Beiträge der Kategorie ‘Porträts’

Yuval Weinberg ist der neue Chefdirigent des SWR Vokalensembles

26.
Okt.
2020

Keine Rollen spielen

Käsekuchen. Den, so verriet mir Cornelia Bend, die Managerin des SWR Vokalensembles, würde Yuval Weinberg schätzen, und so treffe ich mich mit dessen neuen Chefdirigenten in einem Stuttgarter Café. Seit vier Wochen ist Weinberg nun offiziell im Amt, gerade kommt er von einer Probe für sein am 20. November geplantes Antrittskonzert. Das SWR Vokalensemble, einer der weltweit besten Profichöre, hatte sich nach nur einer Probe für den 29-Jährigen als neuen Leiter ausgesprochen – auch er selbst, so erzählt Weinberg, dessen Käsekuchen gerade serviert wird, sei davon sehr überrascht gewesen. Er war damals nur für ein Probendirigat verpflichtet worden, ein vierstimmiges Stück von Heinz Holliger sollte er einstudieren. Zwar habe er sich darauf sehr gut vorbereitet, doch in der Probe selbst sei er in Gedanken vor allem bei seiner in München weilenden Freundin gewesen: die war nämlich schwanger, der Geburtstermin stand kurz bevor. „Ich hatte schon verschiedene Szenarien im Kopf was ich machen würde, wenn sie anruft“, sagt Weinberg. „Ich hatte sogar mein Handy bei der Probe angelassen, was ich sonst noch nie mache. Aber dadurch war ich auch sehr entspannt, denn ich dachte: das Wichtigste passiert ja woanders.“ Der Eindruck, den er auf die 33 Sänger des Vokalensembles gemacht hat, muss jedenfalls nachhaltig gewesen sein. Von „schockverliebt“ war gar die Rede, alle waren voll des Lobes für Weinbergs gleichzeitig zielgerichtete und freundlich-entspannte Art des Umgangs, sodass sich der Chor kollektiv für ihn als Nachfolger des nach 18 Jahren abtretenden Chefdirigenten Marcus Creed aussprach. Zwar habe er zu der Zeit auch andere Optionen gehabt. „Aber als das Angebot aus Stuttgart kam, war mir klar: das ist genau das, was ich machen möchte“.
Sein musikalischer Werdegang begann in einem Kinderchor seiner Heimatstadt Tel Aviv. Die Chorleiterin sei damals in alle Klassen gekommen und hätte gefragt, wer zum Vorsingen antreten wolle. Und da man für diese Zeit vom Unterricht befreit wurde, meldete sich der achtjährige Yuval. Der hatte bis dahin zwar schon allerlei ausprobiert – Cello, Basketball, Tischtennis, Tennis – aber nach kurzer Zeit auch wieder aufgegeben. Singen aber, das merkte er rasch, war sein Ding, und das, obwohl er ziemlich darunter litt, der einzige Junge im Kinderchor zu sein. So studierte er nach dem Abitur in Tel Aviv Gesang und Orchesterdirigieren und wechselte danach an die Musikhochschule in Berlin, um mit Jörg-Peter Weigle zu arbeiten.
Zuvor, so erzählt Weinberg, während er seinen Kräutertee probiert, habe er sich viele Hochschulen angesehen. Doch bei Weigle habe er das Gefühl gehabt: „Das ist genau das, was ich jetzt brauche. Er hat eine klare Struktur und ist sehr genau, lässt einem aber trotzdem Freiheiten.“ Allerdings war der Unterricht in Berlin wenig praxisorientiert. Nur selten hatte er die Gelegenheit, selbst einen Chor zu dirigieren, weshalb es Weinberg nach den zweieinhalb Jahren in Berlin dorthin zog, wo die Chortradition schon immer groß geschrieben wird: nach Skandinavien, genauer an die Musikakademie in Oslo, wo die bekannte Chorleiterin Grete Pedersen eine Professur hat. Und was ihm dabei, neben dem Umstand, selber mit hervorragenden Chören arbeiten zu können, vor allem gefiel, war der entspannte, lockere Umgangston. Alle, so begeistert sich Weinberg, befänden sich dort auf einer Ebene, egal ob man Professor sei oder Student, Sänger oder Dirigent. „Und das will ich eigentlich auch so. Ich möchte keine Rollen spielen, egal ob als Mensch oder Dirigent. Das hat mir die Zeit in Oslo gezeigt.“ Authentisch sein – eine Qualität, die er auch in seine Arbeit mit dem SWR Vokalensemble einbringen wird, das, wie viele Ensembles, sehr unter den aktuellen Coronabedingungen leidet. Gleichwohl kann Weinberg den Abstandsregeln zumindest ein bisschen etwas Gutes abgewinnen. Die Chormitglieder, erläutert er, hätten auf diese Weise gelernt, quasi solistisch zu singen. „Aber eben so, dass es am Ende doch zusammen klingt.“ Man muss eben positiv denken.

Der Hornist Felix Klieser

17.
Okt.
2019

Das Leben nehmen, wie es kommt

Eigentlich liest sich die Karriere von Felix Klieser wie die anderer Klassikstars. Früh, mit fünf Jahren, begann er mit dem Instrumentalunterricht, gewann rasch allerlei Preise. Mit 13 wurde er als Jungstudent an der Musikhochschule Hannover aufgenommen, spielte bald im renommierten Bundesjugendorchester. 2013, Klieser war 22, erschien sein Debutalbum, zwei Jahre später erhielt er den „ECHO KLASSIK“ als Nachwuchskünstler des Jahres. Das wäre allein schon eine tolle Leistung, die einem aber nachgerade wie ein Wunder vorkommt, wenn man bedenkt, mit welchem Handicap er gestartet ist: denn Felix Klieser wurde ohne Arme geboren. Abrachie nennt man das in der Medizin, eine selten vorkommende Laune der Natur, die das Spielen eines Instruments, auf professionellem Niveau zumal, eigentlich unmöglich macht. Dazu kam, dass in Kliesers Elternhaus nicht musiziert wurde, sodass sein bereits mit vier Jahren geäußerter Wunsch „Ich möchte Horn spielen“ zunächst auf Unverständnis stieß. Ausgerechnet Horn, dieses wegen seiner anfälligen Spieltechnik schwierigste aller Blechblasinstrumente! In der Musikerszene nennt man es nicht ohne Grund „Glücksspirale“, weshalb man an der Musikschule, an die sich Kliesers Eltern schließlich wandten, den Steppke auch zum Xylophon überreden wollte. Ohne Erfolg. Felix blieb standhaft und erhielt schließlich den ersehnten Unterricht, wobei er er lernen musste, die Ventilklappen mit dem linken Fuß zu bedienen, was ziemliche Verrenkungen erfordert. Das macht er so bis heute, doch während er als Kind das Horn noch vor sich auf den Boden stellte, baute ihm später ein Instrumentenbauer einen Ständer, an dem er es befestigen kann. Blieb ein Problem: das sogenannte „Stopfen“, das Modulieren des Tons im Schalltrichter, das Hornisten mit der rechten Hand ausführen. Doch auch dafür hat Klieser eine Lösung gefunden. Durch jahrelanges akribisches Probieren und Forschen gelang es ihm, allein durch Veränderungen der Zungenstellung und des Mundraums die entsprechenden Klangfarben zu erzeugen. Die Hartnäckigkeit hat sich ausgezahlt. Er sei kein Wunderkind gewesen, sagt Klieser, der überzeugt ist, dass Talent zwar wichtig, aber längst nicht das Entscheidende ist. „Alle großen Solisten sind hart arbeitende Menschen“.
Ein verbissener Typ ist Felix Klieser gleichwohl nicht, im Gegenteil. Seinen Erfolg sieht er als Geschenk – er habe es nie geplant, Hornsolist zu werden. Gut möglich, dass seine Behinderung sogar mit zu seiner Popularität beigetragen hat, ein Hornist ohne Arme, wann gibt es das schon. Doch gerade weil seine Karriere bisher so glatt verlaufen ist, ist Felix Klieser vorsichtig, was das Pläneschmieden anbelangt. „Als es mit Anfang 20 richtig losging, habe ich gedacht: Ich freue mich, wenn das jetzt ein paar Jahre so läuft. Jetzt mache ich es schon ein paar Jahre länger, und es funktioniert immer noch.“
Alles für seine Leidenschaft, das Hornspielen, zu tun, ansonsten das Leben aber zu nehmen, wie es eben kommt: danach lebt Klieser. Und zurzeit kommt einiges. Sein Konzertkalender ist prall gefüllt, seine in diesem Jahr erschienene CD mit Mozarts Hornkonzerten wird von der Fachpresse in höchsten Tönen gelobt. Zwei dieser Konzerte spielt Klieser heute abend mit den Festival Strings Lucerne im Beethovensaal, den Klieser für seine Akustik besonders schätzt: Man könne da als Hornist klanglich alles machen, ohne dass der Saal an Grenzen stoße.
Ansonsten zähle aber gerade Mozarts Musik für ihn zum Schwierigsten. „Musikalisch steckt da so viel drin. Ich denke dass man als Mensch sehr reifen muss, um das alles zu verstehen. Das sind keine Stücke für Kinder.“

