Beiträge der Kategorie ‘Theater’

Die Sängerin Peaches singt in der Neuproduktion von Brechts „Die Sieben Todsünden“

30.
Jan.
2019

Bad Girl des Electroclash

 

„Fuck the pain away“ – so lautet der Titel des populärsten Songs der Sängerin Peaches, die am Samstag in der Rolle der Anna in der Neuinszenierung von Brechts „Die sieben Todsünden“ am Schauspiel Stuttgart zu sehen sein wird. Sogar in einigen Fernsehserien und Filmen wurde der Song verwendet, in der Serie „South Park“ etwa, vor allem aber in der Szene in einem japanischen Stripclub in Sofia Coppolas Film „Lost in Translation“ mit Bill Murray und Scarlett Johannson. Es ist eine coole Dancefloornummer explizit sexuellem Inhalt – der aber, abgesehen vom Songtitel, noch recht harmlos anmutet im Vergleich mit dem, was die 1966 in Kanada als Merrill Beth Nisker geborene Sängerin und Performancekünstlerin später produziert hat.
Wer sich etwa „Rub“, das Video zum Titelsong von Peaches´ letztem, 2015 erschienenen Album auf Youtube anschauen möchte, muss zunächst mit einem Klick eine Art Einverständniserklärung abgeben. Der Inhalt sei „von der YouTube-Community für einige Zielgruppen als unangemessen oder beleidigend eingestuft“ worden, und allgemein „für jüngere oder sensible Zuschauer nicht geeignet“. Das kann man nachvollziehen. Der Clip lässt sich als drastisches Bekenntnis zur sexuellen Libertinage deuten, gespickt mit Orgienszenen, allerhand nackter Haut und Genitalien in Großaufnahme. Gegen Ende schwenkt zur Textzeile „Can’t talk right now / The chicks dick is in my mouth“ gar noch ein Hermaphrodit sein primäres Geschlechtsteil über der knienden Sängerin. Muss man mögen.
Vermutlich ist mit Videos wie diesem die Grenze dessen erreicht, was gerade noch nicht als Pornografie gilt. Viele der über 5000 Kommentare auf Youtube sind negativ – was auch damit zusammenhängen könnte, dass man hier Menschen beim Sex sieht, die ganz und gar nicht der Körpernorm entsprechen. Gestylte Sängerinnen wie Madonna, die ein Image als Sexqueen pflegen, wirken im Vergleich dazu fast aseptisch.
Tatsächlich sind die heterosexuellen Rollenbilder der kommerzialisierten Unterhaltungsbranche ein Graus für Peaches, die ich nach einer Probe in ihrer Garderobe im Schauspielhaus treffe. Sie wirkt ein wenig müde, eine Erkältung macht ihr noch zu schaffen, aber immerhin, die Stimme ist wieder da. Ihr wichtigstes Anliegen, sagt Peaches, sei Selbstbestimmung. „Ich möchte, dass sich die Menschen nicht danach richten, was andere erwarten.“
Das hat sie auch selbst nicht getan. „The Shit“ heißt ihre erste wilde Punkband, ab 2000 nennt sie sich dann, nach einer archetypischen afrikanischen Frauenfigur in einem Song von Nina Simone, „Peaches“ und avanciert nach ihrem Umzug nach Berlin zu einem Star des sogenannten Electroclash, einer Musikrichtung, die die rebellische Haltung des Punk mit elektronischer Musik zusammenbringt. Sie beginnt, eigene Sounds zu produzieren und ihre offensiven Liveshows, bei denen sie schon mal im rosa Latexhöschen auf die Bühne kommt, ziehen ein immer größer werdendes Publikum an. Peaches erwirbt sich ein Bad Girl-Image, tritt im Vorprogramm von Björk auf, Karl Lagerfeld macht eine Fotoserie mit ihr. Für ihr zweites Album „Fatherfucker“ geht sie gar mit Iggy Pop ins Studio.
2012 dann singt sie im Berliner Hebbel am Ufer Theater, genannt HAU, die Titelrolle in Monteverdis Oper „Orfeo“, nachdem sie dort schon zwei Jahre zuvor eine One-Woman-Version der Rockoper Jesus Christ Superstar auf die Bühne gebracht hatte. Die Kritiken zu Orfeo sind gemischt. Eleonore Büning von der FAZ lobt sie als die „mit Abstand beste, weil wahrste und herzergreifendste Opernproduktion, die in dieser Saison in der Hauptstadt zu erleben war“. Andere sind skeptischer, attestieren ihr stimmliche Beschränktheit.
Eigentlich hätte damals die Regisseurin Anna-Sophie Mahler den Orfeo in Berlin inszenieren sollen. Dazu kam es nicht, doch nun hat Mahler die Gelegenheit genützt und Peaches als Co-Regisseurin und Darstellerin für die Stuttgarter Neuproduktion von „Die sieben Todsünden“ verpflichtet. In dem Stück, einer Koproduktion von Schauspiel, Ballett und Oper, muss die Protagonistin Anna, die in Stuttgart neben Peaches von weiteren drei Darstellern verkörpert wird, durch sieben amerikanische Städte ziehen, um Geld für ein Eigenheim in Louisiana zusammenzukratzen. Dabei definiert, als Beleg von Max Webers These von der innerweltlichen Askese als Bedingung des Kapitalismus, der Drang nach Profit, was in welcher Situation als Sünde und was als Tugend gilt. Die „Todsünden“ sind Versuchungen, deren Befriedigung aufgeschoben werden muss, und für Peaches ist vor allem das patriarchalische System dafür verantwortlich. Sie nennt es „Male toxicity“ – eine vergiftete, ungesunde Form von Männlichkeit, die vor allem in den USA dominiert. „Alles wird unterdrückt“, sagt sie. „In diesem System kommt immer zuerst der Mann. So kann keine bessere Welt entstehen.“ Wie bewertet sie die sogenannten „Todsünden“ in Brechts Stück? Sie zögert ein wenig. Nun, für Faulheit müsse es Platz im Leben geben. Stolz sollte jeder in sich tragen, Zorn könne berechtigt sein, solange er nicht in Gewalt umschlage. Völlerei? Müsse manchmal sein. Und Neid, das sei in Brechts Stück Annas Neid auf diejenigen, die Sünden begehen dürften. Die einzige wirkliche Sünde, sie nennt sie „bourgeois“, ist für Peaches Habsucht – was angesichts ihrer systemkritischen Ansichten ebenso wenig verwundert wie dass sie Unzucht für ein elementares Bedürfnis hält. Frauen, sagt sie, sollten dabei nicht mehr nur Objekt, sondern Subjekt sein. Dabei gehe es gar nicht auschließlich um Sex, sondern dass sich Menschen in ihrer Haut wohlfühlten. „Ich sage niemandem: Du muss Orgien feiern“.

