Beiträge der Kategorie ‘Essays’

Hifi und Wohnen

12.
Nov.
2021

In den 50er und 60er Jahren gehörte sie zu einer guten deutschen Wohnstube wie der Petticoat zur Damengarderobe: die Musiktruhe. Oft in dunkle Furniere gekleidet, trugen die Geräte klingende Namen wie Isabella, Sonata oder Symphonie, meist stammten sie von deutschen Traditionsfirmen wie Kuba, Graetz, Saba, Nordmende oder Grundig. Ausgestattet waren sie in der Regel mit einem Radioteil mit UKW, Lang-, Mittel- und Kurzwelle, manche hatten dazu noch einen Plattenspieler, einige sogar ein Tonbandgerät an Bord.
Verstecken ließen sich diese schrankartigen Truhen, auch Tonmöbel genannt, nicht. Allein die bis Anfang der 60er Jahre dominierende Röhrentechnik bedingte schon eine gewisse bauliche Dimension. Aber man wollte sie auch nicht verstecken, galten sie in der Wirtschaftswunderzeit doch ebenso als Symbol des gelungenen sozialen Aufstiegs wie der Opel Kapitän in der Garage. Und wie dieser waren sie teuer. Für die legendäre Musiktruhe „Königin von Saba“ der gleichnamigen Firma Saba aus Villingen im Schwarzwald etwa musste man im Jahr 1960 knapp 4.800 DM auf den Tisch legen. Zum Vergleich: ein VW Käfer kostete in der Grundausstattung 3.750.- DM. Dafür war das Monstrum, das optional sogar mit einem Fernsehgerät bestellt werden konnte, knapp zwei Meter breit und wog je nach Ausstattung bis zu 170 kg.

Heute ist eine ordentliche Musikanlage für vergleichsweise wenig Geld zu haben und lässt sich im Vergleich zu den Musiktruhen der Nachkriegszeit unauffällig in den Wohnraum integrieren. Für einen akzeptablen Klang reicht schon ein Smartphone oder Streamer, dazu kommen je nach Anzahl der zu beschallenden Räume Aktivlautsprecher, in denen schon die Elektronik einschließlich Verstärker verbaut sind. Mögen solch smarte Anlagen auch nicht als Statussymbol taugen, so vermitteln sie gleichwohl die Haltung ihrer Besitzer zu Technik und Ästhetik wie in früheren Zeiten.

Schneewittchensarg

Denn schon in den 50er Jahren gab es Zeitgenossen, die mit dem vorherrschenden, überladenen Schrankwanddesign nicht viel anfangen konnten. Für diese brachte die Firma Braun 1956 ein Gerät auf den Markt, das sich designmäßig extrem abhob von den massiven Klötzen der Konkurrenz: SK4 war die Modellbezeichnung der Radio-Plattenspieler-Kombination, die unter dem Namen „Schneewittchensarg“ Designgeschichte schrieb. Aus (hellem) Holz waren an ihm nur die seitlichen Zargen, ansonsten war das fast zierlich wirkende Gerät in dezentem Weiß gehalten. Der Clou war freilich die transparente Haube aus dem damals noch neuen Material Plexiglas, was die Assoziation an den gläsernen Sarg Schneewittchens aus dem Märchen der Brüder Grimm hervorrief. War diese Bezeichnung zunächst noch abfällig gemeint, so tat sie der Beliebtheit des Geräts keinen Abbruch. Im Gegenteil: bis zum Jahr 1968 wurde das von dem Professor an der Ulmer Hochschule für Gestaltung Hans Gugelot, dem legendären Braun-Designer Dieter Rams und dem Bauhausschüler Wilhelm Wagenfeld entworfene Gerät, das sich perfekt in den damals in stilbewussten Kreisen angesagten dänischen Möbelstil einfügte, in diversen Modifikationen produziert. Als Ikone des Industriedesigns steht der Schneewittchensarg heute auch im New Yorker Museum of Modern Art. Der Schriftsteller Günter Grass, so eine Anekdote, soll sich von seinem ersten Honorar des Bayerischen Rundfunks 1958 einen gekauft haben. In der letzten gebauten Version kostete ein Braun SK4 495.- DM, mittlerweile ist er ein begehrtes Sammlerobjekt: für ein funktionsfähiges, gut erhaltenes Exemplar werden heute 1.000 € und mehr bezahlt.

Anfang der 60er kam die stereophone Schallplatte auf den Markt, Mitte der 60er Jahre wurde dann die Hifi-Norm DIN 45 500 eingeführt, die bestimmte technische Mindeststandards für High Fidelity, also hohe Klangtreue, definierte. Stereo – das hieß nun freilich: man benötigte zwei Lautsprecher. Waren diese in Röhrenzeiten, um einen guten Wirkungsgrad zu erzielen, meist üppig dimensioniert, so ermöglichte die Entwicklung der Transistortechnik im Verstärkerbau auch den adäquaten Betrieb kleinerer, geschlossener Lautsprecher, die entsprechend ihrer Gehäuseform als „Boxen“ bezeichnet wurden und aufgrund ihrer Kompaktheit keine Grundfläche im Wohnzimmer mehr beanspruchten. Damit war der bis heute mehr oder weniger gültige Prototyp der Stereoanlage geboren: Plattenspieler, Verstärker oder Receiver, zwei Lautsprecherboxen.

Diese Konstellation stellte andere Anforderungen an die Integration in den Wohnraum. Statt einer solitären Truhe mussten nun mindestens vier Teile untergebracht werden. Definierte der Begriff „Regalbox“ auch gleich deren Aufstellungsort, so taten die bald immer häufiger angebotenen großen Standlautsprecher dagegen erst einmal genau das: herumstehen. Das heißt, man musste Plätze für sie finden, was in manchen Haushalten durchaus Konfliktpotential barg. Während etwa für den hifibegeisterten Mann die Lautsprecherkisten gar nicht groß genug sein konnten, sah manche Gattin die ästhetische Ausgewogenheit ihres Wohnzimmers in Gefahr. Ein Problem übrigens, das die Zeitläufte überdauert und sich als sogenannter WAF, „Woman Acceptance Factor“, ernsthaft als Kürzel zur Einordnung von Geräten in Hifi-Kreisen etabliert hat.

