Beiträge der Kategorie ‘Kulturkritik’

Das Armida Quartett eröffnete die Kammermusikalische der SKS Russ

08.
Okt.
2020

Psychogramm eines Liebenden

Nach langen Monaten pandemiebedingter Entbehrung geht es nun auch mit den Konzertreihen der SKS Russ weiter. Dafür wurden für die Säle der Liederhalle coronaregelgerechte Konzepte entworfen, die, neben einer entsprechenden Platzierung der Besucher, einige Änderungen mit sich bringen. So fällt die gastronomische Versorgung derzeit ebenso aus wie die Pause – die Länge der Konzerte ist auf eine gute Stunde beschränkt -, auch auf Garderobenservice und ausführliche Programmhefte muss erst einmal verzichtet werden.
Dass dies freilich vergleichsweise verschmerzbare Einschränkungen sind, machte gleich das erste Konzert der Kammermusikreihe mit dem Armida Quartett am Mittwochabend im Mozartsaal deutlich. Seit dem Gewinn des ARD-Wettbewerbs 2012 haben sich die Berliner kontinuierlich an die Spitze gespielt, mittlerweile haben sie ein Niveau erreicht, auf dem sie keinen Vergleich zu scheuen brauchen. Was sie dabei von manchen etablierten Ensembles unterscheidet, ist die Unbedingtheit und Ausdrucksintensität ihres von keiner Routine geglätteten Musizierens. Wie beim Artemis Quartett, das zu ihren Mentoren zählt, sind bloße Gefälligkeit und sich selbst genügende Klangschönheit auch für sie keine relevanten Kategorien. Das machten sie gleich im ersten Satz von Mozarts Quartett d-Moll KV 421 klar, in dessen Durchführung sie eine dramatische Spannung evozierten, die an spätere gewichtige d-Moll-Werke Mozarts wie Don Giovanni oder das Requiem denken ließ. Auch in vermeintlich leichteren Sätzen wie dem Menuett arbeiteten sie Irritationen heraus – da glitt eine lombardische Punktierung schon mal kurz ins Bockige ab, in der zweiten Variation des Finales fächerten sie die klanglichen Texturen dann in fast schon röntgenblickartiger Transparenz auf.
Schon hier wurde deutlich, dass das Armida Quartett – sein Name bezieht sich auf eine Oper von Haydn – auch Erfahrungen mit zeitgenössischer Musik besitzt, ein Eindruck, der sich im zweitem Streichquartett „Intime Briefe“ von Leoš Janáček noch verstärkte. Das Stück ist nichts weniger als das Psychogramm eines mehr oder weniger unglücklich Liebenden: der Komponist hatte sich, schon 64-jährig, in die weitaus jüngere Kamila Stöslová verliebt und widmete ihr ein Jahr vor seinem Tod dieses Werk, das er mit den Worten „Jetzt habe ich begonnen, etwas Schönes zu schreiben. Unser Leben wird darin enthalten sein. Es soll ‚Liebesbriefe‘ heißen“ ankündigte. Größtes Glück und tiefste Verzweiflung, Ekstase und Bitternis liegen in dieser musikalischen Seelenentäußerung dicht beieinander, und die Kompromisslosigkeit, mit der das Armida Quartett diese Zustände ausleuchtete – und dabei auch vor bis zu Geräuschhaftigkeit gehender Schärfung nicht zurückschreckte – hatte etwas Bezwingendes. Sowas erlebt man eben nur live.

Ralf König in der Stadtbücherei Stuttgart

18.
Sep.
2020

Klare Worte

Dass ausgerechnet er einmal ins Visier der Queer-Szene kommen würde und als transphob und rassistisch abgestempelt würde, hat sich Ralf König wohl nicht träumen lassen. Doch im letzten Jahr erhielt König, der mit seinen millionenfach verkauften Schwulencomics beträchtlich zur Emanzipierung homosexueller Männer beigetragen hat, eine Nachricht des Brüsseler LGBTQI-Zentrums Rainbow House. Für diese hatte er 2015 ein Wandgemälde mit seinen typischen Knollennasenfiguren einschließlich einer rotlippigen Dragqueen und einer schwarzen Lesbe erstellt, an dem jahrelang niemand Anstoß genommen hatte. Dann aber wurde sein Bild von Rainbow-Aktivistinnen mit den Worten „transphobia“ und „racism“ besprüht – zusammen mit dem Vorwurf, die Darstellung der beiden Figuren habe „ihren Ursprung in rassistischen und kolonialistischen Bildern“ samt der Aufforderung an König, die entsprechenden Figuren seines Bilds zu übermalen.
Der hatte das vehement abgelehnt – lieber, schrieb er zurück, sollten sie gleich sein ganzes Bild entfernen. Es sei ja ihre Wand.
Doch wenn der mitterweile 60-Jährige bei seiner Lesung in der Stuttgarter Stadtbücherei – gleichzeitig die Eröffnungsveranstaltung der Stuttgarter Comic-Tage – davon erzählt, spürt man, wie sehr er mit dieser Entwicklung hadert, steht sie doch diametral dem entgegen, was einmal das Anliegen vieler war, die sich nicht der heterosexuellen Mehrheit zugehörig fühlen. Früher, so König, sei es in der Szene um Befreiung gegangen, heute würden sich manche Gruppen gegenseitig bekriegen. Aber König wäre nicht König, wenn er sich dem widerstandslos ergeben würde, im Gegenteil: er plane, so erzählt er, einen Comic, von dem sich alle möglichen Randgruppen gleichermaßen beleidigt fühlen könnten.
Angst hat König also keine. Und klare Worte waren ohnehin schon immer sein Ding, das wird während des knapp dreistündigen Abends im coronagemäß dünn besetzten Vortragssaal der Stadtbücherei deutlich. Nach dem Streit um die Mohammed-Karikaturen veröffentlichte er unter dem Titel „Dschinn Dschinn“ islamkritische Cartoons, und schon mit 19 hatte der frühere Schreinergeselle mit seinem Outing manche seiner Kollegen geschockt, als er seine Homosexualität mittels eines an die Hobelbank geheftenen Zettels öffentlich machte: „Schwul zu sein, bedarf es wenig, ich bin schwul und heiß´ Ralf König!“
Man bekommt viel zu sehen an dem Abend, der nichts weniger als eine Werkschau aus vierzig Jahren ist. Aus vielen seiner Bücher und Hefte zeigt König Ausschnitte, darunter auch Teile jenes heute vergriffenen Frühwerks, das er Anfang der 80er Jahre für Schwulenmagazine wie „Rosa Flieder“ gezeichnet hat. Über einen Laptop steuert König die Bildauswahl, die Dialoge liest er mit verstellter Stimme vor, was authentisch wirkt und die Rezeption steuert. So lachen alle gleichzeitig, und zu lachen gibt es viel, selbst wenn manche Zeichnungen auf zart besaitete Büchereibesucher verstörend wirken könnten. Letztlich werden aber auch Schwule älter. In „Herbst in der Hose“ hat sich König auch damit auseinandersetzt. Wenngleich – was ihn selber betrifft, so brauche man sich in dieser Hinsicht keine Sorgen zu machen.