Die Sängerin Peaches singt in der Neuproduktion von Brechts „Die Sieben Todsünden“

30.
Jan.
2019

Bad Girl des Electroclash

 

„Fuck the pain away“ – so lautet der Titel des populärsten Songs der Sängerin Peaches, die am Samstag in der Rolle der Anna in der Neuinszenierung von Brechts „Die sieben Todsünden“ am Schauspiel Stuttgart zu sehen sein wird. Sogar in einigen Fernsehserien und Filmen wurde der Song verwendet, in der Serie „South Park“ etwa, vor allem aber in der Szene in einem japanischen Stripclub in Sofia Coppolas Film „Lost in Translation“ mit Bill Murray und Scarlett Johannson. Es ist eine coole Dancefloornummer explizit sexuellem Inhalt – der aber, abgesehen vom Songtitel, noch recht harmlos anmutet im Vergleich mit dem, was die 1966 in Kanada als Merrill Beth Nisker geborene Sängerin und Performancekünstlerin später produziert hat.
Wer sich etwa „Rub“, das Video zum Titelsong von Peaches´ letztem, 2015 erschienenen Album auf Youtube anschauen möchte, muss zunächst mit einem Klick eine Art Einverständniserklärung abgeben. Der Inhalt sei „von der YouTube-Community für einige Zielgruppen als unangemessen oder beleidigend eingestuft“ worden, und allgemein „für jüngere oder sensible Zuschauer nicht geeignet“. Das kann man nachvollziehen. Der Clip lässt sich als drastisches Bekenntnis zur sexuellen Libertinage deuten, gespickt mit Orgienszenen, allerhand nackter Haut und Genitalien in Großaufnahme. Gegen Ende schwenkt zur Textzeile „Can’t talk right now / The chicks dick is in my mouth“ gar noch ein Hermaphrodit sein primäres Geschlechtsteil über der knienden Sängerin. Muss man mögen.
Vermutlich ist mit Videos wie diesem die Grenze dessen erreicht, was gerade noch nicht als Pornografie gilt. Viele der über 5000 Kommentare auf Youtube sind negativ – was auch damit zusammenhängen könnte, dass man hier Menschen beim Sex sieht, die ganz und gar nicht der Körpernorm entsprechen. Gestylte Sängerinnen wie Madonna, die ein Image als Sexqueen pflegen, wirken im Vergleich dazu fast aseptisch.
Tatsächlich sind die heterosexuellen Rollenbilder der kommerzialisierten Unterhaltungsbranche ein Graus für Peaches, die ich nach einer Probe in ihrer Garderobe im Schauspielhaus treffe. Sie wirkt ein wenig müde, eine Erkältung macht ihr noch zu schaffen, aber immerhin, die Stimme ist wieder da. Ihr wichtigstes Anliegen, sagt Peaches, sei Selbstbestimmung. „Ich möchte, dass sich die Menschen nicht danach richten, was andere erwarten.“
Das hat sie auch selbst nicht getan. „The Shit“ heißt ihre erste wilde Punkband, ab 2000 nennt sie sich dann, nach einer archetypischen afrikanischen Frauenfigur in einem Song von Nina Simone, „Peaches“ und avanciert nach ihrem Umzug nach Berlin zu einem Star des sogenannten Electroclash, einer Musikrichtung, die die rebellische Haltung des Punk mit elektronischer Musik zusammenbringt. Sie beginnt, eigene Sounds zu produzieren und ihre offensiven Liveshows, bei denen sie schon mal im rosa Latexhöschen auf die Bühne kommt, ziehen ein immer größer werdendes Publikum an. Peaches erwirbt sich ein Bad Girl-Image, tritt im Vorprogramm von Björk auf, Karl Lagerfeld macht eine Fotoserie mit ihr. Für ihr zweites Album „Fatherfucker“ geht sie gar mit Iggy Pop ins Studio.
2012 dann singt sie im Berliner Hebbel am Ufer Theater, genannt HAU, die Titelrolle in Monteverdis Oper „Orfeo“, nachdem sie dort schon zwei Jahre zuvor eine One-Woman-Version der Rockoper Jesus Christ Superstar auf die Bühne gebracht hatte. Die Kritiken zu Orfeo sind gemischt. Eleonore Büning von der FAZ lobt sie als die „mit Abstand beste, weil wahrste und herzergreifendste Opernproduktion, die in dieser Saison in der Hauptstadt zu erleben war“. Andere sind skeptischer, attestieren ihr stimmliche Beschränktheit.
Eigentlich hätte damals die Regisseurin Anna-Sophie Mahler den Orfeo in Berlin inszenieren sollen. Dazu kam es nicht, doch nun hat Mahler die Gelegenheit genützt und Peaches als Co-Regisseurin und Darstellerin für die Stuttgarter Neuproduktion von „Die sieben Todsünden“ verpflichtet. In dem Stück, einer Koproduktion von Schauspiel, Ballett und Oper, muss die Protagonistin Anna, die in Stuttgart neben Peaches von weiteren drei Darstellern verkörpert wird, durch sieben amerikanische Städte ziehen, um Geld für ein Eigenheim in Louisiana zusammenzukratzen. Dabei definiert, als Beleg von Max Webers These von der innerweltlichen Askese als Bedingung des Kapitalismus, der Drang nach Profit, was in welcher Situation als Sünde und was als Tugend gilt. Die „Todsünden“ sind Versuchungen, deren Befriedigung aufgeschoben werden muss, und für Peaches ist vor allem das patriarchalische System dafür verantwortlich. Sie nennt es „Male toxicity“ – eine vergiftete, ungesunde Form von Männlichkeit, die vor allem in den USA dominiert. „Alles wird unterdrückt“, sagt sie. „In diesem System kommt immer zuerst der Mann. So kann keine bessere Welt entstehen.“ Wie bewertet sie die sogenannten „Todsünden“ in Brechts Stück? Sie zögert ein wenig. Nun, für Faulheit müsse es Platz im Leben geben. Stolz sollte jeder in sich tragen, Zorn könne berechtigt sein, solange er nicht in Gewalt umschlage. Völlerei? Müsse manchmal sein. Und Neid, das sei in Brechts Stück Annas Neid auf diejenigen, die Sünden begehen dürften. Die einzige wirkliche Sünde, sie nennt sie „bourgeois“, ist für Peaches Habsucht – was angesichts ihrer systemkritischen Ansichten ebenso wenig verwundert wie dass sie Unzucht für ein elementares Bedürfnis hält. Frauen, sagt sie, sollten dabei nicht mehr nur Objekt, sondern Subjekt sein. Dabei gehe es gar nicht auschließlich um Sex, sondern dass sich Menschen in ihrer Haut wohlfühlten. „Ich sage niemandem: Du muss Orgien feiern“.