Wenn man in den 70er Jahren die Elektronik noch gerne auf Sideboards stellt oder sie im Schrank versteckte, so enwickelte sich in den 80ern ein neuer Trend: der Hifiturm. Yamaha, Marantz oder Technics waren einige der nun angesagten, häufig aus Japan kommenden Marken, die den durch wachsendes Angebot und sinkende Preise immer stärker in Fahrt kommenden Hifi-Boom befeuerten. Und was einst kompakt in einem Gehäuse war, wurde nun in verschiedene Geräte ausgelagert und gestapelt. Vorverstärker, Endstufe, Equalizer, Cassettenrecorder und obendrauf der Plattenspieler, alles in metallicbraun: so sah der Traum des Hifi-Fans in den 80ern aus.
Dieses Turmprinzip hatte lange Bestand. Meist waren die Türme hoch und breit, für jene, die es dezenter wollten, hatte der Handel auch Modelle im Bonsaiformat im Angebot, oft im Verbund mit ebenso kleinen Lautsprechern. In einigen Haushalten sind diese Relikte der Hifi-Historie bis heute in Betrieb. Warum auch nicht? Klanglich sind diese Geräte für die Bedürfnisse der meisten Hörer ausreichend, dazu hat man mit CD-Spieler und Radioteil Zugriff auf die meistgenutzen Quellen. Und an ihre Anwesenheit im Wohnzimmer hatte man sich im Lauf der Zeit gewöhnt.

Heute freilich besitzen viele, vor allem jüngere Menschen, gar keinen CD-Spieler mehr. Wozu auch? Durch die Angebote der Streamingportale und die Möglichkeit des Downloads von Musik auf Smartphone und digitale Speichermedien sind physische Tonträger für viele kein Thema mehr. Das gilt vor allem für die CD. Interessanterweise zieht aber der Verkauf von Plattenspielern und Vinylschallplatten seit einigen Jahren wieder deutlich an. Dafür gibt es verschiedene Gründe. Zwar bilden nach wie vor jene Freaks einen beträchtlichen Teil der Vinylfans, die seit ihrer Jugend an der Nadel und ihrer Plattensammlung hängen und mit der digitalen Musikwiedergabe nie richtig warm geworden sind. Es gibt aber auch den Trend, dass sich digital sozialisierte Menschen, die Musik hauptsächlich als quasi materieloses Phänomen via Smartphone kennengelernt haben, für die Haptik und Aura der Schallplatte begeistern. Eine schwarze Plastikscheibe mit Rillen, in denen eine Nadel kreist und aus der Musik rauskommt: Was für eine schöne Sache! Und sogar im High End Bereich, wenn es um die Ausreizung der technischen Möglichkeiten von Musikwiedergabe geht, halten manche Liebhaber die Vinylschallplatte nach wie vor für das überlegene Medium.

So wird die aktuelle Situation auf dem Hifisektor heute von verschiedenen Tendenzen bestimmt. Der Mainstream ist auf Digitalisierung bei gleichzeitiger Reduzierung des Geräteparks ausgerichtet. Je weniger Geräte und Kabelgedöns, desto besser, am besten, die Musik wird irgendwann komplett ohne Hardware in alle Räume gestreamt. Auf der anderen Seite gibt es die traditionsbewussten Analogfans, die ihre Vinylscheiben mit speziellen Plattenwaschmaschinen reinigen und sich an den bunt beleuchteten Leistungsanzeigern ihrer schweren Verstärker ergötzen. Und dazwischen sind jene, die einfach nur Musik hören möchten und dafür nehmen, was vorhanden ist.

Werfen wir zu guter Letzt aber noch einen Blick in die merkwürdige Welt des High End-Audio. Dort, wo es darum geht, das letzte Quäntchen Klang herauszuholen, herrschen andere Gesetze.
Von der elektrischen Hausinstallation bis zur akustischen Optimierung des Hörraums kommt hier jedes Glied der Wiedergabekette auf den Prüfstand, werden mittels akribischer Hörtests immer neue Verbesserungspotentiale ausgelotet. Minimalismus hat hier keinen Platz, stattdessen wird größtmögliche Ausdifferenzierung betrieben. Je mehr Geräte, desto besser. Mit Vorverstärkern, Endstufen, Laufwerken, Digitalwandlern, Masterclocks, Stromaufbereitern und audiophilen Netzwerkswitches samt den zum Teil in separate Gehäuse ausgelagerten Netzteilen der Geräte kann eine solche High End-Installation schon mal an die zehn Komponenten und mehr umfassen. Dazu kommt dann eine ebenso hoch selektierte Verkabelung, ist doch der Einfluss von Verbindungs- und Netzkabeln auf die Klangqualität der Anlage beträchtlich. Preislich ist man dabei inflationsbereinigt locker wieder bei der „Königin von Saba“, manchmal auch weit darüber: ein entsprechend exklusives Netzkabel kann allein schon ein paar Tausend Euro kosten. Davon, wie deren Wohnzimmer dann aussieht, ganz zu schweigen. Viele dieser High Ender wurden, sofern es die Wohnverhältnisse zulassen, von ihren Ehefrauen deshalb – Stichwort WAF – in einen separaten Hörraum verbannt, wo sie ihre Neigung ausleben können.

Wem das alles zuviel ist: auch die gute alte Musiktruhe ist, in veränderter Form, wieder zu haben.
Etwa von der englischen Firma Ruark, die drei verschiedene Modelle baut, allesamt mit Radioteil, CD-Spieler und Streamingoption. Beim größten Modell sind sogar vier Standbeine im 60er-Jahre Retrostil dabei.

Über die Geschichte der Tonaufzeichnung

21.
Jun.
2021

22 Mark. Soviel kostete Mitte der 70er Jahre eine Langspielplatte, und das war für einen Heranwachsenden, der im Monat um die 30 Mark Taschengeld bekam, ein ziemlicher Batzen. Der Kauf einer LP war für einen durchschnittlichen Jugendlichen zu dieser Zeit also ein Ereignis, dem in der Regel ein langer Auswahlprozess vorausgegangen war, und so verfolgte man das langsame Wachsen der eigenen Plattensammlung mit umso größerem Stolz. Und da Schallplatten empfindlich waren – schon kleine Kratzer konnten dauerhafte Knackser beim Abspielen verursachen – ging man entsprechend vorsichtig damit um. Eine LP zu verleihen kam einem Vertrauensbeweis gleich. Musik auf Cassetten aufzunehmen war keine wirkliche Alternative. Denn abgesehen davon, dass die Spulerei nervte und die Klangqualität mäßig war, waren Compactcassetten eben keine Originale, sie hatten kein Cover und besaßen keinerlei Sammelwert. Dagegen kam der Abspielvorgang einer LP einem Ritual gleich, das entsprechend zelebriert wurde: erst das vorsichtige Entnehmen der Platte mittels Spreizgriff am Rand und auf dem Label, um auf der Oberfläche keine Abdrücke zu hinterlassen, dann das Auflegen und Zentrieren der Scheibe auf dem Plattenteller, bevor sich der Tonabnehmer in die Rille senkte – das hatte etwas von einer Opfergabe auf dem Altar.

