Statt einer solitären Truhe mussten nun mindestens vier Teile untergebracht werden. Definierte der Begriff „Regalbox“ auch gleich deren Aufstellungsort, so taten die bald immer häufiger angebotenen großen Standlautsprecher dagegen erst einmal genau das: herumstehen. Das heißt, man musste Plätze für sie finden, was in manchen Haushalten durchaus Konfliktpotential barg. Während etwa für den hifibegeisterten Mann die Lautsprecherkisten gar nicht groß genug sein konnten, sah manche Gattin die ästhetische Ausgewogenheit ihres Wohnzimmers in Gefahr. Ein Problem übrigens, das die Zeitläufte überdauert und sich als sogenannter WAF, „Woman Acceptance Factor“, ernsthaft als Kürzel zur Einordnung von Geräten in Hifi-Kreisen etabliert hat.

Wenn man in den 70er Jahren die Elektronik noch gerne auf Sideboards stellt oder sie im Schrank versteckte, so enwickelte sich in den 80ern ein neuer Trend: der Hifiturm. Yamaha, Marantz oder Technics waren einige der nun angesagten, häufig aus Japan kommenden Marken, die den durch wachsendes Angebot und sinkende Preise immer stärker in Fahrt kommenden Hifi-Boom befeuerten. Und was einst kompakt in einem Gehäuse war, wurde nun in verschiedene Geräte ausgelagert und gestapelt. Vorverstärker, Endstufe, Equalizer, Cassettenrecorder und obendrauf der Plattenspieler, alles in metallicbraun: so sah der Traum des Hifi-Fans in den 80ern aus.
Dieses Turmprinzip hatte lange Bestand. Meist waren die Türme hoch und breit, für jene, die es dezenter wollten, hatte der Handel auch Modelle im Bonsaiformat im Angebot, oft im Verbund mit ebenso kleinen Lautsprechern. In einigen Haushalten sind diese Relikte der Hifi-Historie bis heute in Betrieb. Warum auch nicht? Klanglich sind diese Geräte für die Bedürfnisse der meisten Hörer ausreichend, dazu hat man mit CD-Spieler und Radioteil Zugriff auf die meistgenutzen Quellen. Und an ihre Anwesenheit im Wohnzimmer hatte man sich im Lauf der Zeit gewöhnt.

Heute freilich besitzen viele, vor allem jüngere Menschen, gar keinen CD-Spieler mehr. Wozu auch? Durch die Angebote der Streamingportale und die Möglichkeit des Downloads von Musik auf Smartphone und digitale Speichermedien sind physische Tonträger für viele kein Thema mehr. Das gilt vor allem für die CD. Interessanterweise zieht aber der Verkauf von Plattenspielern und Vinylschallplatten seit einigen Jahren wieder deutlich an. Dafür gibt es verschiedene Gründe. Zwar bilden nach wie vor jene Freaks einen beträchtlichen Teil der Vinylfans, die seit ihrer Jugend an der Nadel und ihrer Plattensammlung hängen und mit der digitalen Musikwiedergabe nie richtig warm geworden sind. Es gibt aber auch den Trend, dass sich digital sozialisierte Menschen, die Musik hauptsächlich als quasi materieloses Phänomen via Smartphone kennengelernt haben, für die Haptik und Aura der Schallplatte begeistern. Eine schwarze Plastikscheibe mit Rillen, in denen eine Nadel kreist und aus der Musik rauskommt: Was für eine schöne Sache! Und sogar im High End Bereich, wenn es um die Ausreizung der technischen Möglichkeiten von Musikwiedergabe geht, halten manche Liebhaber die Vinylschallplatte nach wie vor für das überlegene Medium.

So wird die aktuelle Situation auf dem Hifisektor heute von verschiedenen Tendenzen bestimmt. Der Mainstream ist auf Digitalisierung bei gleichzeitiger Reduzierung des Geräteparks ausgerichtet. Je weniger Geräte und Kabelgedöns, desto besser, am besten, die Musik wird irgendwann komplett ohne Hardware in alle Räume gestreamt. Auf der anderen Seite gibt es die traditionsbewussten Analogfans, die ihre Vinylscheiben mit speziellen Plattenwaschmaschinen reinigen und sich an den bunt beleuchteten Leistungsanzeigern ihrer schweren Verstärker ergötzen. Und dazwischen sind jene, die einfach nur Musik hören möchten und dafür nehmen, was vorhanden ist.

Werfen wir zu guter Letzt aber noch einen Blick in die merkwürdige Welt des High End-Audio. Dort, wo es darum geht, das letzte Quäntchen Klang herauszuholen, herrschen andere Gesetze.
Von der elektrischen Hausinstallation bis zur akustischen Optimierung des Hörraums kommt hier jedes Glied der Wiedergabekette auf den Prüfstand, werden mittels akribischer Hörtests immer neue Verbesserungspotentiale ausgelotet. Minimalismus hat hier keinen Platz, stattdessen wird größtmögliche Ausdifferenzierung betrieben. Je mehr Geräte, desto besser. Mit Vorverstärkern, Endstufen, Laufwerken, Digitalwandlern, Masterclocks, Stromaufbereitern und audiophilen Netzwerkswitches samt den zum Teil in separate Gehäuse ausgelagerten Netzteilen der Geräte kann eine solche High End-Installation schon mal an die zehn Komponenten und mehr umfassen. Dazu kommt dann eine ebenso hoch selektierte Verkabelung, ist doch der Einfluss von Verbindungs- und Netzkabeln auf die Klangqualität der Anlage beträchtlich. Preislich ist man dabei inflationsbereinigt locker wieder bei der „Königin von Saba“, manchmal auch weit darüber: ein entsprechend exklusives Netzkabel kann allein schon ein paar Tausend Euro kosten. Davon, wie deren Wohnzimmer dann aussieht, ganz zu schweigen. Viele dieser High Ender wurden, sofern es die Wohnverhältnisse zulassen, von ihren Ehefrauen deshalb – Stichwort WAF – in einen separaten Hörraum verbannt, wo sie ihre Neigung ausleben können.