Portrait Kai Kluge

30.
Jan.
2018

Kai Kluge singt den Tamino in Mozarts „Die Zauberflöte“

Manchmal sind es Zufälle, die den Lebensweg bestimmen. Wer weiß, ob Kai Kluge eine professionelle Sängerlaufbahn eingeschlagen hätte, wären seine Eltern damals, als sie von Argentinien ausgewandert sind, nicht ausgerechnet in die Nähe von Calw gezogen. In dem Schwarzwaldstädtchen ist nämlich nicht nur Hermann Hesse geboren, dort sind auch die Aurelius Sängerknaben beheimatet, bei denen Kai Kluge mit sechs Jahren eingetreten ist – was wiederum kein Zufall war, trat er damit doch in die Fußstapfen seines acht Jahre älteren Bruders Daniel, der Kais großes Vorbild und schon lange Mitglied bei den Aurelius Sängerknaben war. Die sind hierarchisch straff organisiert. Nur die besten der Buben singen im Konzertchor, aus dem wiederum wenige Solisten rekrutiert werden. Die werden dann von internationalen Opernhäusern gebucht, speziell wenn es um die Besetzung der drei Knaben in Mozarts „Die Zauberflöte“ geht. Kai Kluge gehörte dazu. Und so war er schon als Schüler ziemlich viel unterwegs. Amsterdam, Edinborough, sogar nach Madrid ging einmal die Reise, wo er insgesamt sieben Wochen weilte. Ein Stimmbildner war dabei ebenso mitgereist wie ein Privatlehrer, schließlich durfte die Schule wegen des Singens nicht auf der Strecke bleiben. Bezahlt wurde der Aufwand vom Madrider Opernhaus, etwas Geld gab es für die Familie obendrein. „Die Eltern bekommen eine Pauschale für jede Aufführung,“ sagt Kluge, „die meisten legen es für die Kinder auf einem Konto an.“ Und das kann sich läppern, wenn man so viel unterwegs ist wie er. „Davon habe ich später meinen Führerschein bezahlt.“
An die achtzig Mal hat Kai Kluge den Knaben in der Zauberflöte gesungen. Mit 13, kurz vor seinem Stimmbruch, war er sogar bei der Uraufführung jener Inszenierung von Peter Konwitschny mit von der Partie, die am vergangenen Montag am Stuttgarter Opernhaus wiederaufgenommen wurde. Aber anstatt des Knaben singt der mittlerweile 28-Jährige Kai Kluge – dessen sängerisches Vorbild übrigens Fritz Wunderlich ist – darin jetzt den Tamino, eine der Hauptrollen der Oper. Für ihn geht damit ein Traum in Erfüllung. „Tamino ist eine der ersten großen Rollen, die als Ziel vor Augen hatte.“ Gelernt hat er seine Partie ziemlich rasch, was angesichts seiner Erfahrung kein Wunder ist. „Irgendwann habe ich die Oper komplett auswendig gekonnt. Alle Rollen, alle Dialoge, auch die Frauenpartien“. Konwitschnys Inszenierung mag er sehr. Dass es darin nie langweilig wird und auch der Humor nicht zu kurz kommt, das passt, findet Kai Kluge. Auch Mozart und Schikaneder seien schließlich keine Kinder von Traurigkeit gewesen.
Was auch für Kai Kluge gilt, der sich durchaus bewusst ist, dass seine Sängerkarriere bisher außergewöhnlich glatt verlaufen ist. Studium in Karlsruhe, dann ein Jahr Opernschule in Stuttgart und jetzt Ensemblemitglied. Davon können andere nur träumen. „Ich kann mich sehr glücklich schätzen“. Wobei die Zeit nach dem Stimmbruch erst mal hart war. „Man hat plötzlich eine komplett andere Stimme. Die Gesangstechnik musste ich wieder neu erlernen“.
Was die Erfahrungen aus seiner Zeit als Aurelianer anbelangt, so sind sie für Kai Kluge vor allem deshalb enorm wichtig, als der Umgang mit der Bühnensituation, anders als für viele andere junge Sänger, für ihn nie ein Problem war. Wer
schon als Knirps über hundert Mal auf einer großen Opernbühne gestanden hat, den kann später wenig schrecken.
Auch den Entschluss Profisänger zu werden hatte er noch in seiner Zeit als Sängerknabe gefasst. In Frankfurt sang er den Hirtenknaben in Puccinis „Tosca“. Danach war er sich sicher: das will er sein Leben lang machen. Seitdem ist Cavaradossi seine Traumrolle als Tenor. „Ein Mann, der sich hinstellt, vor nichts Angst hat. Es dauert noch ´ne Weile, aber irgendwann möchte ich den singen.“
Den Umstand, dass sein Bruder Daniel ebenfalls als Tenor an der Oper Stuttgart engagiert ist – seit 2010 ist er Ensemblemitglied – hält Kai Kluge für „einen Riesenzufall und ein Riesenglück“. Äußerlich sind sich beide recht ähnlich – Kai trägt die Haare etwas wuscheliger als Daniel – stimmlich hat der Ältere etwas mehr Metall und Kraft in der Stimme als Kai, der eine eher lyrische Stimmfarbe besitzt, die damit ideal für Mozart ist. Was die Rollenbesetzung anbelangt, dürften sie sich so kaum in die Quere kommen, und auch sonst hat ihr Verhältnis nicht
dadurch gelitten, dass sie nun denselben Arbeitgeber haben. Ganz leicht ist Kai Kluge die Entscheidung dennoch nicht gefallen, an dasselbe Haus wie sein Bruder zu gehen, zumal er auch ein Angebot der Karlsruher Oper hatte. Aber sein Gesangsprofessor habe ihm zugeraten. „Kai“, habe er gesagt. „Türen gehen auf und wieder zu. Wenn Du jetzt nicht durchgehst und es läuft später nicht gut, denkst Du vielleicht: Ich bin da nicht hin, weil mein Bruder da war. Und ich hab mich geopfert für ihn.“ (STZN)

Matthias Foremny wird neuer Chefdirigent des Stuttgarter Kammerorchesters

11.
Jan.
2013

Jetzt ist es offiziell: Matthias Foremny wird neuer Chefdirigent des Stuttgarter Kammerorchesters (SKO). Gestern hat sich Foremny der Presse vorgestellt, zum 1. September 2013 tritt der aus Münster in Westfalen stammende Dirigent die Nachfolge von Michael Hofstetter an, der das Orchester seit 2006 geleitet hat und am 23. Juni dieses Jahres im Stuttgarter Beethovensaal sein letztes Konzert dirigieren wird. Foremny, so betonte der Intendant des Kammerorchesters, Wolfgang Laubichler, sei der Wunschkandidat des Orchesters gewesen. Nach einer längeren internen Ausscheidung seien zwei Kandidaten übrig geblieben, der Vorstand sei schließlich dem „Wunsch des Orchesters gefolgt.“

Ausschlaggebend für die Wahl Foremnys sei vor allem dessen „inspirierende kommunikative Arbeitsweise“ gewesen, außerdem „passe die Chemie“ zwischen ihm und den Musikern. Daneben habe weitreichende programmatische Übereinstimmungen festgestellt.

Matthias Foremny und das Kammerorchester kennen sich schon seit vielen Jahren. Der 40-jährige ist regelmäßig Gastdirigent des SKO, zuletzt dirigierte er im September 2012 zwei Konzerte auf Schloss Neuschwanstein mit Werken von Mozart bis Richard Strauss. National einen Namen gemacht hat sich Foremny bisher in erster Linie als Operndirigent. Insgesamt neun Jahre war er als GMD am Mecklenburgischen Staatstheater in Schwerin angestellt (seinen Vertrag dort hat er nicht verlängert), an der Oper Leipzig ist er seit 2011 erster ständiger Gastdirigent, auch an der Hamburgischen Staatsoper und der Deutschen Oper Berlin gastiert er regelmäßig. Gleichwohl besitzt Foremny auch als Leiter von Sinfonieorchestern einige Erfahrung: unter anderem dirigierte er das Rundfunksinfonieorchester Berlin, das NDR-Sinfonieorchester, die Staatskapelle Dresden und das Finnish Radio Symphony Orchestra Helsinki. Eine mit dem Zürcher Kammerorchester eingespielte CD mit Bläserkonzerten von Amilcare Ponchielli erhielt 2012 einen Echo Klassik.

Wegen seines neuen Postens will Foremny diese Verbindungen nicht kappen, und das dürfte auch nicht nötig sein. Sein Vertrag in Stuttgart läuft zunächst über drei Jahre, insgesamt soll er ungefähr ein Drittel der rund achtzig Konzerte dirigieren, die das Orchester im Jahr spielt. Das düfte sich mit seinen anderen Verpflichtungen vereinbaren lassen. Gleichwohl, so Foremny, sei er sich der Verantwortung, was „Präsenz und Einmischung“ anbelangt, bewusst. Seine Wohnsitze, zurzeit in Detmold und Hannover, will er erst mal nicht aufgeben – „in der Mitte Deutschlands“ zu wohnen ist angesichts des Spagats zwischen Stuttgart, Berlin und Leipzig ja keine schlechte Aussicht.

Da ein Großteil der nächsten Saison bereits geplant ist, kann Foremny erst in der übernächsten Spielzeit eigene Akzente setzen. Dabei setzt er auf Vielfalt – er hält gar nichts davon, nur einen Komponisten an einem Abend vorzustellen. Besonders am Herzen liegt ihm die Musik der Wiener Klassik, aus der Romantik bevorzugt er Komponisten wie Dvorák und Tschaikowski, aber auch Werke wenig bekannter Komponisten wie Kurt Atterberg oder Walter Braunfels will er vermehrt aus Pogramm setzen. Und natürlich neuere Musik: Die bilde ohnehin einen Schwerpunkt seines Interesses, doch auch von seiten der Musiker sei der Wunsch an ihn herangetragen worden, Werke von Strawinsky, Bartók oder Henze wieder mehr in den Mittelpunkt zu rücken. Gerade bei neueren Werken will er aber das „Publikum nicht alleine lassen“: Musikvermittlung ist ihm wichtig, ob mittels Moderation oder bei Einführungsveranstaltungen.

Stilistisch will sich Foremny dabei nicht festlegen lassen. Explizit erwähnt er die große Tradition des Kammerorchesters – er besitze selber noch Schallplatten aus der Münchinger-Zeit – und der Streicherklang des SKO verfüge über ganz besondere Nuancen. Gleichwohl bringe es auch nichts, sich auf den „deutschen“ Klang zu fixieren: Anregungen aus der historisch informierten Aufführungspraxis nehme er gerne auf, allerdings gebe es da auch Grenzen. „Auf Freiburger Barockorchester“ möchte er nicht machen, und auch instrumentale Kombinationen wie die von Zinken und modernen Violinen seien „nicht sein Ding“.