Dass dann tatsächlich Musik den Raum erfüllte, konnte man immer wieder als kleines Wunder empfinden. Und irgendwie war es das ja auch, denn noch bis vor etwa hundert Jahren konnte man Musik nur hören, wenn sie von jemandem gespielt wurde. Wer im 18. oder 19. Jahrhundert nicht in einer großen Stadt wohnte oder Zugang zur Hofkultur hatte und auch nicht selber musizierte, war auf Gastspiele reisender Musikanten angewiesen. Oper war ein exklusives Vergnügen, aber auch eine Sinfonie oder ein Kammermusikstück zu hören war den wenigsten Menschen vergönnt. Für die meisten spielte sich, vom sonntäglichen Gottesdienst abgesehen, das Leben weitgehend ohne Musik ab. Dafür dürfte deren Wirkung umso größer gewesen sein. Johann Wolfgang von Goethe beschreibt in einem Brief an Carl Friedrich Zelter im August 1823, was ein Konzert der Sängerin Anna Milder-Hauptmann in ihm auslöste: „Nun aber doch das eigentlich Wunderbare! Die ungeheure Gewalt der Musik auf mich in diesen Tagen! […] Zu einiger Erklärung sag ich mir: du hast seit zwei Jahren und länger gar keine Musik gehört.“

Jahrelang keine Musik. Wir Dauerbeschallten können uns das nicht mehr vorstellen, ebenso wenig, wie wir die Sensation nachvollziehen können, die die Erfindung der Tonaufzeichnung für die Menschen bedeutete. Es war am 18. Juli 1877, als der Amerikaner Thomas Alva Edison „Hello!“ in eine mit einer Nadelspitze versehene Membran rief und diese gleichzeitig über einen mit Paraffin überzogenen Papierstreifen zog. Als er die Nadel danach erneut über den Papierstreifen bewegte, konnte er leise das zuvor Gesprochene vernehmen. Bis zur Entwicklung von Apparaten, mittels derer man Musik hören konnte, dauerte es zwar noch einige Jahre, aber in den 1920er Jahren waren die sogenannten Grammophone so weit ausgereift, dass man damit auf ihnen sogar Opern und Orchestermusik abspielen konnte. Thomas Mann, der ein großer Fan des Grammophons war – um die 300 Schellackplatten soll er besessen haben – hat dem Apparat in seinem Roman “Der Zauberberg” gar ein eigenes Kapitel mit dem Titel “Fülle des Wohllauts” gewidmet. Darin ist der Protagonist Hans Castorp fasziniert von dem neu angeschafften Gerät, unter anderem hört er Arien aus “Aida” und “Carmen”. Allerdings, dies war das große Manko der Schellackplatte, durften die Stücke nicht länger als drei bis vier Minuten sein. Längere Werke mussten auf mehrere Platten verteilt und zu einem sogenannten “Album” zusammengestellt werden – ein Begriff, der dann auch auf die in den 1950er Jahren eingeführte Vinylplatte übertragen wurde, die mit gut 20 Minuten Spielzeit pro Seite ein ganzes Schellackplattenalbum ersetzen konnte.

Die Erfindung der Langspielplatte, die sich mit 33 statt wie bisher mit 78 Umdrehungen pro Minute bewegte, kam einer Revolution gleich. Endlich war es möglich, ganze Sinfoniesätze am Stück zu hören, Jazzmusiker konnten ihre Soli auch auf Tonträgern in der gewünschten Länge entwickeln. Im Bereich der Pop- und Rockmusik beeinflusste die Spielzeit einer Langspielplattenseite den Prozess der Komposition, vor allem Artrockbands wie Genesis oder Yes orientierten sich in ihren Stücken an dem 20-Minuten-Limit. Bei Alben, die aus kürzeren Tracks zusammensetzt waren, galt es, die Dramaturgie im Blick zu haben: Das Weiße Album der Beatles oder auch Pink Floyds “The Dark Side of the Moon” sind Gesamtkunstwerke unter den Bedingungen des LP-Formats. Wurde bei der Produktion von Schellackplatten die Musik noch direkt und ohne Korrekturmöglichkeit direkt in die Matrize geschnitten, so bildeten bei Stereolangspielplatten in der Regel Tonbänder das Ausgangsmaterial. Die Schnitttechnik ermöglichte es dabei, Teile eines Musikstücks bei der Aufnahme so oft zu wiederholen, bis diese fehlerlos vorlagen und am Ende das komplette Werk aus vielen kleinen Schnipseln zusammenzusetzen. Ein Patchwork – das man aber, sofern der Tonmeister sein Handwerk versteht, beim Hören nicht als solches wahrnimmt. Diese Methode hatte aber einen Nebeneffekt: Konnte man bei Aufnahmen der Schellackära noch hie und da Unsauberkeiten der Musiker hören, so etablierte sich vor allem bei Einspielungen klassischer Musik eine Perfektionsästhetik, die mit dazu führte, dass man von den Musikern auch im Konzert erwartete, dass sie ohne Fehler spielten.