Wem das alles zuviel ist: auch die gute alte Musiktruhe ist, in veränderter Form, wieder zu haben.
Etwa von der englischen Firma Ruark, die drei verschiedene Modelle baut, allesamt mit Radioteil, CD-Spieler und Streamingoption. Beim größten Modell sind sogar vier Standbeine im 60er-Jahre Retrostil dabei.

Über die Geschichte der Tonaufzeichnung

21.
Jun.
2021

22 Mark. Soviel kostete Mitte der 70er Jahre eine Langspielplatte, und das war für einen Heranwachsenden, der im Monat um die 30 Mark Taschengeld bekam, ein ziemlicher Batzen. Der Kauf einer LP war für einen durchschnittlichen Jugendlichen zu dieser Zeit also ein Ereignis, dem in der Regel ein langer Auswahlprozess vorausgegangen war, und so verfolgte man das langsame Wachsen der eigenen Plattensammlung mit umso größerem Stolz. Und da Schallplatten empfindlich waren – schon kleine Kratzer konnten dauerhafte Knackser beim Abspielen verursachen – ging man entsprechend vorsichtig damit um. Eine LP zu verleihen kam einem Vertrauensbeweis gleich. Musik auf Cassetten aufzunehmen war keine wirkliche Alternative. Denn abgesehen davon, dass die Spulerei nervte und die Klangqualität mäßig war, waren Compactcassetten eben keine Originale, sie hatten kein Cover und besaßen keinerlei Sammelwert. Dagegen kam der Abspielvorgang einer LP einem Ritual gleich, das entsprechend zelebriert wurde: erst das vorsichtige Entnehmen der Platte mittels Spreizgriff am Rand und auf dem Label, um auf der Oberfläche keine Abdrücke zu hinterlassen, dann das Auflegen und Zentrieren der Scheibe auf dem Plattenteller, bevor sich der Tonabnehmer in die Rille senkte – das hatte etwas von einer Opfergabe auf dem Altar.

Dass dann tatsächlich Musik den Raum erfüllte, konnte man immer wieder als kleines Wunder empfinden. Und irgendwie war es das ja auch, denn noch bis vor etwa hundert Jahren konnte man Musik nur hören, wenn sie von jemandem gespielt wurde. Wer im 18. oder 19. Jahrhundert nicht in einer großen Stadt wohnte oder Zugang zur Hofkultur hatte und auch nicht selber musizierte, war auf Gastspiele reisender Musikanten angewiesen. Oper war ein exklusives Vergnügen, aber auch eine Sinfonie oder ein Kammermusikstück zu hören war den wenigsten Menschen vergönnt. Für die meisten spielte sich, vom sonntäglichen Gottesdienst abgesehen, das Leben weitgehend ohne Musik ab. Dafür dürfte deren Wirkung umso größer gewesen sein. Johann Wolfgang von Goethe beschreibt in einem Brief an Carl Friedrich Zelter im August 1823, was ein Konzert der Sängerin Anna Milder-Hauptmann in ihm auslöste: „Nun aber doch das eigentlich Wunderbare! Die ungeheure Gewalt der Musik auf mich in diesen Tagen! […] Zu einiger Erklärung sag ich mir: du hast seit zwei Jahren und länger gar keine Musik gehört.“

Jahrelang keine Musik. Wir Dauerbeschallten können uns das nicht mehr vorstellen, ebenso wenig, wie wir die Sensation nachvollziehen können, die die Erfindung der Tonaufzeichnung für die Menschen bedeutete. Es war am 18. Juli 1877, als der Amerikaner Thomas Alva Edison „Hello!“ in eine mit einer Nadelspitze versehene Membran rief und diese gleichzeitig über einen mit Paraffin überzogenen Papierstreifen zog. Als er die Nadel danach erneut über den Papierstreifen bewegte, konnte er leise das zuvor Gesprochene vernehmen. Bis zur Entwicklung von Apparaten, mittels derer man Musik hören konnte, dauerte es zwar noch einige Jahre, aber in den 1920er Jahren waren die sogenannten Grammophone so weit ausgereift, dass man damit auf ihnen sogar Opern und Orchestermusik abspielen konnte. Thomas Mann, der ein großer Fan des Grammophons war – um die 300 Schellackplatten soll er besessen haben – hat dem Apparat in seinem Roman “Der Zauberberg” gar ein eigenes Kapitel mit dem Titel “Fülle des Wohllauts” gewidmet. Darin ist der Protagonist Hans Castorp fasziniert von dem neu angeschafften Gerät, unter anderem hört er Arien aus “Aida” und “Carmen”. Allerdings, dies war das große Manko der Schellackplatte, durften die Stücke nicht länger als drei bis vier Minuten sein. Längere Werke mussten auf mehrere Platten verteilt und zu einem sogenannten “Album” zusammengestellt werden – ein Begriff, der dann auch auf die in den 1950er Jahren eingeführte Vinylplatte übertragen wurde, die mit gut 20 Minuten Spielzeit pro Seite ein ganzes Schellackplattenalbum ersetzen konnte.