Nicht nur damit wendet sich Foremny dezidiert ab vom Konzept Michael Hofstetters, der bekanntlich (mit überschaubarem Erfolg) versucht hat, das SKO auf historische Aufführungspraxis zu trimmen. Auch sonst bildet der unprätentiöse Foremny einen Gegenpart zum immer leicht dandyhaft auftretenden Hofstetter, dessen Verhältnis zu den Musikern im Lauf der Jahre zunehmend angespannter wurde. Und während Hofstetter einst angetreten ist, um das Orchester umzukrempeln, ist Foremny erst mal des Lobes voll und betont das gute Verhältnis, das er zu den Musikern hat: bis in die Zehenspitzen sei das Orchester motiviert, von Spaß, Lockerheit sei die Probenatmosphäre geprägt: „Eine Familie im positiven Sinne“. Das hört man gerne. (StZ)

Das Freiburger Barockorchester feiert 2012 sein 25-jähriges Bestehen

22.
Nov.
2012

Das Musizieren aus einem Atem

 

Es zählt zu den besten auf historischen Instrumenten musizierenden Orchestern der Welt: das Freiburger Barockorchester, kurz FBO genannt. In diesem November feiert es sein 25-jähriges Bestehen.

Photo: Marco Borggreve

Deutschland, Mitte der achtziger Jahre. In Nachbarländern wie Österreich oder England war die historische Aufführungspraxis schon längst im Begriff, die Konzertsäle zu erobern – Nikolas Harnoncourt gründete sein Ensemble „Concentus Musicus“ im Jahr 1953, Trevor Pinnock das „English Concert“ 1972 – doch hierzulande, im Mutterland der Romantik, spielte man die Musik von alten Meistern wie Bach oder Händel immer noch überwiegend so wie die von Schubert oder Mendelssohn: gerne in großen Besetzungen und meist mit viel Gefühl, molto legato e con vibrato.

Doch tief unten im Südwesten Deutschlands, da rührte sich etwas: der Legende nach soll alles am Silvesterabend 1985 seinen Anfang genommen haben, als, angeregt durch einige Gläser Sekt, einige Studenten der Freiburger Musikhochschule beschlossen, auf historischen Instrumenten Barockmusik zu spielen. Zwei Jahren dauerte die Probenarbeit, doch dann war es dann soweit: Am 8. November 1987 traten die Musiker erstmals unter dem Namen „Freiburger Barockorchester“ in der Burgheimer Kirche in Lahr auf. Auf dem Programm stand Barockmusik von Purcell, Lully, Corelli, Muffat und Wassenaer.

 

Auf der Suche nach Neuland
Dass dieses Ensemble 25 Jahre später zu den weltweit führenden im Bereich der historischen Aufführungspraxis zählen würde, hätte sich damals vermutlich keiner träumen lassen. Heute spielt das FBO, so die gebräuchliche Abkürzung, um die 100 Konzerte im Jahr und unterhält gut besuchte Konzertreihen im Freiburger Konzerthaus, der Stuttgarter Liederhalle und der Berliner Philharmonie. An Preisen und Auszeichnungen haben die Freiburger fast alles eingesammelt, was in diesem Genre zu holen ist: vom Gramophone Award über den Diapason d´Or, den Edison Classical Music Award bis zum mehrfachen Gewinn des ECHO Klassik.

Das kommt nicht von ungefähr. Denn das FBO hat nicht nur relativ rasch das Niveau bereits etablierter Alte-Musik-Ensembles erreicht. Was die Homogenität des Musizierens, das Spielen aus einem gemeinsamen Atem heraus anbelangt, hat es selbst Standards gesetzt, an denen sich nun andere messen lassen müssen. Bei Konzerten des FBO ist man regelmäßig überrascht von seiner unbändigen, fast körperlich spürbaren Spielfreude – Musizieren auf der sprichwörtlichen Stuhlkante. Es dürfte dabei zu den herausragenden Eigenschaften des FBO zählen, dass es sich nie damit begnügt hat, den einmal erreichten Standard bloß zu halten. Zu seinem Selbstverständnis gehört, immer wieder nach neuen Herausforderungen suchen. Gottfried von der Goltz, neben Petra Müllejans einer der beiden Konzertmeister des FBO, meinte einmal, die Arbeit mit dem Orchester ähnele einem Western: „Wir ziehen mit einem Planwagen durch die Landschaft und suchen nach Neuland.“

 

Den Sinn für die Gegenwart schärfen

 

Das kann dann darin bestehen, mehr oder weniger vergessene Werke auszugraben: musikalisches Archäologentum, das im Falle des FBO zahlreiche Einspielungen mit Werken von Komponisten wie Fasch, Pisendel oder Zelenka nach sich gezogen hat, viele davon wurden mit Schallplattenpreisen ausgezeichnet. Oder darin, das „historisch informierte Musizieren“, wie es heutzutage korrekt heißt, auch auf Werke der Klassik und Romantik auszuweiten. Das beginnt bei Mozart (vor allem die Operneinspielungen unter René Jacobs besitzen einen exzellenten Ruf), setzt sich fort mit Beethoven (dessen Sinfonien sich das FBO seit einigen Jahren erarbeitet) und hört bei Schubert noch längst nicht auf: Tschaikowskys „Souvenir de Florence“, ja sogar Arnold Schönbergs „Verklärte Nacht“ zählen zum Repertoire.

Nun hat das FBO – und das unterscheidet es von den meisten Konkurrenzformationen – rechtzeitig erkannt, dass die ausschließliche Fokussierung auf historische Musik den Sinn für die Gegenwart trüben kann. Nicht zuletzt deshalb gründete man zusammen mit dem ensemble recherche, einem ebenfalls in Freiburg ansässigen, international renommierten Ensemble für Neue Musik, die „Baden-Württembergische Ensemble Akademie Freiburg“. Hier geben die Mitglieder beider Ensembles in Kursen und Workshops ihre Erfahrungen in der Aufführungspraxis von neuer und alter Musik an junge Musiker weiter. In diesem Zusammenhang erscheint es nur folgerichtig, dass man beim FBO früh auch den direkten Kontakt mit zeitgenössischen Komponisten gesucht hat. So wurden schon 2005 bei einem Konzert im Rahmen des Lucerne Festivals fünf neue Kompositionen für Barockorchester, unter anderem von Rebecca Saunders, aus der Taufe gehoben. 2009 führte das FBO im Rahmen der Bachwoche Ansbach das „Ansbachische Konzert“ von Manfred Trojahn auf, das sich in Besetzung und konzertantem Gestus auf Johann Sebastian Bachs 4. „Brandenburgisches Konzert“ bezieht.

 

2012 wurde das Ensemblehaus bezogen

 

Seit seiner Gründung ist das Freiburger Barockorchester demokratisch organisiert. Alle Mitglieder sind Gesellschafter, die alle zwei Jahre einen vierköpfigen Vorstand wählen. Gottfried von der Goltz und Petra Müllejans wechseln sich in der Position des Konzertmeisters ab, für größere Werke werden auch Gastdirigenten engagiert. Das FBO erhält zwar eine Förderung durch die Stadt Freiburg und das Land Baden-Württemberg, doch 85 Prozent seines Etats muss das das Orchester selbst einspielen, ungleich viel mehr als die meisten anderen Klangkörper. Das bedeutet auch Stress. „Eine solide Finanzierung für das FBO und seine Musiker“, wünscht sich deshalb sein Intendant Hans -Georg Kaiser: 30 Prozent Subventionen sind sein erklärtes Ziel. Immerhin konnte, nach jahrzehntelanger Odyssee, im April 2012 endlich ein eigenes Domizil für die Probenarbeit bezogen werden. In dem neu gebauten, in der Nähe der Musikhochschule gelegenen Haus findet neben dem FBO auch das ensemble recherche Platz. Es gibt im Erdgeschoss drei große Probenräume, Überäume für einzelne Gruppen- und Stimmproben, einen Schlagzeugraum und ein Besprechungszimmer; die Büroräume, zwei Notenbibliotheken und Lagerräume befinden sich im Obergeschoss des an einer Ecke abgerundeten, an einen Konzertflügel erinnernden Gebäudes. Von den ingesamt 3,3 Millionen Euro Baukosten haben private Spender und Mäzene allein 1,6 Millionen getragen – ein beeindruckendes Engagement, das auch für die gute Vernetzung des Orchesters spricht. Allerdings sind 10% der Baukosten noch nicht gedeckt, mussten vorläufig finanziert werden. Wer sich daran beteiligen möchte: auf der Spenderwand im Eingangsbereich des Ensemblehauses ist noch genügend Platz.