Das SWR Vokalensemble in den Wagenhallen

05.
Jul.
2020

Wer zieht den Joker?

 

Singen ist gefährlich in Coronazeiten. Masseninfektionen innerhalb von Chören zu Beginn der Epidemie ließen schon ahnen, was nun wissenschaftlich belegt ist: bis zu eineinhalb Meter können sich Aerosolwolken durch das Singen ausbreiten, wobei vor allem bei Konsonanten die Spucketeilchen besonders weit getragen werden. Abstandhalten lautet also das oberste Gebot, und so waren die Sänger des SWR Vokalensembles bei ihrem ersten Konzert nach der Coronapause weiträumig auf der Bühne der Wagenhallen verteilt. Drei Meter zu jeder Seite und sechs Meter nach vorne, so lauten die Vorgaben, was den Abstand von einem Sänger zum nächsten und zum Dirigenten betrifft. Chorische Literatur, so erklärte SWR-Redakteurin Dorothea Bossert, die souverän moderierend durch den Abend führte, kam unter solchen Bedingungen nicht in Frage. Also entschied man sich für solistisch besetzte Werke unterschiedlicher Epochen und Stilrichtungen, zu der die Sänger des Vokalensembles nach einer ausgeklügelten, coronaregelgerechten Dramaturgie immer wieder den Platz wechselten.
Und da das solistische Prinzip auch den Publikumsbereich dominierte – jeder der um die fünfzig Besucher hatte nur ein kleines Holzkistchen mit Platznummer neben sich stehen – wohnte dem Setting schon optisch ein theatralisches Moment inne, das von den Veranstaltern durch einen dramaturgischen Kunstgriff weiter zugespitzt wurde. Der designierte neue Chefdirigent Yuval Weinberg, der das Konzert auch leitete, hatte die Idee, das Ganze als Spiel aufzuziehen, und so erhielt jeder Besucher anstelle eines Programms einen kleinen Kartenstapel mit Symbolen auf der einen und einer Werkbezeichung auf der anderen Kartenseite. Nach jedem Programmpunkt bat Dorothea Bossert einen Besucher nach vorne, damit dieser mit der Auswahl eines Symbols auch das jeweils nächste Stück bestimmte.
Los ging es mit Requiem und Gloria aus Giacinto Scelsis „Tre canti sacri“, einem auratischen Werk des avantgardistischen Sonderlings, dessen mikrotonale Verdichtungen und dissonante Ausbrüche die Sänger mit schwer zu übertreffender Intensität in Klang setzten. Als größtmöglichen Gegensatz ließ die Zufallsdramaturgie Hans Chemin-Petits Vertonung des ringelnatzschen „Briefmark“ folgen, die vor allem in der verdoppelten Singgeschwindkeit – ein kleiner geplanter Gag, nachdem ein Besucher einen „Joker“ gezogen hatte – durchaus an die Comedian Harmonists erinnerte. Derart stilistisch vielgestaltig ging es, sängerisch auf höchstem Niveau, weiter. Mit (fast) heiterem Ligeti, sehr innigem Mendelssohn, flippig-performancehaftem Berio – und mit zwei überaus reizvollen Sätzen der amerikanischen Komponistin Caroline Shaw zum guten Schluss, die deutlich machten, dass sich Zugänglichkeit und Anspruch bei zeitgenössischer Chormusik nicht ausschließen müssen.