Die Erfindung der Langspielplatte, die sich mit 33 statt wie bisher mit 78 Umdrehungen pro Minute bewegte, kam einer Revolution gleich. Endlich war es möglich, ganze Sinfoniesätze am Stück zu hören, Jazzmusiker konnten ihre Soli auch auf Tonträgern in der gewünschten Länge entwickeln. Im Bereich der Pop- und Rockmusik beeinflusste die Spielzeit einer Langspielplattenseite den Prozess der Komposition, vor allem Artrockbands wie Genesis oder Yes orientierten sich in ihren Stücken an dem 20-Minuten-Limit. Bei Alben, die aus kürzeren Tracks zusammensetzt waren, galt es, die Dramaturgie im Blick zu haben: Das Weiße Album der Beatles oder auch Pink Floyds “The Dark Side of the Moon” sind Gesamtkunstwerke unter den Bedingungen des LP-Formats. Wurde bei der Produktion von Schellackplatten die Musik noch direkt und ohne Korrekturmöglichkeit direkt in die Matrize geschnitten, so bildeten bei Stereolangspielplatten in der Regel Tonbänder das Ausgangsmaterial. Die Schnitttechnik ermöglichte es dabei, Teile eines Musikstücks bei der Aufnahme so oft zu wiederholen, bis diese fehlerlos vorlagen und am Ende das komplette Werk aus vielen kleinen Schnipseln zusammenzusetzen. Ein Patchwork – das man aber, sofern der Tonmeister sein Handwerk versteht, beim Hören nicht als solches wahrnimmt. Diese Methode hatte aber einen Nebeneffekt: Konnte man bei Aufnahmen der Schellackära noch hie und da Unsauberkeiten der Musiker hören, so etablierte sich vor allem bei Einspielungen klassischer Musik eine Perfektionsästhetik, die mit dazu führte, dass man von den Musikern auch im Konzert erwartete, dass sie ohne Fehler spielten.

Eine Symphonie konnte man auch mit einer Langspielplatte kaum ohne Unterbrechung hören. Meistens musste man spätestens nach dem zweiten Satz aufstehen und die Platte wenden, und so waren die Erfindung der digitalen Musikaufzeichnung und die Einführung der CD vor allem für Hörer klassischer Musik ein Segen – zumal es nun auch keine Störgeräusche mehr wie Knacksen oder Rauschen gab, die bis dahin etwa das Hören leiser Klaviermusik mitunter stark beeinträchtigen konnten. Mit der digitalen Speicherung von Musik schritt aber auch die Entmaterialisierung des Tonträgers fort, die heute im Streaming ihre Vollendung gefunden hat. Noch die mechanischen Grammophone mit den aufgesetzten Schalltrichtern hatten für sich reklamiert, eine Art Ersatzmusikinstrument zu sein: “Cremona” war der Markenname eines renommierten Herstellers, nach der italienischen Stadt, aus der Geigenbauer wie Stradivari und Guarneri stammten. Auch die sich drehende Vinylschallplatte besaß trotz elektrischer Verstärkung eine physische Präsenz. Dagegen verschwindet die CD in der Lade des Players, wird ungreifbar wie die Daten von USB-Sticks oder Festplatten.

Wenn aber nicht alles täuscht, ist auch die CD ein aussterbendes Medium. 2018 übertrafen die Umsätze mit Musikstreaming zum ersten Mal die des CD-Verkaufs. Dieser Trend dürfte sich fortsetzen. Die meisten Jugendlichen besitzen gar keinen CD-Spieler mehr, warum auch? Mit einem Smartphone kann man, ein Datennetz vorausgesetzt, zu jeder Zeit und an jedem Ort auf die Musikauswahl zugreifen, die von Streamingdiensten wie Spotify oder Qobuz angeboten wird. Damit hat sich das Musikhören weitgehend von allem materiellen Ballast emanzipiert, und vielleicht wird es ja bald möglich sein, sich einen Chip direkt ins Hörzentrum implantieren zu lassen. Immerhin hat der Klassikstreamingdienst Idagio unlängst eine App für die Apple Watch vorgestellt, mit der man Zugriff auf ein Angebot hat, das weitaus größer ist als das jedes Plattenladens. Daraus kann man sich selbst Stücke aussuchen, kuratierte Playlisten vorschlagen lassen oder gleich die “Moods”-Funktion nutzen, die Musik passend zur jeweiligen Stimmung spielt. “Erregt” oder lieber “Entspannt”? “Spritzig” oder “Melancholisch”? So wird klassische Musik zum Wohlfühlsoundtrack, zum jederzeit abrufbaren Wellnessangebot. Gleichwohl sind die Möglichkeiten, die das Streaming für ambitionierte Musikhörer bietet, enorm. Angenommen, man möchte verschiedene Einspielungen von Beethovens Streichquartett op. 132 vergleichen, so bekommt man bei Idagio binnen Sekunden 43 Aufnahmen vorgeschlagen, die man sofort abspielen kann. Dagegen ist ein analoger Konzertbesuch mit allerlei Unwägbarkeiten verbunden. Abgesehen von der Anfahrt und dem Erwerb einer Karte weiß man weder, ob die Musiker einen guten Tag haben, noch, ob der Sitznachbar unter chronischem Husten leidet. Man kann während des Konzerts auch nicht die Pausentaste drücken, um auf die Toilette zu gehen oder sich ein Glas Wein zu holen. Doch auch wenn in der Liveatmosphäre, dem Bewusstsein, etwas Unwiederholbarem beizuwohnen, für viele noch eine Qualität liegt, die keine Musikkonserve ersetzen kann, sind Auswirkungen der unbegrenzten Verfügbarkeit von Musik auf die musikalische Kultur schon erkennbar. Der Besucherschwund bei vielen klassischen Konzertreihen dürfte sich dadurch weiter verstärken. Dafür gewinnt das Event, ähnlich wie in der Popmusik, auch bei Konzerten klassischer Musik an Bedeutung, wovon dann vor allem jene Musiker profitieren, die sich griffig vermarkten lassen.