 

Dieser Artikel steht mit Fotos und aktuellen Konzerthinweisen unter http://www.kulturfinder-bw.de/index.php?id=freiburger-barockorchester

Michael Alber verlässt den Stuttgarter Opernchor

16.
Mrz.
2012

Michael Alber Bild: Martin Siegmund

In den letzten Tagen habe ihn dann doch „der Blues ereilt“, sagt Michael Alber. Gestern leitete er seine letzte Probe mit dem Stuttgarter Staatsopernchor, am Sonntag wird er bei Bellinis „La Somnambula“ zum letzten Mal einen Abenddienst absolvieren. Dann ist Schluss, endgültig. Nach 19 Jahren am Stuttgarter Haus, zunächst als stellvertretender und dann als leitender Chordirektor, übernimmt der gebürtige Tuttlinger ab dem Sommersemester 2012 eine Professur für Chorleitung an der Musikhochschule in Trossingen. Alber gibt zu, das ihm diese Entscheidung sehr schwer gefallen ist („ein halbes Jahr schlaflose Nächte“), und das ist nun auch wirklich kein Wunder. Er verlässt er den wohl erfolgreichsten und besten Opernchor der Republik zu einem Zeitpunkt, als sich das Stuttgarter Opernhaus unter dem neuen Führungsduo Wieler/Morabito aufmacht, nach den durchwachsenen Puhlmann-Jahren wieder zu einstiger Größe zu finden. Andererseits: der Mann braucht die Herausforderung. Schnelle Erfolge interessieren ihn nicht, sagt Alber, und dazu passt, dass er auf die Frage nach seinen schönsten Erinnerungen ausgerechnet jene Produktionen aufzählt, bei denen der Chor bis an die Grenzen gefordert wurde: Schönbergs „Moses und Aron“ oder Thomallas „Fremd“, aber auch „Actus tragicus“, bei dem die Sänger im Bach-Stil singen mussten.

Aber bis zur Verrentung an einem Haus zu bleiben, das kann sich Michael Alber nun wirklich nicht vorstellen. Zumal er durch seine geregelte Lehrtätigkeit nun auch die Möglichkeit bekommt, verstärkt Gastdirigate anzunehmen. Einiges steht jetzt schon auf seiner Agenda: ein Brahmsrequiem mit Kurt Masur in Paris, ein Cage-Projekt mit dem Ensemble Ascolta, CD-Aufnahmen mit dem Orpheus-Vokalensemble. Langweilig wird ihm nicht werden.

An seine Anfänge im Stuttgarter Opernhaus kann sich Michael Alber noch sehr gut erinnern. Es war 1992, als er zu seiner Bewerbung für die Stelle als stellvertetender Chordirektor Teile aus Wagners „Parsifal“ („Die Blumenmädchen begleitete ich selber am Klavier“) und Berlioz´ „La Damnation de Faust“ vorbereitet hatte, drei Tage vor dem Probedirigat wurde ihm noch den Anfang von Verdis „Otello“ aufgegeben – ein Chorleiter an einem Opernhaus muss stressresistent sein. Sein erster Abenddienst war dann gleich ein harter Brocken, Janaceks „Aus einem Totenhaus“, dirigiert von Michael Gielen. Hier mussten diverse Männerchöre disponiert werden, was auch Alber gehörig ins Schwitzen brachte. Seine erste eigene Produktion war dann 1995 Rossinis „L´Italiana in Algeri“, damals inszenierten Jossi Wieler und Sergio Morabito. Am Pult des Staatsorchesters stand eben jener Gabriele Ferro, der nun am Sonntag auch Albers Abschiedsvorstellung dirigieren wird: Bellinis „La Somnambula“, die bekanntlich ebenfalls von Wieler/Morabito in Szene gesetzt wurde. So schließt sich ein Kreis.

Immer wieder dazulernen – das zählt zu Albers Maximen. Und das müssen auch die Mitglieder des Opernchors. Vor allem stilistische Vielseitigkeit wird von ihnen erwartet. Was man von keinem Solisten verlangen würde – beispielsweise, gleichzeitig Wagner und Monteverdi singen zu können – zählt für Choristen zur Grundqualifikation. Dazu sollen Chorsänger auch szenisch überzeugen und sich auf die Vorstellungen der jeweiligen Regisseure einlassen. Nicht immer geht das ohne Reibungen. Da musste dann auch Alber, der mit den Choristen sonst ein „Verhältnis auf Augenhöhe“ bevorzugt, einfach mal entscheiden, was wie gemacht wird.

Alber verlässt, das ist sicher, ein bestens bestelltes Haus. Im letzten Jahr ist der Staatsopernchor wieder zum Opernchor des Jahres gewählt worden, zum achten Mal insgesamt. Auch in diesem Jahr dürften die Chancen dafür nicht schlecht stehen. Der Chor besitzt ein eigenes Profil, das sich vor allem durch klangliche Homogenität und Variabilität auszeichnet. Derart strahlend-satte Wagnerchöre wie in Stuttgart hört man anderswo kaum, wo nötig, kann der Chor aber auch kantabel und fein klingen. Das solistische Potential der Chorsänger ist ebenfalls imponierend – Produktionen wie Hans Thomallas „Fremd“ sind so überhaupt erst möglich geworden. Hier hat es sich ausgezahlt, dass Michael Alber in Besetzungsfragen kompromisslos war und eine Stelle auch mal ein Jahr unbesetzt gelassen hat, bis der perfekte Bewerber gefunden war.

Wenn Michael Alber nun geht, so hat er insgesamt 69 Operneinstudierungen hinter sich, dazu diverse Sinfoniekonzerte und CD-Produktionen, 27 Chorstellen wurden während seiner Zeit neu besetzt. Weitere Projekte mit der Staatsoper sind zunächst nicht geplant, sein Nachfolger Johannes Knecht soll die Möglichkeit habe, seine eigenen Vorstellungen ungestört zu verwirklichen. Eine graue Eminenz will Alber auf gar keinen Fall sein. Ein großes Abschiedsfest für den Chor gibt es natürlich auch. „Mit Buffet und allem Drum und Dran.“ Da wird sich der Blues dann schon verziehen. (Stuttgarter Zeitung)

 

Eva Poettgen ist Inspizientin am Staatstheater Stuttgart

27.
Jul.
2010

Der Fels in der Brandung

Freitagabend, 18 Uhr im Stuttgarter Opernhaus. Es ist noch eine Stunde bis zum Beginn von Mozarts Oper „Figaros Hochzeit“ in der Inszenierung von Nigel Lowery, eine ganz normale Repertoirevorstellung. Die Saaltüren sind noch geschlossen, aber auf und hinter der Bühne sind die Vorbereitungen in vollem Gange. Im Schnitt sind bei einer Aufführung etwa zwanzig Bühnentechniker im Einsatz, dazu kommen vier Beleuchter, zwei Schlosser und meist noch ein Rüstmeister. Längst haben die Bühnenarbeiter die Kulissen aufgebaut, in der Maske wird eifrig geschminkt, und auch die Inspizientin Eva Poettgen macht ihren Rundgang über die Bühne um zu kontrollieren, ob alles in Ordnung ist. Dabei geht es ihr vor allem um jene heiklen Stellen, an denen für die Sänger Gefahren lauern: ein fehlendes Geländer könnte ebenso fatale Folgen haben wie eine nicht weiß markierte Treppenkante – vor allem dann, wenn die Akteure bei verdunkelter Bühne auf-oder abtreten. All diese Details muss Eva Poettgen im Kopf haben – und noch viel mehr. Sie ist eine von sechs Inspizienten der Stuttgarter Staatstheater, wobei das Überprüfen der Bühne dabei noch zu den kleineren ihrer Aufgaben zählt. Sie sei „Mädchen für alles und Fels in der Brandung“, sagt Eva Poettgen, und das trifft es wohl ziemlich gut. Denn an ihrem Inspizientenpult an der Bühnenseite laufen alle Fäden zusammen, die für eine Opernaufführung von Bedeutung sind. Mittels einer Sprechanlage mit 48 Tasten ist sie mit allen wichtigen Räumen des Hauses verbunden, per Funkgerät gibt sie Anweisungen an die Technik – Obermaschinerie, Untermaschinerie, Schlosserei, dazu kommen Beleuchtung und Ton.

Noch 15 Minuten bis zur Vorstellungsbeginn. „Gong Bühne, Gong Zuschauerraum“ ruft Eva Poettgen ins Mikrofon, während draußen vor den Treppen des Opernhauses einige Besucher noch am Eckensee flanieren. Zwei Inspizientenpulte sind in der Regel bei einer Aufführung besetzt, an jeder Bühnenseite eines. Das an der Nordseite, wo sie heute sitzt, ist das wichtigere. Von hier treten die meisten Sänger auf und ab, von hier wird der gesamte technische Ablauf überwacht. In dem Klavierauszug, den Eva Poettgen ständig mitverfolgt, sind alle Details handschriftlich vermerkt. Besonders wichtig ist der Ablauf der Verwandlungen – so nennt man in der Theatersprache, wenn das Bühnenbild verändert wird. Beim Figaro ist das ziemlich oft der Fall, ständig werden Bühnenelemente herein- und wieder hinausgeschoben, jede einzelne Vewandlung muss vom Inspizienten initiiert werden.