Menahem Pressler spielt Mozartsonaten

20.
Nov.
2017

Es ist kein Mangel an exzellenten Gesamteinspielungen der Klaviersonaten Mozarts. Man sollte also schon einen guten Grund haben, die Diskografie um eine weitere Aufnahme zu bereichern, und da darf man die Unternehmung des jetzt 93-jährigen Menahem Pressler schon tollkühn nennen. Vor zweieinhalb Jahren hat der Pianist die erste CD mit drei Mozartsonaten herausgebracht, nun folgt mit den Sonaten KV 333 und KV 457 sowie der Fantasie KV 475 die zweite. Aber abgesehen davon, dass Pressler, falls er in dem Tempo weitermacht, bei der letzten Veröffentlichung schon die Hundert überschritten haben dürfte und bei allem Respekt, den man dem Hochbetagten für seine Lebensleistung zollen muss: konkurrenzfähig ist diese Aufnahme nicht. Beim Konzert mag die Aura des Künstlers manches kompensieren, auf der CD kommen die pianistischen Defizite schonungslos ans Licht. Holprige Tonleitern, verhuschte Triller, trotz bedächtiger Tempi werfen ihn schon die Sechzehntel im 3. Satz von KV 333 fast aus der Spur, von klanglicher Gestaltung ganz zu schweigen. Alfred Brendel wäre das nicht passiert.

Menahem Pressler. Mozart Sonaten KV 333 und KV 457, Fantasie KV 475. La dolce volta 34 (Vertrieb Harmonia Mundi).