Mozarts Oper „Die Zauberflöte“ auf dem Kulturwasen

28.
Jun.
2020

Iron Mozart

Gegen 19 Uhr lugt schon wieder die Sonne durch die Wolken über dem Cannstatter Wasen. Der Regen hat sich verzogen, zum Glück. Denn nicht nur können prasselnde Tropfen auf dem Autodach das Hörvergnügen empfindlich beeinträchtigen, auch die Liegestühle vor der Bühne, aufgestellt, um auch nichtmotorisierten Opernfreunden den Besuch zu ermöglichen, hätten im Niederschlagsfall deutlich an Attraktivität verloren. Mozarts „Die Zauberflöte“ist die zweite Produktion der Staatsoper Stuttgart auf dem Kulturwasen. Mit Strawinskys „Geschichte vom Soldaten“ hatte man, nach drei Monaten coronabedingter Zwangspause, Anfang Juni den ersten Versuch gestartet, im Autokinomodus Oper zu machen. Im Vergleich dazu ist diesmal der Wasen deutlich besser mit Autos gefüllt, was wohl vor allem daran liegen dürfte, dass „Die Zauberflöte“ statistisch immer noch als die beliebteste Oper überhaupt gilt.
Um diese sowohl autokino- als auch coronatauglich zu machen, waren einige Eingriffe nötig. Pausen sind auf dem Kulturwasen nicht erlaubt, und so hatte man die im Original drei Stunden dauernde Oper auf knapp die Hälfte zusammengestrichen. Das musizierende Personal wurde auf das Notwendigste reduziert: sieben Sänger, dazu ein Pianist (bravourös: Thomas Guggeis), der den Orchesterpart übernimmt und gleichzeitig die Bühne koordiniert. Auch das Bühnenbild wurde unterm Diktat der Abstandsregeln entwickelt. Gerade beim Singen werden, wie man weiß, verstärkt Aerosole freigesetzt, und so spielt die Oper in einer Art zweistöckigem Wohnheim mit nach vorne geöffneten, gegeneinander durch semitransparente Folien getrennten Zimmern. Kommunizieren können die Sänger also nur indirekt, Ortswechsel sind gar nicht möglich. Das ist ein bisschen so, als spielten die Sänger die Oper quasi-konzertant nach, was die Imaginationsfähigkeit der Zuschauer auf eine gehörige Probe stellt. Dass die Handlung im ersten Akt vom Reich der Königin der Nacht in Sarastros Palast wechselt, bekommt nur mit, wer den Opernplot kennt. Im zweiten Akt mit den Prüfungen Taminos, Paminas Selbstmordabsichten und vor allem dem schon im Original schwer verständlichen Finale mit dem unvermittelten Happy End wird es erst recht verwirrend.
Das weiß auch die Regisseurin Rebecca Bienek, die versucht hat, den in ihren Buden festsitzenden Protagonisten dafür ein möglichst scharfes Profil zu verleihen und daraus dramaturgische Funken zu schlagen. Es sind allesamt Chargen, schräge Vögel: Monostatos (Heinz Göhrig) ist hier mal kein Mohr, sondern ein Biedermann im Vertreteranzug (Kostüme: Astrid Eisenberger), Sarastro (Michael Nagl) ein blondierter Lackaffe mit Goldkettchen. Der leicht abgerissene Papageno (Johannes Kammler) passt pefekt zu seiner Papagena (Aoife Gibney). Pamina (Josefin Feiler) wurde als angepunkte Göre mit löchriger Strumpfhose ausgestattet, die die meiste Zeit auf ihrem Bett lümmelt, während sie sich mit ihrer Mutter, der hysterisch-mondänen Königin der Nacht (Beate Ritter), via Smartphone unterhält. Dass Tamino ein Prinz ist, vermittelt sich durch die Kronenmotive seiner Tapete, sein musikalischer Geschmack ist eher von der härteren Sorte: „Iron Mozart“ steht auf seinem T-Shirt. Kleine, selbstreferentielle Scherze dieser Art gibt es einige in dieser Produktion, die man angesichts der widrigen Umstände als insgesamt doch sehr gelungen bezeichnen kann. Die Kürzungen sind, wenn man von einigen Holprigkeiten im zweiten Akt absieht, geschickt gemacht, die Kameraregie – man verfolgt ja das Geschehen auf einem riesigen LED-Bildschirm neben der Bühne – ist hochprofessionell.
Doch vor allem ist da ja noch: Mozarts geniale Musik. Die bekannten Arien, von „Dies Bildnis ist bezaubernd schön“ bis zur Rachearie der Königin der Nacht, man hört sie alle an diesem Abend. Und sie werden, das vermittelt sich selbst über das Autoradio, auch überwiegend großartig gesungen, wobei dann doch Kai Kluge als Tamino zu erwähnen wäre: ein Mozarttenor der feinsten Sorte, dessen Timbre etwas an den großen Fritz Wunderlich erinnert.
Und so verfliegen die knapp 90 Minuten flugs und unterhaltsam an diesem vom Publikum am Ende minutenlang gefeierten Abend. Das Verlangen nach richtiger Oper aber wurde dann doch eher geweckt, als dass es hätte gestillt werden können.