Eine Symphonie konnte man auch mit einer Langspielplatte kaum ohne Unterbrechung hören. Meistens musste man spätestens nach dem zweiten Satz aufstehen und die Platte wenden, und so waren die Erfindung der digitalen Musikaufzeichnung und die Einführung der CD vor allem für Hörer klassischer Musik ein Segen – zumal es nun auch keine Störgeräusche mehr wie Knacksen oder Rauschen gab, die bis dahin etwa das Hören leiser Klaviermusik mitunter stark beeinträchtigen konnten. Mit der digitalen Speicherung von Musik schritt aber auch die Entmaterialisierung des Tonträgers fort, die heute im Streaming ihre Vollendung gefunden hat. Noch die mechanischen Grammophone mit den aufgesetzten Schalltrichtern hatten für sich reklamiert, eine Art Ersatzmusikinstrument zu sein: “Cremona” war der Markenname eines renommierten Herstellers, nach der italienischen Stadt, aus der Geigenbauer wie Stradivari und Guarneri stammten. Auch die sich drehende Vinylschallplatte besaß trotz elektrischer Verstärkung eine physische Präsenz. Dagegen verschwindet die CD in der Lade des Players, wird ungreifbar wie die Daten von USB-Sticks oder Festplatten.

Wenn aber nicht alles täuscht, ist auch die CD ein aussterbendes Medium. 2018 übertrafen die Umsätze mit Musikstreaming zum ersten Mal die des CD-Verkaufs. Dieser Trend dürfte sich fortsetzen. Die meisten Jugendlichen besitzen gar keinen CD-Spieler mehr, warum auch? Mit einem Smartphone kann man, ein Datennetz vorausgesetzt, zu jeder Zeit und an jedem Ort auf die Musikauswahl zugreifen, die von Streamingdiensten wie Spotify oder Qobuz angeboten wird. Damit hat sich das Musikhören weitgehend von allem materiellen Ballast emanzipiert, und vielleicht wird es ja bald möglich sein, sich einen Chip direkt ins Hörzentrum implantieren zu lassen. Immerhin hat der Klassikstreamingdienst Idagio unlängst eine App für die Apple Watch vorgestellt, mit der man Zugriff auf ein Angebot hat, das weitaus größer ist als das jedes Plattenladens. Daraus kann man sich selbst Stücke aussuchen, kuratierte Playlisten vorschlagen lassen oder gleich die “Moods”-Funktion nutzen, die Musik passend zur jeweiligen Stimmung spielt. “Erregt” oder lieber “Entspannt”? “Spritzig” oder “Melancholisch”? So wird klassische Musik zum Wohlfühlsoundtrack, zum jederzeit abrufbaren Wellnessangebot. Gleichwohl sind die Möglichkeiten, die das Streaming für ambitionierte Musikhörer bietet, enorm. Angenommen, man möchte verschiedene Einspielungen von Beethovens Streichquartett op. 132 vergleichen, so bekommt man bei Idagio binnen Sekunden 43 Aufnahmen vorgeschlagen, die man sofort abspielen kann. Dagegen ist ein analoger Konzertbesuch mit allerlei Unwägbarkeiten verbunden. Abgesehen von der Anfahrt und dem Erwerb einer Karte weiß man weder, ob die Musiker einen guten Tag haben, noch, ob der Sitznachbar unter chronischem Husten leidet. Man kann während des Konzerts auch nicht die Pausentaste drücken, um auf die Toilette zu gehen oder sich ein Glas Wein zu holen. Doch auch wenn in der Liveatmosphäre, dem Bewusstsein, etwas Unwiederholbarem beizuwohnen, für viele noch eine Qualität liegt, die keine Musikkonserve ersetzen kann, sind Auswirkungen der unbegrenzten Verfügbarkeit von Musik auf die musikalische Kultur schon erkennbar. Der Besucherschwund bei vielen klassischen Konzertreihen dürfte sich dadurch weiter verstärken. Dafür gewinnt das Event, ähnlich wie in der Popmusik, auch bei Konzerten klassischer Musik an Bedeutung, wovon dann vor allem jene Musiker profitieren, die sich griffig vermarkten lassen.

Selbst wenn es irgendwann gar keine physischen Tonträger mehr geben sollte, dürften das CD-Format wie auch der Begriff Album virtuell bestehen bleiben – einfach deshalb, weil auch Streamingdienste Formen brauchen, mit denen sich musikalische Werke listen lassen. Und auch wenn dem Streaming die Zukunft gehört, das langlebigste Medium überhaupt wird wohl die Langspielplatte sein. Genauer gesagt: zwei Langspielplatten. An Bord der 1977 gestarteten Raumsonden Voyager 1 und Voyager 2, die derzeit am Rande unseres Sonnensystems in den interstellaren Raum eintreten, befinden sind auch zwei vergoldete Kupferschallplatten mit diversen Geräuschen und Musikstücken – unter anderem von Chuck Berry, Louis Armstrong, Mozart und Beethoven. Über 500 Millionen Jahre sollen diese überdauern. Sollten sie bis dahin von Außerirdischen gefunden werden, kann man nur hoffen, dass sich diese noch im Analogzeitalter befinden: ein Plattenspieler ist nicht mit an Bord. (StZ, Brücke zur Welt)

Der „Tag der Musik“ – alles bestens im Musikland Deutschland?

15.
Jun.
2014

Anpfiff für Musik

Ein Tag kann mitunter lang sein, manchmal dauert er sogar ein verlängertes Wochenende: von heute bis zum Sonntag hat der Deutsche Musikrat den „Tag der Musik“ ausgerufen. Seit 2009 findet er jährlich statt, in diesem Jahr hat man ihn unter das Motto „Anpfiff für Musik“ gestellt und mit dem Beginn der Fußball-WM gekoppelt. Gefeiert wird er vor allem mitKonzerten. Allerorten trommeln die Kulturämter zusammen, was an Musikressourcen zur Verfügung steht. Opernhäuser, Orchester, Chöre, Musikschulen und Laienspielgruppen bespielen Marktplätze und Hallen, es gibt Tage der offenen Tür und Schnupperkurse, und manch einer wird vielleicht bemerken, welche musikalische Vielfalt es in Deutschland gibt.

Denn Deutschland ist ein Musikland – vielleicht ist es sogar das Musikland auf der Welt. In keinem anderen Land gibt es so viele Opernhäuser (84) und Berufsorchester (130). Über zwei Millionen Menschen singen in einem der über 60 000 Chöre, weit über eine Million, vor allem Kinder, lernen an einer der knapp 1000 deutschen Musikschulen ein Instrument. Alles bestens also? Nicht ganz. Denn der Kern der deutschen Musiklandschaft mag intakt sein, an manchen Ecken und Enden aber bröselt es.