Christopher Rüping inszeniert „Lolita“ am Stuttgarter Schauspielhaus

06.
Nov.
2016

Viel Wind um Nichts

„Lolita, Licht meines Lebens, Feuer meiner Lenden. Meine Sünde, meine Seele“ – so schwärmt der 36-jährige Literaturprofessor Humbert Humbert in Vladimir Nabokovs Roman von seiner Angebeteten, der 12-jährigen Dolores Haze. Das Buch löste nach seinem Erscheinen 1957 einen Skandal aus. Man warf dem Autor Pornografie vor, der Bürgermeister des Städtchens Lolita in Texas stellte den Antrag, den Ortsnamen zu ändern. In Frankreich wurde „Lolita“ dreimal verboten, und das, obwohl in dem Buch gar keine explizit sexuellen Passagen vorkommen. Das Wort Lolita jedenfalls wurde fürderhin zum Synonym für den Typus der frühreifen Kindfrau – „Nymphchen“ nennt sie Humbert Humbert. Nabokovs Buch ist vor allem große Literatur, seine Qualität liegt in seiner Konstruktion, der Brillanz der Sprache und in der Ambivalenz, mit der man als Leser gleichzeitig Abscheu wie Sympathie für den kultivierten Kinderschänder Humbert Humbert empfinden kann.
Wer Lolita auf die Theaterbühne bringen möchte, täte gut daran, eine Konzeption zu haben, eine Idee davon, welchen Aspekt des Romans er beleuchten und vertiefen möchte. Da hapert er freilich bei Christopher Rüping, der als Ausgangspunkt für seine Inszenierung von Lolita am Schauspiel Stuttgart das Drehbuch genommen hat, das Vladimir Nabokov einst für Stanley Kubrick verfasste – der es für seinen Film „Lolita“ dann aber nicht verwendet hat, sondern sein eigenes Drehbuch schrieb. Konsequenterweise hat Rüping die Bühne gleich als Filmkulisse ausgestattet, man ist in Stuttgart sozusagen „am Set“. „Schnitt!“ heißt es da immer wieder, Regieanweisungen werden verlesen, schwarz gekleidetet Männchen mit Mikrofonen wuseln umher. Für Humberts Autofahrt mit Lolita durch die USA wird in Stuttgart ein oller Daimler fremdgeschüttelt, während Humbert am Lenkrad wackelt und auf einer Leinwand Landschaften vorüberziehen. Das ist alles so bemüht wie sinnfrei, denn tiefere Einblicke in Nabokovs Werk erschließen sich damit nicht – schlimmer noch: hier wird ein Klassiker der Weltliteratur heruntergebrochen auf unausgegorenes Experimentaltheater. Auch dass Rüping die Protagonisten von mehreren Schauspielern verkörpern lässt – wohl, um damit verschiedene Aspekte ihrer Persönlichkeit darzustellen – trägt eher zur Verwirrung bei, zumal er den Plot nach der Pause bewusst entgleisen lässt. Dann geht es auf der Bühne drunter und drüber, es wird geschrien und gemordet, auf Teufel komm raus will Rüping ans Licht zerren werden, was er in „Lolita“ an triebgesteuerten Obsessionen vermutet, ohne dass er den Charakteren dadurch näher kommen würde.
Das Gebläse der Windmaschinen kann symbolhaft für diese Produktion stehen, mit der der ohnehin ramponierte Ruf des Stuttgarter Schauspiels weiter leiden düfte: Viel Wind um nichts.

(Südkurier)