„Die Pochers hier!“ auf dem Kulturwasen

14.
Jun.
2020

Wasendisco mit Olli

Gegen Viertel nach Neun rückt der Servicemann an, eine Autobatterie hat schlappgemacht. Zwei Stunden Radiobetrieb, das kann betagte Akkus schon mal in die Knie zwingen. 106,8 ist die UKW-Frequenz, die man einstellen muss, um auf dem Kulturwasen den Ton von der Bühne hören zu können, auf der Oliver Pocher und seine Frau Amira ihren Podcast aufzeichnen. Mit um die 1000 Autos ist der Wasen ausverkauft. Wer weiter hinten geparkt hat auf dem riesigen Areal, kann das auf einem Sofa sitzende Ehepaar Pocher praktisch nur auf dem riesigen Bildschirm neben der Bühne sehen. Bild vom Monitor, Ton über Lautsprecher – da könnte man fragen, was das Ganze eigentlich noch von einem Fernsehabend unterscheidet. Das weiß auch Pocher, der deshalb zum Warming-up mit einem E-Roller durch die Reihen kurvt und sich auf einem Autodach stehend knipsen lässt.
Seine Beliebtheit verdankt Pocher vor allem seiner Präsenz in sozialen Medien, die Zahl seiner Follower auf Instagram geht in die Millionen. Besonders beliebt sind die Clips, auf denen er Influencer- und Promibashing betreibt, und so bestreitet er auch einen Großteil dieses Abends damit, über Ex-Bacheloretten wie Yeliz Koc oder sogenannte Instragram-Muttis wie Janine Wiggert herzuziehen. Allerdings ähneln sich deren Online-Inszenierungen letztlich so sehr wie die mögliche Kritik daran, was auch Pocher auffällt: „Das ist doch immer dieselbe Kacke!“ Amira fragt sich, was „die Lebensleistung“ dieser Leute sei, die doch den ganzen Tag nichts täten als schminken und posieren. Im Gegensatz zu ihnen: „Wir machen ja noch Sendungen auf RTL“.
Die Eheleute Pocher, das merkt man, sind ein eingespieltes Team, Dispute über Geschmacksfragen („Immer musst Du was rauspicken bei meinem Outfit!“) wirken ebenso souverän inszeniert wie das gemeinsame Ablästern über Pochers Lieblingsfeind Michael Wendler. Als dann der Überraschungsgast auf die Bühne kommt, die Tänzerin und Jurorin der RTL-Show „Let´s dance“, Motsi Mabuse, redet man aus aktuellem Anlass etwas über Rassismus, bevor es zum Finale Musik aus der Konserve gibt. Die Wasendisco mit Olli startet mit „Lambada“. Motsi Mabuse schwingt die Hüften, noch batteriestarke Autos klinken sich warnblinkleuchtend mit ein. Oliver Pocher erklimmt abermals ein Dach. „Baby One more Time“ singt Britney Spears zum Abschied, das passt: am 15. August sind die Pochers wieder auf dem Kulturwasen.

Evgeni Koroliov spielt Chopin

03.
Apr.
2020

Man sollte sich Zeit nehmen für diese Platte. Am besten hört man sie am Abend, wenn alles still ist, vielleicht trinkt man ein Glas Rotwein dazu. Und am besten hört man sie auch komplett, vom ersten bis zum letzten Stück, denn nur dann erschließt sich die subtile Dramaturgie dieser Zusammenstellung chopinscher Werke, deren Atmosphäre der Titel „Feuilles nocturnes“, „Nächtliche Blätter“ trefflich widerspiegelt. Die von zwei Nocturnes zu Beginn etablierte, zauberisch somnambule Stimmung wird mal mit freundlichen Walzern, mal mit schillernd gespielten Etüden zeitweise verlassen, um dann in den rondoartig wiederkehrenden Nocturnes wieder aufgenommen zu werden. Dass ihn die Nachtseiten von Chopins Musik mehr interessieren als ihr Potential zu virtuoser Selbstdarstellung, hat ja Evgeni Koroliov schon mit der Einspielung von Chopins Mazurken gezeigt. Und auch auf dieser CD zeigt sich Koroliovs große Kunst vor allem in einer anschlagstechnischen Nuancierung, die ihn in die Lage versetzt, Chopins Werke auf eine Weise klanglich und atmosphärisch auszudifferenzieren, wie das derzeit vielleicht nur noch Grigory Sokolov gelingt.

Frédéric Chopin. Feuilles nocturnes. Evgeni Koroliov. TACET 257.