Beispielsweise an den Musikschulen. Mehr als die Hälfte der dort beschäftigten Musiklehrer werden nicht mehr nach den Tarifen des öffentlichen Dienstes, sondern stundenweise bezahlt. 11500 Euro beträgt nach einer Erhebung der Künstlersozialkasse das durchschnittliche Einkommen eines Musikers in Deutschland. Mit der stetigen Erhöhung des Ausbildungsniveaus an den Musikhochschulen – die immer noch viel mehr Bewerber als Studienplätze haben – geht eine schleichende Prekarisierung der Absolventen einher, die so gar nicht passen will zum jährlichen Jubel über „Jugend Musiziert“-Preisträger.

Unglaublich erscheint auch, dass viele Kinder hierzulande gerade in jenem Alter, in dem sie für musikalische Prägung am empfänglichsten sind, kaum Anregungen bekommen. Musikunterricht an Grundschulen – so es überhaupt welchen gibt – wird in der Regel fachfremd erteilt. Damit sind viele Kinder auch dem Casting-Irrsinn der Musikindustrie wehrlos ausgesetzt, die ihnen einreden will, sie könnten, wenn sie nur die Stars gut genug imitierten, selber zu einem werden. Die am besten ausgebildeten Musiklehrer findet man in Deutschland am Gymnasium – dort, wo sie auch am meisten verdienen. In Finnland geht man den umgekehrten Weg. Dort unterrichten die besten Lehrer, wo sie am meisten bewirken können: an den Grundschulen.

Von außen betrachtet ist auch die deutsche Orchesterlandschaft noch weitgehend intakt, trotz mancher Einsparungen und Fusionen. Das künstlerische Niveau wird sogar tendenziell besser, da die Bewerber für die wenigen freien Orchesterstellen immer höher qualifiziert sind. Das Problem besteht eher darin, Nachwuchs für jenes aussterbende Bildungsbürgerpublikum zu finden, das bisher den Kern der Abonnenten ausgemacht hat. Doch das wird immer schwieriger. Kinder und Jugendliche werden zunehmend mit Pop und Rock sozialisiert, und anders als im Theater, das durch einen stetigen Nachschub an attraktiven zeitgenössischen Stoffen am Puls der Zeit bleibt, ist der klassische Musikbetrieb weitgehend der Musealisierung anheim gefallen. Die Gründe dafür sind vielfältig: die vielen befremdlich erscheinenden Rituale des Konzertbetriebs spielen genauso eine Rolle wie das Versagen der totalsubventionierten zeitgenössischen E-Musik, die, den Mechanismen von Angebot und Nachfrage entledigt, Werke produziert, die kaum jemand hören will. Noch weitaus stärker leidet unter dem Mangel an attraktiven aktuellen Stücken der hoch subventionierte Opernbetrieb, der nicht zuletzt deshalb vor allem in finanzschwachen Kommunen mächtig unter Druck geraten ist.

Vielleicht besteht die größte Gefahr für die Musikkultur aber in etwas ganz anderem. Nämlich darin, dass uns allmählich die Fähigkeit verlorenzugehen droht, wirklich zuzuhören. Musikhören als eine Konzentration fordernde Tätigkeit scheint auf dem Rückzug. Es ist eine schleichende Erosion, ein beständiges Nachlassen von Aufmerksamkeit, die mit der Dauerbeschallung zu tun hat, der wir von morgens bis abends ausgesetzt sind: im Auto, im Supermarkt, im Fahrstuhl, im Fitnessstudio, sogar auf der Toilette – überall dudelt es. Für viele ist Musik eine Art Wellnessfaktor, ähnlich wie ein Duftspender oder ein Luftbefeuchter. Vielleicht sollten wir mal damit anfangen, nicht reflexhaft das Radio einzuschalten, wenn wir im Auto sitzen oder nach Hause kommen. Stattdessen das wahrnehmen, was um uns herum ist – pfeifende Vögel, brummende Autos, was auch immer. Und dann in Ruhe eine CD einlegen und wirklich zuhören. Oder, noch besser – selber musizieren. Das wär doch was. (StZ)

100 Jahre Tunisreise. Auf den Spuren von Klee, Macke und Moilliet

30.
Apr.
2014

Ein Land im Aufbruch.

Café des Nattes

Café des Nattes

„Chambres avec salles de bains“ steht auf dem blauen Schild am Eingang des „Grand Hotel de France“ im Zentrum von Tunis, darunter „Ascenseur“. Badezimmer und Aufzug, das ist für heutige Verhältnisse ein eher bescheidener Komfort. Vor hundert Jahren freilich, als der Maler August Macke hier nächtigte, waren Badezimmer in Hotels noch nicht die Regel. Heute bezahlen budgetbewusste Reisende hier grade mal 25 Euro für ein Zimmer, und man muss lange suchen, bis man überhaupt einen Hinweis auf den berühmten Gast findet, der hier im April 1914 eine Woche logierte. Schließlich wird man doch noch fündig: über einem Spiegel im Foyer hängt, ein wenig verblichen, ein Porträt von August Macke.
Doch während man in Europa Mackes ehemaliges Zimmer vermutlich längst als Luxussuite an Kulturtouristen vermieten würde, tut man sich in Tunesien noch schwer damit, die für die Kunstgeschichte so bedeutende Tunisreise der Maler August Macke, Paul Klee und Louis Moilliet entsprechend zu vermarkten.

Vielleicht hat das Land nach der Revolution von 2011 einfach andere Sorgen. Zwar scheint das Leben in der Hauptstadt Tunis wieder weitgehend normal zu sein. Die Menschen flanieren in den Straßen, in den Cafés herrscht Hochbetrieb. Doch noch immer künden auf der Place de L’Indépendance Stacheldrahtbarrieren von der Zeit des Aufstands, die mit dem Sturz des Diktators Ben Ali einen Flächenbrand in der arabischen Welt einläutete. Selbst wenn die Arbeitslosigkeit nach wie vor hoch ist, sind doch viele Tunesier zuversichtlich. Allerorten wird gebaut, auch Investoren kehren wieder zurück, es herrscht Aufbruchstimmung. Erst kürzlich hat das Parlament nach langen Diskussionen eine neue Verfassung verabschiedet, die die Gleichberechtigung von Mann und Frau und das Recht auf freie Religionsausübung festschreibt. Eine aus Experten bestehende Übergangsregierung bereitet zurzeit die Wahlen zum Parlament vor, die Ende 2014 stattfinden soll.