Maria Bill singt Lieder von Edith Piaf

19.
Okt.
2014

Große Kunst

piaf_4Das von Schickalsschlägen durchzogene Leben von Edith Piaf könnte als Beleg für die These gelten, dass große Kunst und großes Leid zusammengehören. Von der Cousine Ihrer Mutter, einer Bordellbesitzerin, in der Normandie aufgezogen, wird sie mit 17 schwanger, ihr (einziges) Kind stirbt zwei Jahre später. Mit 20 wird sie des Mordes an ihrem Vater verdächtigt, kommt in Untersuchungshaft, ihre Karriere scheint beendet. Doch sie rappelt sich wieder auf, wird zu einem gefeierten Weltstar. Yves Montand, Charles Aznavour und Jean Cocteau zählen zu ihren Liebhabern, doch die Liebe ihres Lebens, der Boxer Marcel Cerdan, kommt bei einem Flugzeugabsturz ums Leben. Mit 47 stirbt sie, ausgebrannt und alkoholabhängig, in Paris. In Edith Piafs Aufnahmen, im Timbre ihrer Stimme klingt dieses Leben, das auf uns in seiner verzehrenden Intensität gleichermaßen abschreckend wie anziehend wirkt, heute noch nach. Wer kann das singen?
Maria Bill. Zum Auftakt des 13. Stuttgarter Chansongfests im Renitenz-Theater gelingt der gebürtigen Schweizerin, unterstützt von dem großartigen Akkordeonisten Krzysztof Dobrek und Michael Hornek am Klavier das Kunststück, gleichzeitig in die Figur der Edith Piaf zu schlüpfen und deren Lieder doch neu zu interpretieren. In ihrem schwarzen Kleid wirkt die aparte 65-jährige ähnlich zart und fragil wie die Piaf. Doch anders als die auf der Bühne eher verschlossen wirkende Französin ist Maria Bill ein Energiebündel, eine vor Lebenslust vibrierende Frau, die mit ihrer Aura sofort das Publikum im gut gefüllten Theater in ihren Bann zieht. Im Stil großer Diseusen, mit ungemein wandlungsfähiger Stimme und körperlicher Präsenz lässt sie mit berühmten Chansons wie „La vie en rose“, „Sous le ciel de Paris“ und natürlich „Je ne regrette rien“ die Aufbruchstimmung der Nachkriegszeit in Montmartre noch einmal aufleben. Zwei faszinierende, kostbare Stunden, die am Ende ein merkwürdiges Gefühl hinterlassen. Sehnsucht? (StZ)