Oper online – ein Selbstversuch

22.
Mrz.
2020

Wenn die Kultur coronabedingt Pause macht, dann bleiben auch dem Opernfan nur CDs oder DVDs. Wann die Häuser wieder öffnen weiß keiner. Doch die Staatsoper Stuttgart bietet, wie viele andere Opernhäuser auch, zur Überbrückung Mitschnitte aktueller Produktionen zum Streamen an. Mozarts „Le nozze di Figaro“ machte den Anfang, seit Freitag letzter Woche nun kann man bis zum 27. März Prokofjews „Die Liebe zu drei Orangen“ streamen. Aber wie ist das, Oper online? Wie fühlt es sich an, eine Aufführung vor dem Rechner oder dem Fernseher zu erleben? Wir machen den Selbstversuch.
Dass zum analogen Opernbesuch nicht nur die Aufführung selbst, sondern auch die damit verbundenen Vorbereitungen gehören, ist das erste, was einem als digitaler Konsument bewusst wird. Viele Entscheidungen sind plötzlich obsolet geworden: Was ziehe ich an? Wann gehen wir los? Wer hat das Opernglas eingepackt? Zuhause kann man sich kleiden, wie man will. Wir stellen uns sogar ein Glas Wein neben den Rechner auf den Tisch. Bis dahin unterscheidet sich der Onlinekonsum von Hochkultur nicht groß von einem Fernsehabend. Ob das so bleibt?
Auf der Webseite der Staatsoper ist der Link zum Streamen nicht zu übersehen. „Oper trotz Corona“ steht da in großen roten Lettern, darunter ist der Startbildschirm zum Aktivieren des Youtubelinks. Die Verbindung steht schnell. Das Orchester stimmt ein, die Kamera richtet sich erst mal auf die große, reich verzierte Deckenrosette im Littmannbau. Interessant, denkt man, so genau hat man sich die eigentlich noch nie angeschaut. Perspektivenwechsel. Die Kamera schwenkt nach unten, man schaut aus der Bühnenperspektive auf die voll besetzen Ränge. Offensichtlich ist das Haus ausverkauft. Blende auf die Bühne, ein Blick wie aus der ersten Loge. Als der Dirigent kommt, blickt man von oben in den Orchestergraben. Das Bild ist etwas grisselig, aber mit dem Einstellungsbutton ändern wir die Auflösung von 720p auf 1080p – deutlich schärfer! Die Bildschirmpixel sind nun zwar verschwunden, aber nachdem sich der Bühnenvorhang gehoben hat, sind auf dem knallbunten Bühnenbild plötzlich wieder welche da. Nanu. Was ist denn da los?
Ganz einfach: der Regisseur Axel Ranisch hat sich als Setting für die skurrile Handlung um einen traurigen Prinzen, der sich nach einem Lachanfall auf die Suche nach drei Orangen macht, die sich dann als drei Prinzessinen herausstellen, ein Computerspiel im Look der achtziger Jahre ausgedacht. „Orange Desert III“ heißt das Abenteuergame, das ein Junge da spielt. Doch das gerät im Verlauf der Handlung außer Kontrolle. Reale und virtuelle Welten vermischen sich, alle Ebenen geraten durcheinander, am Ende muss der Papa am Joystick die Sache wieder unter Kontrolle bringen. Es ist eine wunderbare Inszenierung, die den artifiziellen Charakter der Oper fantasievoll auf die Spitze treibt, seit ihrer Premiere im Dezember 2018 ist sie ein Highlight im Stuttgarter Repertoire.
Die Bildmächtigkeit des Originals freilich kann der Computerbildschirm nicht ersetzen, es bleibt, vor allem in der Totalen, Oper im Bonsaiformat. Dafür sind in den Nahaufnahmen Details zu erkennen, die sogar im Parkett kaum zu sehen sind, etwa, dass in der Krone des Königs eine Flüssigkeit schwappt. Die Textverständlichkeit allerdings ist besser als im Opernhaus. Die Tonmischung hat die Sänger gegenüber dem Orchester herausgehoben, dazu kommt die lesefreundliche Einblendung der Texte am unteren Bildrand.
Was den Klang anbelangt, so muss man bei einer üblichen PC-Ausstattung mit 2 Aktivlautsprechern massive Abstriche machen. Vor allem in den Tutti – und es wird richtig laut in dieser Oper – dröhnt und klirrt es. Zwar gewöhnt man sich im Lauf der Zeit etwas daran, doch nach dem ersten Akt wechseln wir die Hardware und rufen die Seite der Staatsoper auf dem Smart-TV auf. 55 Zoll, messerscharfes OLED-Bild. Dazu schließen wir einen hochwertigen Kopfhörer an. Und selbst wenn die 1080p Auflösung hier wieder vergleichsweise grobkörnig wirkt, wird man doch sofort in das Geschehen auf Bühne hineingezogen. Keine Nebengeräusche stören mehr, ja, das digitale Surrogat gewinnt derart an Suggestionskraft, dass man sogar das Weinglas vergisst.
Eine richtige Opernaufführung, so das Resumee, kann so ein Digitalangebot nicht ersetzen. Abhängig von der technischen Ausstattung aber kann man ihr immerhin etwas nahekommen. Und einen, gerade für Schwaben wichtigen Vorteil hat die Konserve ja auf jeden Fall: sie koschded nix.