Selbst wenn es irgendwann gar keine physischen Tonträger mehr geben sollte, dürften das CD-Format wie auch der Begriff Album virtuell bestehen bleiben – einfach deshalb, weil auch Streamingdienste Formen brauchen, mit denen sich musikalische Werke listen lassen. Und auch wenn dem Streaming die Zukunft gehört, das langlebigste Medium überhaupt wird wohl die Langspielplatte sein. Genauer gesagt: zwei Langspielplatten. An Bord der 1977 gestarteten Raumsonden Voyager 1 und Voyager 2, die derzeit am Rande unseres Sonnensystems in den interstellaren Raum eintreten, befinden sind auch zwei vergoldete Kupferschallplatten mit diversen Geräuschen und Musikstücken – unter anderem von Chuck Berry, Louis Armstrong, Mozart und Beethoven. Über 500 Millionen Jahre sollen diese überdauern. Sollten sie bis dahin von Außerirdischen gefunden werden, kann man nur hoffen, dass sich diese noch im Analogzeitalter befinden: ein Plattenspieler ist nicht mit an Bord. (StZ, Brücke zur Welt)

Das Armida Quartett eröffnete die Kammermusikalische der SKS Russ

08.
Okt.
2020

Psychogramm eines Liebenden

Nach langen Monaten pandemiebedingter Entbehrung geht es nun auch mit den Konzertreihen der SKS Russ weiter. Dafür wurden für die Säle der Liederhalle coronaregelgerechte Konzepte entworfen, die, neben einer entsprechenden Platzierung der Besucher, einige Änderungen mit sich bringen. So fällt die gastronomische Versorgung derzeit ebenso aus wie die Pause – die Länge der Konzerte ist auf eine gute Stunde beschränkt -, auch auf Garderobenservice und ausführliche Programmhefte muss erst einmal verzichtet werden.
Dass dies freilich vergleichsweise verschmerzbare Einschränkungen sind, machte gleich das erste Konzert der Kammermusikreihe mit dem Armida Quartett am Mittwochabend im Mozartsaal deutlich. Seit dem Gewinn des ARD-Wettbewerbs 2012 haben sich die Berliner kontinuierlich an die Spitze gespielt, mittlerweile haben sie ein Niveau erreicht, auf dem sie keinen Vergleich zu scheuen brauchen. Was sie dabei von manchen etablierten Ensembles unterscheidet, ist die Unbedingtheit und Ausdrucksintensität ihres von keiner Routine geglätteten Musizierens. Wie beim Artemis Quartett, das zu ihren Mentoren zählt, sind bloße Gefälligkeit und sich selbst genügende Klangschönheit auch für sie keine relevanten Kategorien. Das machten sie gleich im ersten Satz von Mozarts Quartett d-Moll KV 421 klar, in dessen Durchführung sie eine dramatische Spannung evozierten, die an spätere gewichtige d-Moll-Werke Mozarts wie Don Giovanni oder das Requiem denken ließ. Auch in vermeintlich leichteren Sätzen wie dem Menuett arbeiteten sie Irritationen heraus – da glitt eine lombardische Punktierung schon mal kurz ins Bockige ab, in der zweiten Variation des Finales fächerten sie die klanglichen Texturen dann in fast schon röntgenblickartiger Transparenz auf.
Schon hier wurde deutlich, dass das Armida Quartett – sein Name bezieht sich auf eine Oper von Haydn – auch Erfahrungen mit zeitgenössischer Musik besitzt, ein Eindruck, der sich im zweitem Streichquartett „Intime Briefe“ von Leoš Janáček noch verstärkte. Das Stück ist nichts weniger als das Psychogramm eines mehr oder weniger unglücklich Liebenden: der Komponist hatte sich, schon 64-jährig, in die weitaus jüngere Kamila Stöslová verliebt und widmete ihr ein Jahr vor seinem Tod dieses Werk, das er mit den Worten „Jetzt habe ich begonnen, etwas Schönes zu schreiben. Unser Leben wird darin enthalten sein. Es soll ‚Liebesbriefe‘ heißen“ ankündigte. Größtes Glück und tiefste Verzweiflung, Ekstase und Bitternis liegen in dieser musikalischen Seelenentäußerung dicht beieinander, und die Kompromisslosigkeit, mit der das Armida Quartett diese Zustände ausleuchtete – und dabei auch vor bis zu Geräuschhaftigkeit gehender Schärfung nicht zurückschreckte – hatte etwas Bezwingendes. Sowas erlebt man eben nur live.

Das SWR Vokalensemble in den Wagenhallen

05.
Jul.
2020

Wer zieht den Joker?