John Malkovich mit „The Infernal Comedy“ in Stuttgart

25.
Jun.
2012

Being Jack Unterweger

Schnellfickerschuhe: so nennt der Volksmund weiße Slipper wie diese. Wenn sie dann noch zusammen mit einer extragroßen Sonnenbrille und einem weißen Dandyanzug getragen werden, dazu ein schrill gemustertes Hemd, ist der Aufreißertyp perfekt. Aber sieht so auch ein Frauenmörder aus?
John Malkovich jedenfalls spielt in „ The Infernal Comedy“ in diesem Outfit den österreichischen Frauenmörder Jack Unterweger. Unterweger hatte 1974 eine 18-jährige Deutsche ermordet, wurde dafür zu lebenslanger Haft verurteilt und begann im Gefängnis zu schreiben, unter anderem seine Biografie „Fegefeuer oder die Reise ins Zuchthaus“. Nachdem er so als „Knastpoet“ zu Ruhm gekommen war, setzten sich führende Intellektuelle (u.a. Erich Fried und Elfriede Jelinek) für seine vorzeitige Freilassung ein. 1990 wurde Unterweger vorzeitig entlassen und bald in Österreich zu einer öffentlichen Figur, war Gast in Talkshows und schrieb für Zeitungen. Doch vier Jahre später war er wieder im Knast: wegen neunfachen Mordes an Prostituierten in Prag, Wien, Graz, Bregenz und Los Angeles. Alle wurden mit ihren Büstenhaltern erdrosselt. Nach der Urteilsverkündigung erhängte sich Unterweger in seiner Zelle.
Anfang 2008 hatte der Regisseur Michael Sturminger zusammen mit dem Dirigenten Martin Haselböck ein Musiktheaterprojekt konzipiert, in dem Unterweger quasi post mortem als Autor seiner eigenen Lebensgeschichte auftritt. Die Uraufführung mit John Malkovich als Hauptdarsteller war im Mai 2008 in Santa Monica, seitdem tourt die Produktion um die Welt und war nun im luftig besetzten Beethovensaal der Stuttgarter Liederhalle zu sehen.
Auf dessen Bühne stehen zunächst nur ein Tisch und ein Drehstuhl, auf dem Tisch ein Wasserglas und ein Stapel Bücher. Das Orchester Wiener Akademie sitzt dahinter und beginnt gleich temperamentvoll mit „L´enfer“ aus Christoph Willibald Glucks „Don Juan“, womit man auch musikalisch gleich beim Thema ist. Der Klang ist dumpf – was wohl an den Vorhängen liegt, mit denen das Orchester von drei Seiten zugehängt ist. Aber da kommt auch schon Malkovich herein, begrüßt das Publikum und entschuldigt sich für seinen Akzent mit einem Verweis auf den kalifornischen Gouverneur selbiger Provenienz: man werde als Österreicher den Zungenschlag halt einfach nicht los. Dann beginnt er mit seiner Lebensbeichte. Erzählt von seiner Mutter (seinen Vater, einen US-Soldaten, hat er nie kennengelernt) und ist damit auch gleich bei den Frauen, seinem Lebensthema: Sie bedeuteten ihm Himmel und Hölle. Dann steigt Malkovich von der Bühne und fängt, sardonisch grinsend, an, intime Fragen ans Publikum zu richten: wann sie denn das letzte Mal Spaß am Sex gehabt hätten? Vereinzeltes Kichern.
Nicht wenige Frauen, so erzählt er, hätten mit ihm schlafen wollen, nachdem er aus dem Gefängnis gekommen sei. „Sie wollten einfach einen Mörder ficken“. Wie sich Malkovich dabei in einer unwiderstehlichen Mischung aus Anmaßung und provokantem Charme in verborgene Sphären menschlicher Begierden vorantastet, zählt zu den stärksten Momenten des Abends. Hier wird aber auch deutlich, dass der Text sich weniger um Unterweger dreht, sondern Malkovich, dem virtuosen Darsteller ambivalenter Typen, auf den Leib geschrieben wurde. Aber so grandios der seine Rolle auch spielt: literarisch ist der Text zweifelhaft. Die Melange aus biografischer Schilderung und Reflexion wirkt auch auf Englisch über weite Strecken sprachlich unbeholfen, die aktuellen Anspielungen wirken aufgesetzt.
Auch von gelungenem Musiktheater kann nur ansatzweise die Rede sein. Die eingefügten Arien von Vivaldi, Mozart & Co. stehen in eher oberflächlichem Zusammenhang mit dem Thema, genauso wie die kleinen Szenen, in denen Malkovich die beiden Sopranistinnen (sehr gut: Bernarda Bobro, schwach: Martene Grimson) betatscht oder mit Büstenhaltern stranguliert. So bleibt der Abend eine One-Man-Show. Man war bei dem großen John Malkovich. Immerhin. (Mannheimer Morgen)

Die Familie Flöz mit „Garage d´Or“ im Theaterhaus Stuttgart

26.
Mai.
2012

Geplagte Männerseelen

Männer haben´s auch nicht leicht. Zuhause tanzen einem die halbwüchsigen Gören auf dem Kopf rum, dazu nervt die hochschwangere Ehefrau. Auch in der Stammkneipe ist man vor weiblichen Zumutungen sicher: da will man doch bloß mit seinen Kumpels einfach mal in Ruhe einen heben, aber zack, schon kommt die drahtige alte Wirtin und luchst einem die Spirituosenflasche wieder ab. Und nicht mal beim Psychodoktor findet man Hilfe: Der Typ ist genauso durchgeknallt wie man selbst. Kein Wunder, er ist ja schließlich auch bloß ein Mann. So bleibt nur der private Bastelkeller als letzter (irdischer) Rückzugsort, was auf die Dauer aber auch keine Lösung ist. Also ab in den Weltraum, am besten auf den Mond. Da gibt es keine Frauen. Bisher jedenfalls.

Familie Flöz heißt die freie Theatergruppe aus Berlin, die in ihrem Stück „Garage d´ Or“ den modernen Mann als beziehungsunfähigen, zum Eskapismus neigenden Trottel beschreibt, der die aus den Fugen geratene Welt vergeblich versucht, mittels Akkuschrauber und Fernbedienung zu bändigen. Segelschiffchen, Rakete und Fernrohr sind seine Fetische, mit deren Hilfe er sich in andere, bessere Welten träumt. Dahin, wo der Mann noch Mann sein kann.