Es ist 18 Uhr 55, allmählich füllt sich der Saal. Eva Poettgen ruft über die Sprechanlage die Sänger und die Musiker auf ihre Plätze. Dann geht’s los. Die Saaltüren werden geschlossen, der Dirigent betritt das Podium im Orchestergraben und hebt den Taktstock. Während der Ouvertüre warten die Sänger der ersten Szene neben dem Inspizientenpult auf ihren Auftritt. „Achtung, Figaro! Achtung, Susanna, losgehen bitte!“ Eva Poettgen ist ständig gefordert. Muss Akteure rufen, Requisiten überprüfen, Einsätze für die Beleuchter geben. „Stimmungen“ nennt man die Einstellungen des Bühnenlichts, die in Zahlen codiert werden. „Achtung für 30“ ruft sie dann zum Beispiel in ihr Walkie-Talkie, um die entsprechende Einstellung beim Beleuchter abzurufen.

Inspizient ist ein Job, in den man hineinwächst. Es gibt zwar eine offizielle Ausbildung in Berlin, doch am Stuttgarter Haus hat die keiner durchlaufen. 1984, noch während der Intendanz von Hans-Peter Doll, hat Eva Poettgen – die übrigens eine Tochter des bekannten Stuttgarter Regisseurs Ernst Poettgen ist – am Staatstheater angefangen. Davor war sie in der Statisterie, ihre Schwester hatte sie „mal mitgeschleppt“, wie sie sagt. Dann übernahm sie ab und an eine Aushilfe bei der Requisite oder Beleuchtung, und irgendwann brauchte man eine Inspizientenvertretung für die Theaterferien. Eva Poettgen wurde gefragt, ob sie das machen wollte. Seitdem ist sie hauptberuflich dabei.

Auf den geschätzten 2 Quadratmetern ihres Arbeitsplatz hat sich Theatergeschichte im Lauf der Jahrzehnte sedimentiert. Die analoge Technik mit den drei Bühnenmonitoren stammt noch aus den sechziger Jahren, von den Wänden blättert die Farbe ab, ein windschiefer Erste-Hilfe-Kasten wird mit Klebeband notdürftig zusammengehalten. Auch ein roter Feuerlöscher wartet auf einen Einsatz, und in der Ecke steht gar ein Eimer mit Wischmopp, doch den hat keine Putzfrau vergessen: Im 2. Akt braucht ihn Helene Schneiderman, die die Marcellina singt, auf der Bühne. Nicht zuletzt dient das Inspizientenpult auch als Versorgungsstation. Wenn den Sängern der Schweiß auf der Stirn steht – im Wandschrank finden sich Handtücher, und auch der erhitzte Dirigent bekommt hier zur Erfrischung ein Glas Wasser gereicht.

Einmal darf Eva Poettgen sogar selber ins Geschehen eingreifen. In einer Szene beteuert die Gräfin gegenüber ihrem Gatten, dass sie alleine sei – obwohl sich Cherubino in der Kammer versteckt hat. Eva Poettgen wirft dann hinter der Bühne geräuschvoll einen Holzbock um – was prompt den Verdacht des Grafen erregt.

Pauken und Trompeten für´s Finale!“ ruft sie die Musiker für das Ende des 2. Aktes auf die Bühne. Die Ansagen sind stets in allen relevanten Räumen zu vernehmen, ab und an kann es aber auch mal passieren, dass jemand die Ansage überhört. Wie vor einigen Jahren, als ein Sänger vor seinem Auftritt seine Rolle per Kopfhörer nachhörte und einfach nicht erschien. Momente, in denen auch nervenstarke Inspizienten schon mal in Stress geraten können. „Da bricht einem der Schweiß aus“, sagt Eva Poettgen, aber zum Glück passiert sowas sehr selten. Dreißig lange Sekunden war es damals schwarz auf der Bühne, ehe der Sänger aufgespürt und zu seinem Einsatzort gebracht werden konnte.

In der Regel aber funktioniert alles nach Plan. Auch im 3. und 4. Akt, wenn sich die Intrigen und Liebeswirrungen zwischen Graf und Gräfin, Figaro und Susanna zunächst verdichten und im glücklichen Ende zur allseitigen Zufriedenheit lösen.

Trotz der Daueranspannung liebt Eva Poettgen ihren Beruf: Besser, so sagt sie, könne man es doch nicht haben. Immer wieder lerne man neue Menschen kennen, außerdem dürfe man ständig schöne Musik hören. Auch seien die Sänger heute viel lockerer, man begegne sich auf Augenhöhe. „Früher hatten die alle so kleine selbstgebastelte Heiligenscheine“. Tatsächlich herrscht hinter der Stuttgarter Opernbühne eine ausnehmend freundliche, kollegiale Stimmung, was sicher auch zum Erfolg beiträgt. Wer sich nicht wohlfühlt, kann schwer eine gute Leistung bringen.

Klarinetten fürs Finale, bitte!“ Die Oper steuert auf das Ende zu. Graf Almaviva erkennt beschämt, dass er statt Susanna seine eigene Frau verführen wollte und erlaubt schließlich die Hochzeit Figaros. Zum Schlussapplaus ist es dann der Regieassistent, der die Auf- und Abtritte der Sänger choreografiert. „Vorgehen, beugen, zurück!“, kommandiert er vom Bühnenrand aus. Es gibt einige Vorhänge, ehe der Beifall abbrandet und schließlich versiegt. Die Saaltüren gehen auf, Eva Poettgen klappt ihren Klavierauszug zu. Es ist genau 22 Uhr 37. Am nächsten Morgen sind wieder Proben.

Erschienen in der Sonderbeilage Oper der StZ

Porträt Thomas Wördehoff

28.
Jun.
2010

Liebe ist das Gegenteil von Angst

Seit dieser Saison ist Thomas Wördehoff Intendant der Ludwigsburger Schlossfestspiele

Was ist Heimat? Seit einiger Zeit sei das für ihn „die zentrale Frage“, sagt Thomas Wördehoff, und er wirkt nachdenklich dabei. Vielleicht ist es Zufall, dass Markgröningen, wo der neue Intendant der Ludwigsburger Schlossfestspiele nun wohnt,  ungefähr soviele Einwohner hat wie Kierspe – jenes westfälische Städtchen zwischen Lüdenscheid und Gummersbach, wo Wördehoff 1953 geboren wurde. Vielleicht bietet die Überschaubarkeit des kleinstädtischen Lebens aber auch eine Art Entspannung für jemanden, dessen berufliche Laufbahn sich bisher überwiegend in den europäischen Kulturmetropolen abgespielt hat. Wördehoff studierte in Frankfurt Musikgeschichte, Germanistik und Anglistik und arbeitete dann als Dramaturg und Spielleiter an den Bühnen in Hamburg, Berlin und Paris. Außerdem wirkte bei den Festspielen in Bregenz und Salzburg, in Zürich war er Feuilletonchef der „Weltwoche“. Auch an der Stuttgarter Oper gab er ein Gastspiel als Dramaturg, damals wohnte er zusammen mit Hans Neuenfels in der Akademie Schloss Solitude. Kann denn, wer ein derart unstetes Leben führt, überhaupt einen Begriff von Heimat haben? Ja, sagt Wördehoff und kommt nach kurzer Überlegung auf Wien, wo seine Freundin wohnt und er eine kleine Wohnung besitzt. Durchschnittlich eine Woche pro Monat ist Thomas Wördehoff dort, und dass er auch die traditionelle Wiener Küche schätzt, wundert bei einem Sinnesmenschen wie ihm nicht. Die Traditionsverwurzelung sei es, die er an Wien so liebe, der Mut zur Identität, der sich aus einem kulturellen Zusammenhang rekrutiere. Das erotisiere ihn. Auch deshalb interessiert ihn zurzeit keine Musik so sehr wie die Volksmusik – die für ihn im Übrigen erst auf der Höhe von Bayern beginnt – was sich nördlich davon abspielt, besitzt für Thomas Wördehoff keine Verbindlichkeit. In diesem Zusammenhang wird auch nachvollziehbar, warum er für die Schlossfestspiele das Südtiroler Ensemble Franui für gleich drei Projekte verpflichtet hat. Die Gruppe, deren Namen sich aus der Bezeichnung für eine Almwiese im kleinen Osttiroler Dorf Innervillgraten ableitet, fördert nach eigener Definition „Geschichte und Geschichten aus dem unterirdischen Ausstellungsraum des ländlichen Lebens“ zutage, und nach einer schöneren Metapher muss man wirklich lange suchen.

Franui nähert sich Mahler, Schubert und Brahms aus dem Geist der Volksmusik, und dass es keine Hierarchien innerhalb der Künste gibt, ist eine der Grundüberzeugungen Wördehoffs. Während seiner Tätigkeit als Chefdramaturg der Ruhrtriennale war er für Jazz und Popmusik zuständig, und wie viele seiner Generation ist er mit dieser Musik groß geworden. Die erste Platte, die ihn tief bewegte, war Frank Sinatras „Only the lonely“. Ein „Wahnsinnsalbum“ sei das, so unfassbar traurig. Er zog es aus dem Plattenschrank seiner Mutter, in dem viel Swing und Jazz stand: Ella Fitzgerald, Tony Bennett, das Great American Song Book. Fünf Jahre alt war er damals, ein Einzelkind, die Eltern lebten getrennt, seinen Vater lernte er erst später kennen.