 

Singen ist gefährlich in Coronazeiten. Masseninfektionen innerhalb von Chören zu Beginn der Epidemie ließen schon ahnen, was nun wissenschaftlich belegt ist: bis zu eineinhalb Meter können sich Aerosolwolken durch das Singen ausbreiten, wobei vor allem bei Konsonanten die Spucketeilchen besonders weit getragen werden. Abstandhalten lautet also das oberste Gebot, und so waren die Sänger des SWR Vokalensembles bei ihrem ersten Konzert nach der Coronapause weiträumig auf der Bühne der Wagenhallen verteilt. Drei Meter zu jeder Seite und sechs Meter nach vorne, so lauten die Vorgaben, was den Abstand von einem Sänger zum nächsten und zum Dirigenten betrifft. Chorische Literatur, so erklärte SWR-Redakteurin Dorothea Bossert, die souverän moderierend durch den Abend führte, kam unter solchen Bedingungen nicht in Frage. Also entschied man sich für solistisch besetzte Werke unterschiedlicher Epochen und Stilrichtungen, zu der die Sänger des Vokalensembles nach einer ausgeklügelten, coronaregelgerechten Dramaturgie immer wieder den Platz wechselten.
Und da das solistische Prinzip auch den Publikumsbereich dominierte – jeder der um die fünfzig Besucher hatte nur ein kleines Holzkistchen mit Platznummer neben sich stehen – wohnte dem Setting schon optisch ein theatralisches Moment inne, das von den Veranstaltern durch einen dramaturgischen Kunstgriff weiter zugespitzt wurde. Der designierte neue Chefdirigent Yuval Weinberg, der das Konzert auch leitete, hatte die Idee, das Ganze als Spiel aufzuziehen, und so erhielt jeder Besucher anstelle eines Programms einen kleinen Kartenstapel mit Symbolen auf der einen und einer Werkbezeichung auf der anderen Kartenseite. Nach jedem Programmpunkt bat Dorothea Bossert einen Besucher nach vorne, damit dieser mit der Auswahl eines Symbols auch das jeweils nächste Stück bestimmte.
Los ging es mit Requiem und Gloria aus Giacinto Scelsis „Tre canti sacri“, einem auratischen Werk des avantgardistischen Sonderlings, dessen mikrotonale Verdichtungen und dissonante Ausbrüche die Sänger mit schwer zu übertreffender Intensität in Klang setzten. Als größtmöglichen Gegensatz ließ die Zufallsdramaturgie Hans Chemin-Petits Vertonung des ringelnatzschen „Briefmark“ folgen, die vor allem in der verdoppelten Singgeschwindkeit – ein kleiner geplanter Gag, nachdem ein Besucher einen „Joker“ gezogen hatte – durchaus an die Comedian Harmonists erinnerte. Derart stilistisch vielgestaltig ging es, sängerisch auf höchstem Niveau, weiter. Mit (fast) heiterem Ligeti, sehr innigem Mendelssohn, flippig-performancehaftem Berio – und mit zwei überaus reizvollen Sätzen der amerikanischen Komponistin Caroline Shaw zum guten Schluss, die deutlich machten, dass sich Zugänglichkeit und Anspruch bei zeitgenössischer Chormusik nicht ausschließen müssen.

Die Stuttgarter Philharmoniker mit Musik von Beethoven

01.
Mrz.
2020

Verirrung der Muse

Beethoven war stinksauer. „Ach du erbärmlicher Schuft“, schrieb er dem Kritiker Gottfried Weber, „was ich scheiße ist beßer, als was du je gedacht.“ Der hatte es gewagt, sich despektierlich über Beethovens Schlachtenmusik „Wellingtons Sieg oder die Schlacht bei Vittoria“ zu äußern. Gerade wer Beethoven schätze, so Weber, müsse wünschen, dass „bald die Vergessenheit den versöhnenden Schleier über solche Verirrung seiner Muse“ werfen möge.
Vergessen wurde das Werk, mit dem Beethoven damals in weiten Kreisen populär wurde und das ihm enorme Einnahmen bescherte, zwar nicht. Aufgeführt wird es dennoch eher selten, und so war man froh, es beim Konzert der Stuttgarter Philharmoniker unter Christian Zacharias im Beethovensaal wieder einmal hören zu können. Vermutlich um seine musikalische Dürftigkeit wissend, hatte man es effektvoll inszeniert: die Trommler und Blechbläser marschierten durch die seitlichen Türen auf die Bühne ein, die Nationalflaggen Englands und Frankreich symbolisierten die sich bekämpfenden Orchestergarnisonen. Warum vor dem Orchesterpult die Europaflagge hing, erschloss sich nicht, aber dafür ging es musikalisch ordentlich zur Sache mit dem Kanonendonner der Trommeln und dem lautstark ausgetragenen Wettstreit der Hymnen, gipfelnd im finalen Sieg von „God, save the King“.
Lässt sich das Stück als ein Zugeständnis Beethovens an die napoleonkritische Stimmung im Jahr 1813 hören, so spricht aus der acht Jahre zuvor uraufgeführten 3. Sinfonie„Eroica“ noch Beethovens Bewunderung für den Imperator Bonaparte. Christian Zacharias, der zuvor Beethovens zweites Klavierkonzert in einer Doppelrolle als Solist und Dirigent mit einer wunderbar austarierten Mischung aus geistiger Durchdringung und Emotionalität gespielt hat, tat alles, um den heroischen Impetus adäquat zur Geltung zu bringen: rhythmisch spannungsvoll und detailgenau artikuliert, trat nur der Trauermarsch manchmal ein wenig auf der Stelle. Am Ende gleichwohl Begeisterung im Saal.