Die fünf Schauspieler, vier Männer und eine Frau, agieren den ganzen Abend wortlos und mit karikierenden, karnevalähnlichen Masken auf dem Gesicht. Das schränkt nicht nur die theatralischen Mittel sehr ein. Es fördert auch eine Tendenz zur Vergröberung, zur klischeehaften Zuspitzung, und nicht zuletzt deshalb ähnelt das 90-minütige Stück einem boulevardesken, immer auf den nächsten Gag schielenden Slapsticktheater mit clownesken Einlagen. Ein Theaterstück im eigentlichen Sinne ist das nicht. Dass der Abend im ausverkauften Theaterhaus aber trotzdem ganz unterhaltsam ist, liegt an den eingefügten, sehr poetischen Videosequenzen und daran, dass einige Szenen ziemlich absurde, unerwartete Wendungen nehmen. Am Ende heben die Männer mit ihrer Selbstbaurakete tatsächlich ab. Und die Frauen gehen rocken. (StZ)

Das Musiktheaterprojekt „Smiling Doors“ im Kammertheater Stuttgart

21.
Dez.
2011

Die Zeit heilt alle Wunden. Du musst positiv denken. Wenn Du denkst, es geht nicht mehr, kommt irgendwo ein Lichtlein her.

So klingen sie, die zu Phrasen geronnenen Tröstungsversuche, die leeren Beschwichtigungsformeln, mit denen man jenen zu begegnen pflegt, die von einem Schicksalsschlag getroffen worden sind. In einer Szene des Musiktheaterprojekts „Smiling Doors“, das nun im Stuttgarter Kammertheater Premiere hatte, werden sie einem Mädchen, dessen Schwester gestorben ist, von allen Seiten immer wieder zugerufen. Eine Szene von großer Eindringlichkeit,in der sich sowohl die Hilflosigkeit der Rufer ausdrückt wie auch die Zumutung solcher Sätze für jene deutlich wird, für die ein existenzieller Verlust Realität geworden ist.

Wie soll man denn auch positiv denken können, wenn einem einfach bloß zum Heulen ist? Wenn die Trauer darüber, dass die Schwester gestorben ist, alles andere auslöscht, sogar die Gefühle für den Freund, der einen doch nur in den Arm nehmen will? Und was ist mit diesem verdammten Gott, der doch angeblich alles in seiner Hand hat?

Leben und Tod, Glück und Trauer, Himmel, Gott und Sinn, um die großen Fragen geht es in diesem sechzigminütigen Stück. Vierzehn Jugendliche, die zum Teil selber an Krebs erkrankt sind, haben dazu in mehrwöchigen Probenphasen musikalische Szenen entwickelt, in denen sie ihre Gedanken und Gefühle eingebracht haben. Unterstützt wurden sie dabei von der Leiterin der Jungen Oper, Barbara Tacchini, Margarethe Mehring-Fuchs von Element 3, einem Freiburger Verein zur Förderung der Jugendkultur, und dem Komponisten Bo Kuijpers.

Die erste Szene beginnt mit einem Frühlingsmorgen. Die Vögel zwitschern, drei Jugendliche schlendern umher und unterhalten sich, da setzt eine mystische Musik an und eine Tür öffnet sich, in der ein kleines Mädchen erscheint und eines der Kinder überredet, mit ihm hinter die Pforte zu kommen. Man ahnt hier, was später zur Gewissheit wird – es ist die Pforte zum Tod, und das kleinwüchsige Mädchen, das übrigens schon elf Jahre alt ist, spielt hier eine Art Todesengel, der sich mit seinem Laufrad unter die Schar mischt und während des ganzen Stücks immer präsent ist. „Nächste Station Himmel, Ausstieg in Fahrtrichtung rechts“, sagt es einmal ganz beiläufig, und da wird einem auch als Zuhörer etwas frostig zumute. „Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen“ heißt es bei Luther: Selten ist einem diese Tatsache derart subtil ins Bewusstsein gerufen worden wie hier.