Vielleicht nimmt ja, wenn sich die politischen Verhältnisse stabilisiert haben, die Tourismusindustrie dann auch den kunstliebenden Individualtouristen stärker ins Visier. Denn anstatt sich als Pauschalurlauber in den Bettenburgen an den Küsten zwischen Hammamet und Djerba einzuquartieren, ist es weitaus spannender, sich mit Paul Klees Tagebuch als Reiseführer an die Fersen der drei Maler zu heften.

Knapp zwei Wochen waren die drei im April 1914, kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, in Tunesien unterwegs. Eine Reise, die vor allem das weitere Schaffen von Paul Klee nachhaltig prägen sollte, der hier entscheidende Impulse für seine abstrahierende, vom Rhythmus der Farbflächen geprägte Bildsprache fand. Das Dorf Sidi Bou Said war das erste, was er damals von seinem Dampfer aus von Tunesien sah. „Deutlich erkennbar die erste arabische Stadt. Sidi Bou Said, ein Bergrücken, worauf streng rhythmisch weiße Hausformen wachsen, die Leibhaftigkeit des Märchens, nur noch nicht greifbar…“, notiert Klee in sein Tagebuch. Kleine Gässchen schlängeln sich durch das malerische Dorf, das im 16. Jahrhundert von den Mauren erbaut wurde und sein charakteristisches weiß-blaues Farbprofil dem französischen Bankierssohn Rodolphe d’Erlanger verdankt, der es unter Denkmalschutz stellen ließ. Hier malte August Macke sein berühmtes Aquarell „Blick auf eine Moschee“ mit der Treppe, die hinaufführt zu einem schwarz-weiß eingefassten Torbogen. Der Ort sieht heute immer noch so aus wie ihn Macke vor hundert Jahren gemalt hat. Gebetet wird dort aber nicht mehr, denn dahinter verbirgt sich heute das „Café des Nattes“, wo Einheimische und Touristen Wasserpfeife rauchen und Minztee oder Mokka trinken.

Möglicherweise war Sidi Bou Said schon von den Puniern besiedelt worden, auf deren Spuren man in einer Ausgrabungsstätte auf dem gegenüber liegenden Byrsa-Hügel trifft. Von hier aus hat man einen wunderbaren Blick über den Golf von Tunis, und hier war auch das Zentrum des punischen Karthago – einst die wichtigste See- und Handelsmacht am Mittelmeer -, das 146 v. Chr. von den Römern zerstört wurde. Bei Ausgrabungen wurden unter den Ruinen der Römerstadt noch einige Fundamente der alten punischen Besiedelung freigelegt, viele Fundstücke sind auch in einem Museum auf dem Byrsa-Hügel ausgestellt.

Nachdem die Araber im Jahr 698 Karthago besiegt hatten, wurden die Ruinen der römischen Stadt jahrhundertelang als Steinbruch benutzt. Auch für Bauten in Kairouan, einer weiter im Süden gelegenen Stadt, die vor allem Paul Klee nachhaltig in seinen Bann schlug. Noch weitaus stärker als in Tunis vermittelt sich hier die Fremdheit der islamischen Kultur, spürt man eine radikale Entschleunigung. Wer in der Mittagshitze auf die Stadtmauer steigt und den Blick über die Kuppeln und Minarette schweifen lässt, während der Muezzin die Gläubigen zum Gebet ruft, fühlt sich in eine andere Welt versetzt. Selbst das Licht besitzt hier eine intensivere Farbigkeit. Für Klee, der sich lange Zeit explizit als Zeichner verstand, war der Besuch von Kairouan, immerhin die viertwichtigste Stadt des Islam, der Beginn seiner Selbstfindung als Maler: „Die Farbe hat mich. Sie hat mich für immer. Ich und die Farbe sind eins. Ich bin Maler.“ Zwar hat Klee diese berühmten Sätze erst Jahre später, quasi als literarische Rückbesinnung, in sein Tagebuch eingefügt. Dennoch künden sie von dem tiefen Eindruck, den Kairouan ihn ihm hinterlassen hat.

Selbst wenn kein Museum in Tunesien Werke von Paul Klee besitzt, so ist er doch für einige zeitgenössische tunesische Künstler von Bedeutung. Ein besonders ambitioniertes Projekt verfolgt dabei die Künstlerin Sadika, die sich auch politisch stark für die Reformbewegung engagiert. Sie gründete in unterentwickelten Regionen des Landes eine Kooperative, bei der sich Teppichknüpferinnen von der Motivik Paul Klees zu eigenen Entwürfen inspirieren lassen. Da Klee selber Elemente aus der Formensprache arabischer Teppichkunst in sein Werk aufgenommen hat, wirkt dieser Ansatz durchaus schlüssig. Und ganz egal, ob das nun Kunst oder Kunsthandwerk ist: Mehr als 150 Knüpferinnen haben durch Sadikas Initiative ein Einkommen gefunden. Dass die Bilder seiner Tunisreise hundert Jahre später Ausgangspunkt eines sozialen Projekts sein würden – das hätte sich Paul Klee wohl nicht träumen lassen.

Eine Ausstellung von Teppichen im Zentrum Paul Klee in Bern ist in Planung. (StZ)

Auf dem Weg ins musikalische Prekariat

09.
Okt.
2013

Die Zukunft der Musikschullehrer sieht düster aus

Nur wenige schaffen es an eine Musikhochschule. Eine Chance hat nur, wer schon in früher Kindheit mit dem Instrumentalspiel begonnen hat, von guten Lehrern unterrichtet wurde und nicht nur über das nötige Talent verfügt, sondern auch die Disziplin fürs tägliche Üben mitbringt. Dennoch übersteigt die Anzahl der Bewerber die der verfügbaren Studienplätze je nach Studienfach und Hochschule in der Regel um mindestens den Faktor zehn. Eine Aufnahmeprüfung ist ein Wettbewerb, bei dem man starke Nerven braucht und wo jene im Vorteil sind, die schon Erfahrung bei Musikwettbewerben wie „Jugend Musiziert“ gesammelt haben. Wer dann endlich einen Studienplatz an einer deutschen Musikhochschule bekommen hat, kann sich mit Recht als Gewinner fühlen. Zumindest für die Dauer des Studiums.