Wigald Boning im Renitenztheater

13.
Mrz.
2020

Ski Heul

Diaabend. Die älteren unter den Lesern wissen noch, was das ist, und wer einmal einen erlebt hat, dem dürfte sich dessen Atmosphäre eingebrannt haben. Das Einrastgeräusch des Magazins, wenn per – kabelgesteuerter – Fernbedienung ein neues Dia in den Lichtstrahl geschoben wurde. Das Summen der Projektorkühlung im verdunkelten Zimmer. Und natürlich die typischen Kommentare wie „Das rechts hinten ist Onkel Ebbi“, wenn wieder ein Urlaubsbild in grisseligen Farben auf der Raufaserwand erschien – sofern es nicht auf dem Kopf stand, weil Tante Hildegard es mal wieder falsch herum einsortiert hatte.
Einiges an dem Gastspiel von Wigald Boning im Renitenztheater erinnert an dieses ausgestorbene Ritual der vordigitalen Ära. „Worum geht’s hier heute abend? Sport!“ macht Boning zur Begrüßung klar, die Leidenschaft dafür habe er von „seinen Eltern in die Wiege gelegt“ bekommen. Als Beleg habe er „ein paar Bilddokumente“ dabei, doch als er diese auf die rechts oben am Bühnenhintergrund aufgebaute Leinwand projizieren will, streikt erst mal die Technik. Boning drückt vergeblich auf der Fernbedienung herum, „das ist die Coronakrise“. Ein Techniker kann helfen, und man sieht: Kinderbilder. Wigand als Baby, kopfunter an der Hand der Mutter hängend. So, feixt Boning, habe er die ersten Monate zugebracht. Dann Bilder des Knirpses im Kopfstand am Ostseestrand, in der Grundschule in Oldenburg, im Schwimmbad, beim Wandern mit Papa. Boning kommentiert das äußerst launig. Und auch wenn er mitunter vom Hölzchen aufs Stöckchen kommt, fühlt man sich gut unterhalten.
Ohne seinen Promistatus aber wären viele von Bonings biografischen Anekdoten deutlich weniger interessant. Etwa, dass sein Opa Eiergroßhändler war („er hat mit zwei Eiern angefangen und daraus ein großes Imperium gemacht“) und die Ernährung der Familie deshalb hauptsächlich aus „Knickei“, also beschädigten Eiern, bestanden habe. Irgendwann biegt Boning thematisch ab, schließlich soll sich der Abend, wie angekündigt, um Sport drehen. Er schildert seine kurze, erfolglos gebliebene Karriere als Diskuswerfer in der Schulzeit, nach der Sport einige Jahre keine Rolle spielte. Und wie sich das im Jahr 2000 auf einen Schlag geändert hat: als er im Fernsehen verfolgte, wie die zwei Jahre ältere Heike Drechsler bei der Olympiade in Sydney die Goldmedaille im Weitsprung gewann. Da, so Boning, sei es vorbei gewesen mit der Lethargie. Er begann mit Laufen. Zunächst kleine Runden um das Müllkraftwerk im heimischen Oldenburg, dann eine Stunde am Stück. Auf der Leinwand zeigt er dazu die Eintragungen in seinem Trainingstagebuch. Auch die täglich gerauchten Zigaretten sind darin vermerkt.
Richtig spannend wird der Abend, als Wigald Boning erzählt, wie sich der wachsende sportliche Ehrgeiz mit seinem Hand zu Skurrilität gepaart hat. Nach der mehrfachen erfolgreichen Bewältigung der Marathondistanz etwa kam er auf die Idee, die gut 42 Kilometer mal in Holzschuhen zu laufen. Oder die Alpen nicht mehr mit dem Fahrrad – das kann ja jeder -, sondern mit einem Tretroller zu überqueren. Ein anderes Mal joggte er 100 Kilometer im Dauerregen, wobei er sechs seiner Fußnägel einbüßte. Körperliche Strapazen, so scheint es, können ihn aber ohnehin nicht mehr schrecken. Im Gegenteil: Boning erfand neue Wettkämpfe wie den 24-Stunden-Skilanglauf „Skiheul“ – zu dem sich aber nur zwei Teilnehmer angemeldet hatten. Und selbst eine ihm ursprünglich verhasste Disziplin wie das Schwimmen trieb ihn zu kuriosen Rekordjagden an, kulminierend in der denkwürdigen Durchquerung des Bodensees, die dem Programm ihren Namen gab: „Wie ich Weltmeister im Langsamschwimmen wurde“. Von der ursprünglich avisieren Durchquerung des Ärmelkanals hat Boning abgesehen. Zunächst.