Die Gaechinger Cantorey mit Werken von Mozart

24.
Feb.
2020

Kalkuliert wirkungsvoll

Einen wirkungsvolleren Auftritt kann man einer Sopranistin kaum bereiten, als ihn Mozart im Kyrie seiner Messe c-Moll komponiert hat. Nach dem dramatisch-erdverbundenen Beginn weitet sich der Klangraum nach oben in ein sphärenhaftes Es-Dur, eine absteigende Violinlinie leitet den Einsatz der Solostimme ein, die sich hernach über einer schlichten Streicherbegleitung strahlend exponieren darf. Ein Gänsehautmoment – sofern alles gutgeht. Und das tat es am Sonntagabend beim Konzert der Gaechinger Cantorey unter Hans-Christoph Rademann, wo die famose Sopranistin Sarah Wegener (nicht nur) diesen Satz mit ihrem golden schimmernden Sopran adelte.
Mozart freilich hat diese Stelle vermutlich nicht ohne Kalkül derart wirkungsvoll gestaltet. Denn bei der Uraufführung der Messe in der Salzburger Kirche St. Peter war es seine frisch angetraute Gattin Konstanze, die diesen Sopranpart sang – und sich damit möglicherweise zum ersten Mal überhaupt Mozarts Familie einschließlich Vater Leopold zeigte, der sich lange Zeit gegen die Ehe mit Konstanze gesträubt hatte. Erst am Tag nach der Hochzeit war die Einwilligung des Vaters eingetroffen. Mozart zeigte sich erleichtert. „Und ich wette“, schrieb er an Leopold, „Sie werden sich meines Glückes erfreuen, wenn Sie sie werden kennengelernt haben“. Ob Konstanzes Auftritt die gewünschte Wirkung hatte, ist ungewiss. Mozarts Schwester Nannerl, die ebenfalls wenig von ihrer Schwägerin hielt, bleibt darüber in ihren Briefen einsilbig.
Und wenn fraglich ist, ob Mozart komplexe Fugen wie das „Cum sancto spirito“ auch wegen Konstanzes Fugenbegeisterung komponiert hat – derart rhythmisch beweglich und durchhörbar wie nun im Beethovensaal wurde das damals mit größter Wahrscheinlichkeit nicht gesungen. Die Vertrautheit von Rademann und der Gaechinger Cantorey mit historischer Aufführungspraxis kam bei diesem, von barocken Elementen stark geprägten Werk großartig zur Geltung. Und da man mit Ulrike Mayer, die kurzfristig für die erkrankte Sophie Harmsen eingesprungen war, nebst den beiden wenig beschäftigten, gleichwohl tadellos singenden Herren (Patrick Grahl und Kresimir Strazanac) einen ebenso geschmeidig-koloraturenversierten zweiten Sopran zur Verfügung hatte, geriet diese Aufführung insgesamt glanzvoll – ja, referenzverdächtig.
Auf ähnlichem Niveau nach der Pause Mozarts „Jupiter“-Sinfonie: tänzerisch, schwungvoll, elastisch-federnd. So soll es sein.

Das SWR Symphonieorchester mit Teodor Currentzis

14.
Feb.
2020

Der Anspruch, den Mahlers Sinfonien an Dirigenten wie an Orchester stellen, ist enorm, und – leidgeprüfte Mahlerfans wissen das – gerade im tarifregulierten Abokonzertbetrieb schwer einzulösen. In Stuttgart fällt einem Manfred Honeck ein, dem mit dem Staatsorchester einige denkwürdige Aufführungen gelangen. Beim einstigen Radio-Sinfonieorchester des SWR fanden zuletzt weder Stéphane Dénève noch davor Roger Norrington einen rechten Zugang zu Mahlers sinfonischem Welttheater. Nein, es braucht da einen Dirigenten, der wirklich brennt für die Kunst und mit diesem Feuer auch die Musikern entflammen kann. Einen wie Teodor Currentzis.
Das Credo des Chefdirigenten des SWR Symphonieorchesters lautet, grob gesagt, nicht zu trennen zwischen Kunst und Leben. Und mag auch der Habitus, mit dem er sich stilisiert und in Szene setzt, dem ein oder anderen übertrieben vorkommen – was zählt, ist, um eine alte Fußballerweisheit abzuwandeln, im Konzert. Und dort, im restlos ausverkauften Beethovensaal, ereignete sich am Donnerstagabend Bedeutendes.
Auf dem Programm stand Gustav Mahlers erste Sinfonie, und in Takt 657 des vierten Satzes istes dann soweit: die gesamte Horngruppe erhebt sich, um dem Schlussteil mit der Choralapotheose den größtmöglichen Nachdruck zu verleihen – laut Mahlers Partituranweisung sollen die Hörner „Alles, auch die Trompeten übertönen“. Ob dabei die entsprechende Wirkung erzielt wird, hängt aber weniger von der schieren Lautstärke ab als davon, ob es dem Dirigenten gelingt, diese letzte Kulmination als Finale einer sinfonischen Entwicklung begreifbar zu machen, bei der zuvor essentielle Fragen des Menschseins verhandelt wurden. Denn selbst wenn Mahler das Programm zu dieser Sinfonie wieder zurückgezogen hatte – das Thema der Heimatlosigkeit des modernen, von der Natur und sich selbst entfremdeten Menschen, der Erlösung erst im Tod findet, kann sich durchaus rein musikalisch vermitteln. Schlüssig herausgearbeitet, ist dem triumphalen Gestus des Choralfinales dann die Tragik eingeschrieben, der blechsatte Jubel ein gebrochener, teurer: nämlich mit dem Leben bezahlter.
Und das war an diesem Abend so. Die Schläge der großen Trommel waren nicht tieffrequentes Dröhnen, sondern Zeichen einer grundsätzlichen Erschütterung der gesamten Existenz, die Posaunen und Trompeten schallten gleichsam aus dem Jenseits herüber. Nach dem Schlussakkord war man sekundenlang wie paralysiert, ehe der Jubel hereinbrach.
Die Grundlage für diese überwältigende Wirkund hatte Currentzis zuvor gelegt. Im ersten Satz, wo er mit den flirrenden, entmaterialisierten Flageoletten der Streicher den Rahmen aufspannte für den Reigen der Naturlautzitate. Dem folgten die derbe Collage aus Walzern und Ländlern im zweiten Satz und schließlich, großartig ausgespielt in seiner hybriden Doppelbödigkeit, der dritte Satz mit den vorbeiziehenden Kapellen. Aus den Gegensätzen formte Currentzis das ganze Bild: dem zu Beginn des vierten Satzes einbrechenden Inferno stellte er das bittersüße Seitenthema als Antithese in größter Zerbrechlichkeit gegenüber – und dass er dabei die Violinen zu noch größerer Zurückhaltung mahnte, während die Hörner sie schon zu übertönen begannen, mag man ihm nachsehen.
Das Thema des Übergangs vom Leben zum Tod liegt auch Richard Strauss´ fast zeitgleich entstandener Tondichtung „Tod und Verklärung“ zu Grunde. Doch wenn Mahler in seiner ersten Sinfonie die Auflösung der bis dahin gebräuchlichen sinfonischen Mittel betrieben hat, so erscheinen diese bei Strauss noch in vollem Umfang gültig: schlüssig also, dass Currentzis dieses Stück vor Mahler gesetzt hat. Und während bei Mahler der gebrochene Ton der Schlüssel zum Gelingen war, zelebrierte Currentzis bei Strauss, dramaturgisch ebenso stringent aufgebaut, die unbeschädigte Schönheit eines glanzvoll sich verströmenden, bis in feinste Verästelungen ausgehörten Orchesterklangs. Klang das SWR Symphonieorchester schon jemals so gut? Currentzis jedenfalls, das hat dieser Abend gezeigt, kann beides, Mahler und Strauss. Auf alles weitere kann man gespannt sein.