Wer sich dagegen die Berufsrealität anschaut, kommt zu einem anderen Schluss: Musiker sind zunehmend die Verlierer. Im Durchschnitt 11.500 Euro verdienen Musiker nach einer Erhebung des Deutschen Kulturrats im Jahr. Nach einer Umfrage der Gewerkschaft ver.di sind die durchschnittlichen Einkünfte von Musiklehrern sogar seit Jahren rückläufig. Ausreichende Rentenansprüche können die meisten nicht erwerben, viele werden im Alter auf staatliche Alimentierung angewiesen sein. Schon ist die Rede von einem musikalischen Prekariat.

Nun war es schon immer so, dass die Wahl eines künstlerischen Berufs mit einer gewissen Unsicherheit einherging, was den finanziellen Ertrag betrifft, vor allem, wenn man ausschließlich vom Musizieren leben möchte. Egal, ob man ein Streichquartett oder eine Rockband gründet: der Erfolg ist nicht garantiert und hängt von vielen Faktoren ab, nicht zuletzt vom Zufall.

Was ist aber mit jenen, die sich für eine Tätigkeit als Musikpädagogen entscheiden? Oder denen nur der Weg an eine Musikschule bleibt, wenn es mit einer Orchesterstelle nicht geklappt hat? Haben wir nicht bundesweit ein dichtes Netz von öffentlichen Musikschulen, die diesen hochqualifizierten Hochschulabsolventen wenigstens ein auskömmliches Leben garantieren können?

Formal ist das auch so. Die Bezahlung der Musikschullehrer ist im TVöD geregelt. Danach wird ein Musikschullehrer nach Entgeltgruppe E09 bezahlt, das ist zwei Stufen unter angestellten Grund-und Hauptschullehrern – und das nach mindestens acht Semestern Studium und einem Bachelor-, bzw. Diplomabschluss. Aber wenigstens könnte man davon leben. Könnte – denn hauptamtliche, nach TVöD bezahlte Musikschullehrer gibt es immer weniger. Von 33% im Jahr 2008 hat sich die Zahl der freien Mitarbeiter an Musikschulen in den alten Bundesländern auf heute über 50% erhöht, Tendenz steigend. In den neuen Ländern sieht es noch düsterer aus, negativer Spitzenreiter ist Berlin, wo nur noch gut 5% aller Musikschullehrer fest angestellt sind. Frei werdende Stellen sind selten, auf eine TVöD-Stelle an einer Musikschule bewerben sich nicht selten über hundert Musiklehrer.

Wenn eine Kommune nicht Mitglied im Verband der kommunalen Arbeitgeber (VKA) ist, muss sie die Musikschullehrer nicht nach dem TVöD bezahlen, sondern kann je nach Haushaltslage individuelle Tarife anbieten. Dasselbe gilt für Musikschulen, die als eingetragene Vereine aus der kommunalen Verwaltung ausgelagert sind. Diese sogenannten Haustarife garantieren zwar soziale Mindeststandards, doch liegen die Sätze mitunter weit unter den tariflichen Vereinbarungen des TVöD. Doch auch die Haustarife erscheinen nachgerade üppig im Vergleich zu den Honorarverträgen, mit denen zunehmendem Maße Musikschullehrer auch von Kommunen beschäftigt werden, die VKA-Mitglieder sind. Honorarlehrer sind quasi Selbstständige, die für eine Dienstleistung stundenweise bezahlt werden, aber dieselbe Arbeit machen wie festangestellte Lehrer. Wenn ein Schüler erkrankt und absagt, hat der Lehrer Pech gehabt. Ebenso wenn er selbst krank wird. Ansprüche auf Sozialleistungen werden in solchen Werkverträgen explizit ausgeschlossen, da diese ein abhängiges Arbeitsverhältnis nahelegen und der betroffene Lehrer in diesem Fall auf Festanstellung klagen könnte. Ein klarer Fall von Scheinselbstständigkeit also, wie er in vielen Branchen vorkommt und dort– siehe aktuell Daimler – auch zurecht kritisch diskutiert wird. Mit dem Unterschied, dass es hier nicht um profitorientierte Unternehmen geht, sondern um öffentliche Einrichtungen.

Die Kommunen fühlen sich freilich unter Druck. Das Betreiben von Musikschulen ist keine Pflichtaufgabe, sondern eine sogenannte freiwillige Leistung, manche Kommune (in Baden-Württemberg war es zuletzt Wolfschlugen) hat deshalb ihre Musikschule einfach dichtgemacht. Zwar gibt es nach dem Jugendbildungsgesetz für pädagogische Arbeit Zuschüsse vom Land, doch wurden die etwa in Baden-Württemberg von früher 20% mittlerweile auf das gesetzliche Minimum von 10% gesenkt. Im Gegenzug werden die Unterrichtsgebühren immer weiter erhöht, vom einst angedachten Finanzierungsschlüssel – je ein Drittel durch Land, Kommune und Gebühren – hat man sich klammheimlich verabschiedet. Weiteren Gegenwind bekommen die öffentlichen Musikschulen durch die private Konkurrenz. Da die Berufsbezeichnung Musiklehrer nicht geschützt ist, kann jeder, der sich dazu befähigt fühlt, Unterricht anbieten, nicht selten zu Dumpingpreisen.

Im Kontext der aktuellen Diskussion um die Musikhochschulen kann man sich fragen, welche Konsequenzen dies für die Ausbildung von Musiklehrern hat. Zwar ist die Nachfrage nach Musikunterricht gerade in städtischen Gebieten immer noch hoch, für viele Instrumente gibt es an Musikschulen Wartelisten. Doch dürfte auf Grund der demografischen Entwicklung die Zahl an Musikschülern längerfristig zurückgehen. Bleiben die Absolventenzahlen der Musikhochschulen auf dem aktuellen Niveau, dürfte das die Konkurrenzsituation weiter verschärfen. Dazu stellt der Ausbau der Ganztagesschulen das bisherige Musikschulmodell mit Nachmittagsunterricht zunehmend in Frage. Schon heute beklagen über 70% der Musikschullehrer Organisationsprobleme durch die Ganztagesschule. Das Einrichten von Instrumentalklassen an Schulen kann da keine ernsthafte Alternative sein: Cellounterricht in 20er Gruppen? Quo vadis, Musikschule? (StZ)