Das neue Programm „Tollhouse“ im Stuttgarter Varieté

08.
Mrz.
2020

Pas de deux mit Skelett

Das kann ja heiter werden. „Preußisches Entertainment“ kündigt der Moderator namens Hieronymus bei der Premiere des neuen Programms „Tollhouse“ im Stuttgarter Varieté an. Und das, so begreift man rasch, ist keine leere Drohung. „Haben Sie das verstanden?“ bellt er ins Publikum, wenn dessen Auffassungsgabe seiner Meinung nach mal wieder nicht schnell genug ist, der Lacher eines Besuchers wird mit „Weiß das der Heimleiter, dass Sie heute abend hier sind?“ quittiert. Wenn es so etwas wie impertinenten Charme gibt, dann beherrscht ihn dieser Herr mit dem übergroßen Zylinder jedenfalls ziemlich gut. Und dass Hieronymus´ fein dosierte Unverschämtheiten vom Publikum im Laufe des Abends mit wachsendem Vergnügen goutiert werden, hat wohl auch damit zu tun, dass sich der Zuchtmeister bei seinen Einlagen mit allerlei Spielkarten und Würfeln auch als begabter Taschenspieler erweist.
Zauberei ist eine Zutat eines typisches Varietemenus. Die anderen sind Comedy und Artistik, und gerade was letzere anbelangt bietet dieses Programm Spektakuläres. Wie der Auftritt von „The Amazing Other“, wie sich das Artistenduo aus dem Norweger Eivind Øverland und der Dänin Lalla La Cour nennt. Die kamen auf die Idee, eine Trapeznummer mit einer Wrestlingshow zu verbinden, bei der sich in beträchtlicher Höhe ein bärtiger Grobian im Wikingerlook und eine Kampfamazone abwechselnd in die Weichteile treten und sich im Duett durch die Luft schwingen.
Fliegen können, der ewige Traum. Tatsächlich besteht ein großer Teil der Anziehungskraft von Zirkus und Artistik schon immer darin, die dem Menschenkörper gesetzten Grenzen zu überschreiten und die Gesetze der Schwerkraft zumindest in der Illusion aufheben zu können. Helena Jans heißt da die muskelbepackte Lady, die sich scheinbar schwerelos mit Hilfe zweier Stoffbänder um die eigene Achse drehen kann und dabei so anmutig wirkt. Im zweiten Teil des Programms hat sie sich einen Kompagnon auf die Bühne geholt, ein klappriges Skelett namens Oscar. Nach einem Präludium auf dem Sofa schwingt sie sich mit dem Knochenmann in die Höhe und die beiden tanzen, begleitet von romantischer Musik, einen Pas de deux der Lüfte.
Ob man das nun poetisch oder kitschig findet, dürfte Geschmackssache sein. Spätestens hier zeigt sich aber ein grundsätzliches Problem, vor dem ein Regisseur wie Ralph Sun bei der Planung eines solchen Abends steht. Denn die Artisten sind ja nicht am Haus engagiert, sondern touren mit ihren Programmen um die Welt. Um den Eindruck eines bloßen Potpourris zu vermeiden gilt es also, die meist fest konzipierten Acts in einen thematischen Rahmen einzubinden. Auftretende Ecken und Kanten können gegebenfalls moderativ geglättet werden. Für „Tollhouse“ hatte Ralph Sun die Idee, die zehn Künstler als Mitglieder einer Wohngemeinschaft in ein dezent heruntergekommenes Wohnungsambiente zwischen Sofa und Küche zu stellen – was mal besser, mal weniger gut funktioniert. Wenn Hieronymus die gänzlich ironiefreie Luftnummer von Helena und Oscar mit den Worten abmoderiert, das Skelett sei ein „ehemaliger WG-Bewohner“, ohne dessen Rente „man sich das alles nicht leisten könnte“, knirscht es vernehmlich im dramaturgischen Getriebe.
Was dann aber insofern nicht nachhaltig stört, als die meisten Künstler allein für sich überzeugen. Kai Hou, der 2018 auch in der RTL-Show „Supertalent“ zu sehen war, ist ein Meister in der Disziplin des Hoop Diving: mit einem Anlauf springt der Chinese wie eine Art menschlicher Gummiball rückwärts durch einen in zwei Meter Höhe gehaltenen Reifen – und wer das nicht gesehen hat, kann es kaum glauben, zumal Hou, anders als die Hochspringer der Leichtathletik, von eher kleiner Statur ist. Man mag sich lieber nicht vorstellen, was passieren würde, wenn Hou – der auch den Guinessrekord im Rückwärtssalto hält: fünfzig in einer Minute – mal den Reifen verfehlen würde.
Da bewegt sich Taras Nadtochii, ebenfalls ein ehemaliger „Supertalent“-Kandidat, in sichereren Gefilden, wenn er die Beine derart hinterm Kopf verschränkt, dass er sich mit dem Schuhabsatz am Ohr kratzen könnte. So spektakulär das ist, Ähnliches hat man doch schon etliche Male gesehen, ebenso wie die Jonglagen mit Hüten und Keulen, die Guillermo León neben einigen durchwachsenen Comedyeinlagen zeigt. Wirklich lustig zu sein, das zeigen auch die etwas platten Auftritte von Faeble Kievman als dickem Quatschkopf, ist eben gar nicht so einfach. Am besten gelingt es an diesem insgesamt unterhaltsamen Abend dem fabelhaften Duo „Strange Comedy“. Shelly Kastner und Jason McPherson, die auch privat ein Paar sind, ironisieren dabei das klassische Duo „Artist und Assistentin“ auf so poetische wie witzige Weise, dass man aus dem Glucksen gar nicht mehr herauskommt. Das ist großes Können, gepaart mit dezentem Understatement. Die beiden würde man in jeder WG gerne als Mitbewohner haben.