Die ganze Schulzeit bis zur Oberstufe verbrachte er in einem Internat in Schönberg im Taunus, „ein wunderbares Internat“ sei es gewesen. Der Betreiber war ein enger Freund von Arno Schmidt und veranstaltete literarische Treffen, „das war wahnsinnig geheimnisvoll“. Einmal im Monat, das Internat lag mitten im Wald, fuhren abends die Autos vor und es entstiegen, wie er aus seinem Zimmerfenster beobachtete, die Koryphäen der damaligen Literatur: Dürrenmatt, Frisch, Köppen. Doch deren Lesungen waren nur für die älteren Klassen. „Ich war zu klein“.

Als Jugendlicher entdeckte er die Pop-und Rockmusik, Beatles, die Who. Und Elton John. Bei unserem Treffen trägt Thomas Wördehoff ein Poloshirt mit einer aufgestickten Unterschrift Elton Johns,  darunter „World Tour“. Es stammt von 1998, damals spielte Elton John solo auf der Waldbühne in Berlin, ein Konzert, das Wördehoff nachhaltig beeindruckt hat. Später, als Journalist, hatte er die Gelegenheit, ihn zu interviewen. Er habe Witz und Charme, sei dabei aber total unsicher. „Ein guter Typ“.

Die Liebe zur Klassik und zur Oper kam mit Verdi, es war eine Initialzündung. Während der Schulzeit jobbte Wördehoff als Statist an der Frankfurter Oper, sein erstes Stück war Verdis Don Carlos. „Da stand ich dann mit einer Hellebarde rum und die Musik ging mir sowas von in die Knochen, das war unglaublich“. Von da an hat ihn die Bühne nicht mehr losgelassen. Es war vor allem ein Regisseur, der ihn während seiner Arbeit an diversen Opernhäusern  stark geprägt hat: Hans Neuenfels, mit dem ihn seit 1975 eine tiefe Freundschaft verbindet. Es sei die Unverblümtheit von Neuenfels´ Umgang mit Musik, die Art, wie er das Musiktheater immer in einen gesellschaftlichen Zusammenhang stellt, die ihn tief beeindruckt, sagt Wördehoff.

Von Gerard Mortier wurde Wördehoff 2001 zur Ruhrtriennale geholt, und Mortier wurde die andere wichtige Persönlichkeit, die seine Kunstauffassung stark beeinflusst hat. An Mortier schätzt er den „Drang, das Musiktheater weiter zu fassen als bloße Oper“ – und dessen Mut zum Risiko: Mortier sei ein Spieler, setze auch mal alles auf ein Karte. Das imponiere ihm.

Ob er selbst auch was riskiert? Möglicherweise, sagt Thomas Wördehoff. Aber er merke es nicht immer, obwohl ihm viele Leute gesagt hätten, einiges in seinem ersten Ludwigsburger Programm sei mutig gewesen. Er findet das nicht, und erzählt davon, wie er einige Wochen vor Beginn der Festspiele nachts nicht schlafen konnte, zuviel sei ihm durch den Kopf gegangen. Dann sei er um vier aufgestanden, habe sich an den Schreibtisch gesetzt und sei jede einzelne Produktion durchgegangen um herauszufinden, an welchem Punkt er nervös werde. Er fand keinen.

Unruhe verbreitete Wördehoffs radikaler Neubeginn in Ludwigsburg trotzdem. Vor allem jener Teil des Festspielpublikums, dem es an  Repräsentation und dem Glanz großer Stars gelegen ist, begegnet ihm mit hartnäckigen Ressentiments. So hätten ihm einige gesagt, sie würden sein Programm schlecht finden und deshalb nicht kommen, erzählt Wördehoff, und es ist ihm anzumerken, dass ihn solche Aussagen mächtig wurmen. Immerhin: viele wären trotz ihrer Vorbehalte gekommen und hätten ihr Vorurteil anschließend revidiert. Das macht ihm Mut – ebenso wie der Umstand, dass in vielen Konzerten geradezu enthusiastisch applaudiert worden sei. Die Leute bei ihm klatschten so ernsthaft, hätte eine Tänzerin neulich zu ihm gesagt. Das gefällt ihm. Denn das Lauwarme, Mediokre mag er nicht – in der Kunst muss das Feuer brennen, weshalb er auch nur mit Künstlern zusammenarbeitet, bei denen er diese Glut spüren kann.

Aber es gebe eben diese Angst, speziell vor der Kunst. Das Gegenteil von Liebe sei nicht Hass, sondern Angst –  über diese Aussage seiner Freundin denkt er viel nach. Eine Angst, die möglicherweise nicht nur die Konfrontation mit dem Unbekannten scheut, sondern vielleicht auch eine Angst vor dem ist, was die Kunst in einem selbst auslösen kann.

Und wovor hat Thomas Wördehoff Angst? Er überlegt eine Weile.  Vielleicht sei es eine Macke, ein Defekt – aber er habe Angst davor, nicht gehört zu werden. Es stört ihn, wenn manche Menschen seine Argumente einfach nicht wahrnehmen wollen. Da trifft sich seine persönliche Angst mit der des Publikums. „Dabei tue ich alles, um die Leute zu überzeugen.“(Stuttgarter Zeitung)

Ernst Mantel

28.
Jan.
2008

Der Komiker Ernst Mantel tanzt auf verschiedenen Hochzeiten – doch zuhause ist er auf der Ostalb.

Die meisten dürften ihn als Mitglied der „Kleinen Tierschau“ kennen, seit über 25 Jahren eine Institution in Sachen Comedy zwischen Stuttgart und Bodensee. Doch mittlerweilse tourt er auch in anderen Besetzungen durchs Ländle. Der Weg zu ihm führt auf die Ostalb.

Wer ihn dort aufspüren will braucht, sofern er kein Navigationssystem besitzt, wenigstens gute Landkarten. Grobrichtung Aalen, das findet man noch, aber wo es dann ab geht nach Heuchlingen und Holzleuten wissen sonst nur Ortskundige. Zwischen Aalen und Abtsgmünd liegt das 150-Seelen-Dorf Laubach, der Weg dahin führt über enge, gewundene, von Bauernhöfen gesäumte Landstraßen. Eine Gegend, in der der sprichwörtliche Hund begraben liegt. Aber dann, kurz hinter dem Ortsschild von Mögglingen, fällt der Blick auf ein Plakat. Ein typisches Dorf-Event wird angekündigt, eine „Kleintierschau“. Und schlagartig wird einem klar, wie die Comedytruppe „Die kleine Tierschau“, als deren Mitglied Ernst Mantel bekannt geworden ist, auf ihren Namen gestoßen sein muss.

Gemütlich ist es in Ernst Mantels Küche, die Zimmerdecke ist tief, das Mobiliar rustikal, typisch Bauernhaus eben. Das einzig auffallend Moderne ist die chromblitzende Espressomaschine, denn Ernst Mantel trinkt gerne Cappuccino. Vor zwölf Jahren hat er das Haus gekauft. Es sei schon immer sein großer Traum gewesen, irgendwann ein altes Bauernhaus zu haben, erzählt Mantel, obwohl das Haus ein „Sparkässle“ ist: Ständig müsse man was reinstecken. Jetzt wird grade das Dach saniert, das bedeutete nochmal einen Kredit in Höhe eines kleinen Einfamilienhauses, denn das Haus ist groß. Und das Dach erst recht. Eigentlich wollte er nicht nach Laubach ziehen. Liegt das Dorf doch nur drei Kilometer weg von seinem Heimatort Heuchlingen, „zu dicht drauf“ war ihm das zunächst. Aber das Haus wollten sie haben, und an das Leben im Dorf war Ernst Mantel gewohnt. „Ein bekennendes Landei“ sei er. Natürlich hat er als Künstler eine Sonderrolle. Aber wenn man sich an die Gepflogenheiten des Dorflebens halte, sei das kein Problem. Man müsse die Leute eben grüßen, Kontaktpflege sei wichtig, sonst habe man es schwer. Vor allem aber genießt er die Nähe zur Natur. Wenn er mit seinem Hund Wenzel, einem Airdale-Terrier, aus dem Haus geht, ist er sofort im Grünen.

Freilich ist er nicht so oft zuhause. An die 170 Auftritte hat er im Jahr, davon mittlerweile die meisten mit seinem Duo Ernst & Heinrich, der Rest mit der kleinen Tierschau, dazu kommen ein paar Soloauftritte. Wenn es geht, fährt er abends nach den Konzerten wieder nach Hause, aber oft geht es halt nicht. Dann müssen seine Frau und seine vier Kinder ohne ihn klarkommen. Mit seiner Frau Irene ist er seit 19 Jahren verheiratet, kennengelernt haben sich die beiden schon in der Schule. Nach dem Abitur folgte Ernst ihr nach München, wo sie beide Kunstgeschichte studierten, dann wechselten sie nach Tübingen. 1986 brachen sie das Studium ab, kurz vor dem Examen. Denn damals ging es plötzlich steil aufwärts mit der Kleinen Tierschau. Fernsehauftritte bei Alfred Biolek und eine Eurovisionssendung („am Wörthersee“) brachten bundesweite Aufmerksamkeit, die Kleine Tierschau füllte plötzlich große Hallen. Dabei hatte bis dahin keiner an eine Profikarriere als Bühnenkünstler gedacht.