Über die Schönheit in der Musik

25.
Mrz.
2011

Von der Schönheit in der Musik

In der Klassikszene bestimmt zunehmend das Aussehen die Karrierechancen

Sie sind jung, sie sind erfolgreich und sie sehen gut aus. Ja, manche der aktuellen Klassikstars sehen sogar derart gut aus, dass man beim Betrachten ihrer Fotos eher an Hollywood denken würde als an Bach oder Beethoven. Am auffälligsten ist es bei den Geigerinnen, wo seit einigen Jahren ein attraktives Geigenwunderfräulein nach dem anderen die Szene betritt. Jüngstes Beispiel ist die Norwegerin Vilde Frang, die vor zwei Jahren bei dem Ludwigsburger Festspielen und unlängst auch im Festspielhaus Baden-Baden debütierte. Längst etabliert sind Schönheiten wie Julia Fischer oder Arabella Steinbacher, die auch auch als Models durchgehen könnten. Auch mit der blonden Cellistin Sol Gabetta lässt sich trefflich werben.

Doch das Phänomen ist nicht auf die Frauen beschränkt. Auch was die Nachwuchspianisten anbelangt, so sind darunter auffällig viele attraktive Exemplare: etwa die Franzosen Alexandre Tharaud, David Fray oder auch der Deutsche Martin Stadtfeld.

Wie kommt es, dass musikalische Hochbegabung anscheinend immer häufiger mit physischer Attraktivität einhergeht? Und wo bleiben jene Musiker und Musikerinnen, die körperliche Makel haben?

Wenn  nicht alles täuscht, befinden wir uns längst im Prozess eines tief greifenden Paradigmenwechsels innerhalb der klassischen Musik. Die bildete bis vor einigen Jahren noch eine Gegenwelt zum schnöden Kommerz. Statt um Glamour ging es um Wahrhaftigkeit, künstlerischen Ausdruck und authentisches Gefühl. Mit dem Schwund des Bildungsbürgertums freilich schrumpfte allmählich jene Schicht, die überhaupt in der Lage war, interpretatorische Unterschiede  einzuschätzen. Gleichzeitig wurde der musikalische Nachwuchs immer besser – die Musikhochschulen und Konservatorien stoßen heute Jahr für Jahr viel mehr technisch perfekte Hochbegabungen aus, als der Markt aufnehmen kann.

Die Auswahl für die Plattenfirmen ist also groß. Doch womit sollen sich die aufstrebenden Talente profilieren, wenn das klassische Repertoire bereits in unzähligen Aufnahmen vorliegt und kaum neues hinzukommt?  Da lag es nahe, weniger auf interpretatorische denn auf optische Distinktion zu setzen. Das passt schließlich zum Zeitgeist: Wer hört sich heute im Plattenladen (sofern es überhaupt noch einen in der Nähe gibt) verschiedene Aufnahmen eines Werks an? Da greift man lieber zu der CD mit dem schönsten Gesicht auf dem Cover.

Der Zeitpunkt, zu dem die Vermarktungsmechanismen des Pop begonnen haben, langsam in die Welt der Klassik einzusickern, lässt sich im Rückblick – zumindest in Deutschland – an dem Auftauchen von Anne-Sophie Mutter festmachen. Mit der jungen, attraktiven, von Herbert von Karajan, einem anderen Medienstar, nachhaltig protegierten Geigerin setzte die Plattenindustrie auf eine  Werbekonzept, das Image und Optik in den Vordergrund stellte. Legendär das Cover der „Vier Jahreszeiten“-CD mit der 21-jährigen Mutter als Waldnymphe, unzählig die Fotos im langen, schulterfreien Kleid. Den vorläufigen Höhepunkt von Mutters ästhetischer Stilisierung markiert ihre jüngste CD mit  Klaviertrios von Mozart. Das Cover zeigt ein madonnenhaft verklärtes, faltenlose weißes Antlitz wie aus einer Lancome-Reklame, „Mutter-Mozart“ prangt daneben in Großlettern.

So was stellt man sich gerne ins Regal.

Nun sind die meisten der Klassikjungstar tatsächlich exzellente Musiker, Julia Fischer oder Hilary Hahn zählen ohne Zweifel zu den besten Geigern unserer Zeit. Bei manchen aber kann man Zweifel anmelden. Wie bei der Pianistin Hélène Grimaud, der zarten Französin, die mit den Wölfen tanzt, pianistisch aber zu wünschen übrig lässt. Oder bei Nikolai Tokarew, einem anderen Pianojungstar, der  zwar ein cooles Image besitzt, aber nur wenige Ausdruckskategorien zu kennen scheint.

Auf der anderen Seite gibt es Musiker, die seit Jahren zur internationalen Elite zählen, aber Schwierigkeiten haben, eine gute Plattenfirma zu finden. Wie der deutsche Pianist und Supertechniker Bernd Glemser, der jahrelang seine CDs für das Billiglabel Naxos einspielte. Oder sein Kollege Michael Korstick, der seinen hoch gelobten Zyklus mit Beethovensonaten für Oehms-Classic produziert. Beide sehen eher durchschmittlich aus, spektakuläre Hobbys sind von ihnen nicht bekannt. Für BUNTE-Homestories taugen sie nicht.

Zum Glück gibt es noch einzelne Plattenfirmen wie die Münchner ECM, die sich sich in ihrer Künstlerauswahl nach wie vor kompromisslos an Qualität orientieren. Und auch, wenn die Podien immer mehr von jungen Geigenschönheiten besetzt werden: einen Großteil der Klavierabende bestreiten nach wie vor gesetzte ältere Herren und Damen. Die sechsundsechzigjährige Elisabeth Leonskaja wird vom Publikum so geliebt wie der kommerzielle Totalverweigerer Grigory Sokolow. Auch Alfred Brendel lag auf seiner Abschiedstournee vor drei Jahren das Publikum zu Füßen.

Trotzdem fragt man sich: würde der Charakterkopf Brendel, wäre er heute ein junger Pianist, noch einen Plattenvertrag bekommen? Hätte er eine Chance gegen die adretten Stadtfelds und Tharauds? Wer wird dieses grandiose kulturelle Erbe, das die klassische Musik darstellt, in Zukunft weiter pflegen? Wen wollen wir hören in den Konzertsälen? Die Besten oder die Schönsten?

Mit vielen Beispielfotos veröffentlicht im Kulturfinder-BW.