Das Gstaad Festival Orchestra mit Seong-Jin Cho

13.
Feb.
2020

Schweizer Präzisions

Es kann auch eine Bürde sein, den Warschauer Chopin-Wettbewerb gewonnen zu haben. Alle wollten nun Werke Chopins von ihm hören, so beklagte sich Seong-Jin Cho in einem Interview, nachdem er 2015 den 1. Preis beim wohl wichtigsten Klavierwettbewerb der Welt errungen hatte. Doch habe er eigentlich immer mit Vorliebe vor allem Mozart, Beethoven und Brahms gespielt. Und mit welcher Kompetenz er das tut, hat der 25-Jährige Südkoreaner – in seiner Heimat mittlerweile auf ähnliche Weise ein Star wie sein Kollege Lang Lang in China – nun auf eindrucksvolle Weise beim Meisterkonzert im Beethovensaal gezeigt.
Das fünfte gilt als Beethovens technisch anspruchsvollstes Klavierkonzert wie auch als jenes, bei dem Solo- und Orchesterpart am engsten verzahnt sind – eine Art konzertante Symphonie, getragen von einem emphatischen Gestus, wie man ihn in der Geschichte dieser Gattung bis dahin nicht gekannt hat. Gleich in der Eingangskadenz mit dem rauschenden Einstieg des Solisten kündigt sich dieser neue Tonfall an, der freilich auch von seiten des Orchesters getragen werden muss. Und das war an diesem Abend im gut gefüllten Beethovensaal in idealer Weise gegeben. Als wollten sie sich gegenseitig übertrumpfen, stürmten Cho und das vom Stuttgarter Ex-GMD Manfred Honeck geleitete Gstaad Festival Orchestra gleich im Kopfsatz los. Mal zärtlich, mal kämpferisch, aber immer leidenschaftlich warfen sie sich die motivischen Bälle zu, in der Plastizität der Darstellung war das ein schon fast theatral auftrumpfender Beethoven, der das revolutionäre Potential dieser gern als klassisch verharmlosten Musik mitreißend offenbarte.
War hier schon deutlich geworden, dass das aus Orchestermusikern und ausgewählten Studenten formierte Orchester ein gut geöltes Schweizer Präzisionsensemble ist, dann nutzte Manfred Honeck nach der Pause in Dvoráks neunter Sinfonie „Aus der Neuen Welt“ dessen Qualitäten noch extremer aus. Honeck hielt das Orchester hier an der ganz kurzen Leine, jeden Reibungsverlust unterbindend. Eine ähnlich durchgeformte, metrisch bewegliche Phrasierung hört man allenfalls gelegentlich von amerikanischen Toporchestern – insgesamt war das bezwingend und nur manchmal wirkte es ein bisschen eitel, nach dem Motto: hört her, was wir können. Am Ende Jubel und Brahms´ Ungarischer Tanz Nr. 1 als Zugabe.