Die Kleine Tierschau, das sind Michael Schulig, Michael Gaedt und Ernst Mantel. Die drückten auf dem Gymnasium in Heubach gemeinsam die Schulbank und verkehrten in der gleichen Clique. Musik machten sie auch zusammen: zunächst nur aus Spaß, dann folgten erste kleine Auftritte in Kneipen mit Songs aus den 30er- und 40er Jahren, „im Stil der Comedian Harmonists“ – ziemlich skurril sei das damals gewesen, meint Ernst Mantel. 1981 nannten sie sich dann „Die kleine Tierschau“: ein spontaner Einfall von Michael Gaedt, nachdem ein Veranstalter gedroht hatte, sie auf dem Plakat als „Die Grashoppers“ anzukündigen, wenn sie keinen eigenen Namen hätten. Mit dem neuen Namen zogen sie dann durch regionale Jugendzentren und Clubs, ein Highlight war ein selbst organisierter Auftritt im evangelischen Gemeindehaus Heubach. „Da hatten wir schon ein echtes Programm mit Abläufen“, sagt Mantel mit ironischem Unterton, wobei das Repertoire noch überwiegend aus Covernummern bestand – Selbstkomponiertes war die Ausnahme. Es sei damals ohnehin eine ganz andere Zeit gewesen, erzählt Mantel, die ganze Comedyszene steckte noch in den Kinderschuhen; Schobert & Black, Insterburg & Co., das war so die Konkurrenz. Mit ihrer anarchischen Mischung aus Musik und Blödeltheater war die Kleine Tierschau damals fast allein auf weiter Flur.

Freilich stiegen mit den Gagen auch die Ansprüche an Qualität. Irgendwann merkten die Drei, dass sie professioneller werden mussten, charmanter Dilettantismus reichte auf Dauer nicht. Also nahmen sie Stepunterricht und lernten weitere Instrumente, sogar nach New York jetteten sie regelmäßig, zur „innerbetrieblichen Weiterbildung“: „Wir wohnten 14 Tage im YMCA, guckten uns abends am Broadway die großen Shows an und gingen tagsüber in die Tanzschulen. Da gehst du rein, zahlst 10 Dollar und darfst bei den größten Cracks mitmachen.“

Wer die Kleine Tierschau kennt, der kennt auch deren Arbeitsteilung: Michael Gaedt ist die Rampensau, Michael Schulig der Multiinstrumentalist und Ernst Mantel der Wortkünstler – zuständig für die Zwischentöne im ansonsten auch mal recht derben Tierschau-Humor.

Eine Aufteilung, die bis heute bestens funktioniert, die aber bei Ernst Mantel irgendwann den Wunsch aufkommen ließ, seine eigenen Ideen stärker verwirklichen zu können – gerade auch was schwäbische Stücke anbelangt, die ihm leichter aus der Feder fließen. Außerdem wollte er wirtschaftlich nicht völlig von der kleinen Tierschau abhängig bleiben, zumal er eine wachsende Familie zu ernähren hatte. Ein Soloprogramm auf schwäbisch, das bot sich an. Dass es dann ein Duoprogramm wurde, war mehr oder weniger Zufall. Den Musiker Heiner Reiff hatte Mantel zunächst nur als Produzenten engagiert, doch schon bei den Proben für die Premiere seines Soloprogramms im Tübinger Zimmertheater, das war 1998, hatte sich das ganze zum Duo entwickelt.

Dabei bedeutete es durchaus ein Wagnis, ein rein schwäbisches Programm zu machen, besaß das Schwäbische als Humorträger doch nicht gerade den besten Ruf. Umso erstaunlicher, wie es Ernst und Heinrich gelungen ist, dem als provinziell verschrieenen Idiom neue humoristische Aspekte abzutrotzen. Da wird internationales Liedgut gnadenlos eingeschwäbelt wie bei dem Türkpopverschnitt „Dürdsu“ oder der Zeitgeist aufs Korn genommen („Feng shui“). Am eindrücklichsten zeigt sich der spezifisch mantelsche Humor aber in den Szenen, bei denen er mittels Videoeinspielungen mit sich selber in Dialog tritt. Wie bei „Knoschpt´s?“: als kittelschürzbewehrte Hausfrau untersucht Mantel hier den Vorgarten auf erste Frühlingszeichen, dabei dient ihm eine signifikante schwäbische Lautbildung als Ausgangsmaterial für zwerchfellerschütternde Satzkonstruktionen.

Heute hat er mehr Auftritte mit Ernst und Heinrich als mit der Kleinen Tierschau. Auch über mangelnde öffentliche Anerkennung können sich die beiden nicht beklagen. 2006 erhielten sie den Sebastian Blau-Preis für Schwäbische Mundart, 2007 den renommierten Deutschen Kleinkunstpreis Baden-Württemberg. Der Laden brummt, wenngleich sie keine großen Hallen füllen. Aber das war von vornherein auch nicht geplant, lebt der Ernst und Heinrich-Humor doch auch von der Nähe zum Publikum. Der intelligente Witz ist den beiden wichtiger als die brachiale Pointe.

Seit über 25 Jahren ist Ernst Mantel mittlerweile im Geschäft, diverse CDs sind auf dem Markt, und ständig müssen neue Programm erarbeitet werden. Ob einem da nicht irgendwann mal einfach nichts mehr einfällt? Nein, sagt Mantel, an mangelnder Inspiration leide er definitiv nicht. Oft kommen ihm bei langen Autofahrten gute Ideen, das kann zunächst eine Textzeile oder ein Melodieschnipsel sein. Wichtigstes Utensil ist ihm ein Diktiergerät, das er überall mit dabei hat. „Ich darf eher mein Handy vergessen, als mein Diktiergerät“, sagt Mantel, „das darf auch nie jemand in die Hände bekommen, denn da ist soviel Kruschd drauf“. Kruschd bedeutet soviel wie unbrauchbares Zeug. Was kein Kruschd ist, wird dann zuhause weiterentwickelt, wobei das Urteil seiner Familie die erste Messlatte dafür ist, ob etwas ins Programm aufgenommen wird oder nicht.

Ernst Mantel ist ein Familienmensch. Seine Töchter sind 8, 13 und 17, sein Sohn ist 15, da ist eigentlich immer was los im Bauernhaus, auch wenn Papa nicht zuhause ist. Es gibt Zeiten, da hat er wenig von seinen Kindern: wenn er nachts nach Hause kommt, sind sie schon im Bett, wenn er morgens aufsteht, in der Schule. Nur beim Mittagessen, das er meistens kocht, findet die Familie zusammen. Allerdings gebe es auch Zeiten, wo er spielfrei hat, dann ist er mehrere Tage am Stück zuhause. Früher, so Mantel, hätte er immer gedacht, dass er ja jederzeit aufhören könnte mit der Bühne, als Beruf habe er das lange nicht gesehen.Aber mit vier Kindern ist eben alles ganz anders, zumal, wenn man eine Immobilie am Hals hat. Einfach aufhören kann Ernst Mantel also längst nicht mehr, und das will er auch gar nicht. Gibt es doch noch viele Projekte, die er verwirklichen möchte. Sein Soloprogramm „Ernst-Unernst“ etwa, das er weiter voranbringen will. Das ist ihm auch deshalb wichtig ist, weil er es als eine persönliche Herausforderung begreift: denn eigentlich, so Mantel, sei er eher ein zurückhaltender Typ. In der Schule sei er komplett ruhig und verschwiegen gewesen, „man musste alles aus mir rauskitzeln“.

Doch Menschen entwickeln sich. Heute steht Ernst Mantel auch regelmäßig solo auf der Bühne und bestreitet die Moderationen alleine. Dabei legt er Wert auf eine gute Vorbereitung. Praktisch, dass er vor einem wichtigen Auftritt seine neuen Programme im geschützten Umfeld seiner Hausbühne erstmal ausprobieren kann. „Käser´s Stall“ nennt er den ausgebauten ehemaligen Stall, mit immerhin 70 Sitzplätzen eine richtige Kleinkunstbühne, die auch der „Kleinen Tierschau“ als Probebühne dient. Bald ist in der heimeligen Lokalität wieder was los: vom 15. bis zum 17. Februar tritt dort Ernst Mantel mit seinem Soloprogramm auf, bevor er damit im Stuttgarter Renitenztheater zu Gast sein wird. Auch eine kleine Bewirtung gibt´s dazu in Laubach, und zwar so, wie es sich für richtige Schwaben gehört: mit Schmalzbroten und belegten Seelen.

(Stuttgarter Zeitung)