Die Staatsoper Stuttgart zeigt die „Winterreise“ von Hans Zender

02.
Mrz.
2020

Nabel, Nase, Anus

Dass Tradition, wie es so schön heißt, nicht die Bewahrung der Asche, sondern die Weitergabe des Feuers sein sollte, hätte Hans Zender sicher unterschrieben. Der im letzten Jahr verstorbene Komponist, der auch als Dirigent tätig war, wusste um die Abnutzungserscheinungen, die ein Werk im Laufe seiner Rezeptionsgeschichte erfährt. Abgeschliffen durch den Konzertbetrieb wird, was einst revolutionär war, früher oder später im Kanon der sogenannten Meisterwerke eingefriedet. Gerade dem Kunstlied hat diese Domestizierung ganz besonders zugesetzt. „Zwei Herren im Frack, Steinway, ein meist sehr großer Saal“, beschrieb Hans Zender die Ausgangssituation für seine 1993 uraufgeführte „komponierte Interpretation“ von Schuberts „Winterreise“. Die hatte an der Staatsoper Stuttgart nun in einer durch Videoprojektionen des niederländischen Künstlers Aernout Mik erweiterten Aufführung Premiere.
Ein Opernhaus kann insofern für das Werk der passende Ort sein, als Zender in der Partitur festgelegt hat, dass sich einige der 25 Musiker im Raum bewegen müssen. Dadurch erhält jede Aufführung eine szenische Komponente, verstärkt noch durch den Einsatz von allerhand Perkussionsinstrumentarium samt einer veritablen Windmaschine, wie sie schon in der Barockoper verwendet wurde. Die Aufsplittung des Klaviersatzes in einen Orchestersatz bildet die Grundlage für die vielfältigen Methoden, mit denen Zender versucht hat, die ursprüngliche Brisanz des Liederzyklus nach Texten von Wilhelm Müller wieder herzustellen. Gleich im Vorspiel zum ersten Lied „Gute Nacht“ wird das Grundthema des Wanderns etabliert: zum gleichmäßigen Klopfen („wie Schritte“) der Trommel treten trockene, durch Schlagen mit dem Bogen gespielte Streicherklänge, die klirrende Winterkälte evozieren. Dann wirft die Klarinette ein Motiv in den Raum, das vom Orchester aufgenommen wird, und allmählich formt sich die Melodie des Liedthemas heraus, „Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus…“, jene berühmten Zeilen, die als Motto der „Winterreise“ gelten können. Und als dann der Tenor Matthias Klink, der sich während des Orchestervorspiels langsam von hinten genähert hat, mit diesen Worten zu singen anhebt, wird jedem sofort klar, dass hier kein üblicher Liederabend zu erwarten ist, sondern eine existenzielle Auseinandersetzung mit jener Verzweiflung ansteht, die ein Mensch angesichts einer als abweisend erfahrenen Welt empfinden kann. Die im letzten Jahr verstorbene Pianistin Dina Ugorskaja schrieb über Schubert: „Die Zeit scheint in dieser Musik manchmal ganz stehen zu bleiben. Der Schmerz, das Unerträgliche, die Abgründe und die Ausweglosigkeit überwältigen uns.“ Genau um diese Ausweglosigkeit kreisen die Lieder der „Winterreise“, denen sich Matthias Klink mit totaler körperlicher Hingabe widmet. Meilenweit entfernt von allem bloßen Schöngesang taucht er er ein in die Psyche des Wanderburschen, lässt mit seiner Stimme die Brüche und Verletzungen spüren, die der Hoffnungslose auf seinem Weg durch die Winterlandschaft erleidet und wird dabei getragen von dem von Stefan Schreiber umsichtig geleiteten Instrumentalensemble.
Das setzt Zenders Intentionen genau in Klang, wobei dessen kompositorische Überschreibung die historische Perspektive von der Romantik gleichermaßen in beide Richtungen ausweitet. Mit dem Einsatz von Akkordeon und Gitarre lässt Zender das Wirtshaus und den Tanzboden als ästhetischen Resonanzraum anklingen, doch daneben tritt kompositorisch Avanciertes. Am eindrücklichsten im letzten Lied, dem „Leiermann“, wo die Musik dem Todeswunsch des Wanderers, seiner physischen Auflösung, mit dem Verlust der metrischen und tonalen Ordnung entspricht – polytonale, clusterartige Klangbänder ziehen dem Protagonisten den Boden unter den Füßen weg. Dabei ist Zenders Werk in seiner stilistischen Vielschichtigkeit autonom: Musik und Text stehen in einer engen Beziehung, und allein die vielfältigen Verflechtungen mitzubekommen, erfordert die volle Aufmerksamkeit des Hörers. Die Etablierung einer zusätzlichen visuellen Ebene ist deshalb ein fragwürdiges Unterfangen. Wenn sie gewagt wird, erfordert sie eine tragfähige ästhetische Idee.
Der niederländische Künstler Aernout Mik, den die Staatsoper mit dern Inszenierung beauftragt hat, beschäftigt sich in seiner Arbeit vor allem mit den Auswirkungen, die das Internet und die sozialen Netzwerke auf das Selbstverständnis des modernen Menschen haben. So zeigt er neben Videosequenzen, die sich am Text festhalten – Schnee, wenn es um den Winter geht, ein Flüchtlingsheim, wenn es im Lied „Die Wetterfahne“ heißt „…sie pfiff den armen Flüchtling aus“ – vor allem Phänomene der Massenkultur: Gelbwestenproteste, Verkehrsstaus, Shopping Malls, alles getreu seiner (schwer belegbaren) Ansicht, es gehe in Zenders Werk um den „Einzelnen in der Masse“. In Müllers Texten jedenfalls geht es vor allem um Einsamkeit und Obdachlosigkeit, ein Thema, das leider für viele auch in unserer Zeit bittere Realität ist. Vielleicht hätte man ja das aufgreifen können, anstatt, wie Mik es gegen Ende der Aufführung tut, den Körper in den Fokus zu nehmen. Dessen Individualität, so Miks These, begänne sich durch das permanente Changieren zwischen realer und virtueller Welt im digitalen Raum aufzulösen, und wohl deshalb nimmt er Matthias Klink am Ende durch Kameras in den Fokus und lässt dessen Haut bis in die kleinste Falte auf die Leinwand projizieren. Das kulminiert im Lied „Die Nebensonnen“, wo man neben Klinks Nasenloch je einen – immerhin anonymen – Nabel und Anus quasi als Ersatzgestirn prangen sieht, um dann in letzteren endoskopisch einzutauchen. Fraglich nur, ob solch tiefe Einblicke auch tiefe Einsichten mit sich bringen. Viele im Publikum scheinen nicht dieser Meinung gewesen zu sein: neben den Ovationen für Matthias Klink musste das Regieteam einen Buhsturm über sich ergehen lassen, wie man ihn in Stuttgart lange nicht erlebt hat.