 

Das Staatsorchester beim 4. Sinfoniekonzert

09.
Feb.
2020

Über den Orbit

„Einen milden Spätsommerabend“ solle man sich vorstellen als atmosphärischen Hintergrund zu Claude Debussys „Jeux“ – so der Dirigent Duncan Ward, der dann auf dem Podium noch die Handlung des Balletts umriss, für die Debussy seine wohl avancierteste Partitur geschrieben hat. Spätsommer? Nicht gerade leicht angesichts eines eher kalten Wintermorgens im – immerhin gut beheizten – Beethovensaal. Allerdings gelang es dem britischen Dirigenten zusammen mit dem bestens disponierten Staatsorchester, die amouröse Szenerie um den jungen Tennisspieler und zwei kapriziöse Mädchen allein durch musikalische Mittel derart plastisch zu schildern, dass programmatische Erläuterungen eigentlich gar nicht mehr notwendig waren.
Victor Hugos Bonmot, die Musik drücke aus, „was nicht gesagt werden kann und worüber zu schweigen unmöglich ist“, könnte durchaus als programmatische Idee für dieses 4. Sinfoniekonzert taugen, bei dem neben Debussy noch Werke von Maurice Ravel, Charles Koechlin und Edgar Varèse gespielt wurden. Während Ravels „Shéhérazade“ nach Gedichten von Tristan Klingsor sich in der Phantasmagorie einer orientalischen Welt verliert (mit einer vielfarbig-eleganten Ausführung des Sopranparts durch Rachael Wilson), richtete Koechlin in „Vers la vôute étoilée“ seinen Blick über den Orbit hinaus in die Unendlichkeit des Kosmos: eine grenzsprengende musikalische Studie, mit vagierenden Klangschichten gleich kosmischen Nebeln, die in einer finalen Kulmination wie eine Supernova explodieren, um danach als verglühende Partikel im Raum zu mäandern. Faszinierend. Und während man den Umstand bedauern kann, dass dieses Stück kaum einmal auf Konzertprogrammen zu finden ist, erscheint dasselbe Schicksal bei Edgar Varèses „Déserts“ nachvollziehbar. Denn auch wenn der 1883 geborene Pionier der elektronischen Musik damit seinem Ziel, synthetisch generierte mit natürlich erzeugten Klängen zu verschmelzen, nahe gekommen sein mag: die elektronisch erzeugte Tonspur, die damals avanciert war, kommt einem heute in ihrer Mixtur aus Geisterbahn, Walrossgrunzen und allerlei Geräuschhaftem ziemlich altmodisch – man könnte auch sagen: retro – vor. Auch trägt, daran konnten auch die rot grundierte Saalbeleuchtung und das von Nathanael Carré als Quasi-Prélude stimmungsvoll geblasene debussysche „Syrinx“ nichts ändern, das Klanggebastel kaum über 25 Minuten.

Mikhail Pletnev spielte in der Meisterpianistenreihe

07.
Feb.
2020

„Con amabilità“ schrieb Beethoven unter die Akkorde im ersten Takt seiner Sonate As-Dur op.110, was sich als „mit Liebenswürdigkeit“ übersetzen ließe. Was musikalisch genau damit gemeint ist, darüber könnte man lange nachdenken – oder man hört einfach zu, wie Mikhail Pletnev diesen Beginn spielt: unendlich sanft, mit kaum spürbarer Verzögerung setzt er im Beethovensaal diese As-Dur Akkorde wie eine zärtliche Geste. Die Verzögerung, mit der Pletnev die Phrase dann enden lässt, steht freilich nicht in den Noten, wie sich Pletnev auch sonst wenig an die Vortragsanweisungen hält, seien es nun Dynamikbezeichnungen oder Pausenzeichen – aber eben das charakterisiert das Spiel des genialischen Russen, der nun nach einigen Jahren wieder einmal zu einem Solorecital im Rahmen der Meisterpianistenreihe zu Gast war.
Dass Pletnev pianistisch zur obersten Liga zählt, ist bekannt. Einen nuancierteren Anschlag als seinen kann man sich kaum vorstellen, schier unendlich erscheint seine Palette an dynamischen Abstufungen und Klangfarben, wobei ihn weniger Brillanz, sondern mehr ein möglichst großes Spektrum dezent abgetönter Pastellfarben zu interessieren scheint. Dabei kommt ihm sein bevorzugter Flügel von Shigero Kawai entgegen. Der klingt deutlich weicher als der üblicherweise gespielte Steinway, was vor allem im Pianissimobereich berückende Klangwirkungen ermöglicht. Auf der anderen Seite verschwimmen in den raschen Sätzen der beiden Mozartsonaten KV 282 und KV 330 Pletnev manche Figurationen im Weichzeichnerklang – was möglicherweise aber genau seine Absicht ist, denn konturenscharfes, artikulatorisch differenziertes Mozartspiel auf der Basis historisch-kritischer Musizierpraxis ist Pletnevs Sache nicht. Seine Haltung ist eher die eines subjektiven Klangkünstlers, der jeden Takt auf die Goldwaage seines Empfindens legt, was dann gerade bei den beiden Beethovensonaten – neben op. 110 spielte Pletnev am Ende des Konzerts noch die letzte Sonate op. 111 – ein Füllhorn berückend gespielter Stellen ergibt. Dass er bei groß angelegten Formen wie der Fuge von op. 110 oder der Arietta-Variationenfolge von op. 111 in Gefahr läuft, die Dramaturgie aus dem Auge zu verlieren, mag dabei lässlich erscheinen. Wobei ihm möglicherweise die Musik anderer Komponisten doch eher liegt: die zweite der beiden Zugaben, Chopins Mazurka a-Moll op. 67, legte diese Vermutung nahe.