Die verhandelten Themen sind ernst, aber das Stück besitzt auch eine berührende poetische Schicht, die nicht zuletzt der Authentizität der Texte geschuldet ist, die ja nicht von einem Autor, sondern von den Jugendlichen selber stammen. Unter denen gibt es sowohl echte Theatertalente wie begabte Dichter, Lou Strenger etwa: „Der Mensch lebt/Er gewöhnt sich daran/Der Mensch ist glücklich/Er gewöhnt sich daran/Der Mensch trauert/Er gewöhnt sich daran/Der Mensch liebt-“ Ja, das mit der Liebe ist etwas anderes. Was man ja auch allabendlich auf der großen Opernbühne gezeigt bekommt, auf der im Übrigen ebenfalls viel gestorben wird. Dass einem das Thema in diesem Stück trotzdem näher rückt als in vielen Operninszenierungen, liegt wohl nicht zuletzt daran, dass einige der Akteure tatsächlich schon selber dem Tod ins Auge geblickt haben.

Aber manchmal gibt es auch was zum Lachen. Wenn etwa der verträumte Barde mit den langen blonden Haaren auf seiner Klampfe immer wieder ansetzt, um sein Liebeslied zu singen und von der versammelten Schar seiner Kameraden ausgebuht wird. Er spielt das mit dem Selbstvertrauen eines stoischen Melancholikers, der weiß, dass seine Stunde kommen wird, und irgendwann, beim dritten oder vierten Versuch, ist da tatsächlich ein Mädchen, das sich von seinen holprigen Versen angesprochen fühlt.

Es gibt also Hoffnung. Auch für das Mädchen mit der toten Schwester. Die Trauer wird nicht ganz vergehen, sagt sie, aber das muss sie ja auch nicht, und so kann sie am Ende auch die Matratze, auf der ihre Schwester geschlafen hat, zur Seite räumen und Platz schaffen. Für ihr eigenes Leben.

Auch wenn es von der Jungen Oper produziert wurde, so ist das nachhaltig berührende Stück sicher keine Oper. Denn gesungen wird wenig, und die Musik hat eher unterstützende Funktion: das feine Gespinst aus Geräuschen, floskelhafter Melodik und Perkussion überdeckt nie die Szene, sondern verstärkt die Atmosphäre. Und das ist hier genug. (Stuttgarter Zeitung)

 

 

Hans Christian Andersens Märchen „Die Schneekönigin“ in der Stuttgarter Werkhalle

29.
Nov.
2011

Nadja Stübinger

Na, diese Art von Eltern kennt man doch. Gymnasiallehrer ist Gerdas Vater. Zwar schon etwas älter, will er aber immer noch ein toller Sporthecht sein, und knickt doch schon nach zwei Minuten mit dem Knöchel auf dem Basketballfeld um. Beruflich längst unkündbar, hat Papa seinen verbliebenen Ehrgeiz auf die Ausbildung seiner Kinder und aufs Kochen verteilt: „Bachforelle auf Gemüsebett“ soll´s am Abend geben. Der dezent eleganten Mutter im Hosenanzug ist es recht, dass sie nicht kochen muss. So kann sie noch an ihrem Text arbeiten.

Typische, bildungsorientierte Mittelschichtseltern also, wie sie vermutlich das Gros jener Erziehungsberechtigten stellen dürften, die mit ihren Kindern die Neuinszenierung von Hans Christian Andersens Märchen „Die Schneekönigin“ besuchen. Hasko Weber hat das Stück für die Werkhalle in der Türlenstrasse neu bearbeitet und inszeniert, und dass der Regisseur damit dem Publikum nicht nur in dieser Szene quasi den Spiegel vorhält, gehört zum Konzept. Denn Weber hat die Geschichte um den Jungen Kay, den die Schneekönigin in ein fernes kaltes Land entführt und der dann von seiner Freundin Gerda nach einigen abenteuerlichen Stationen wieder kraft ihres reinen Herzens gerettet wird in die Lebenswelt von heutigen Kindern und Jugendlichen versetzt. Dabei hat er sowohl die originalen Schauplätze wie das Personal kräftigen Retuschen unterzogen.

So zeigt das Bühnenbild ein verlassenes Fabrikgelände: Mit einer Pförtnerloge im Hintergrund, einer Reihe von Spinden und einem Anbau mit großen Lüftungslöchern. Davor eine freie Fläche, die auf der Gerda und Kay sich zum Basketballspielen treffen. Dieses Gelände bildet den Hintergrund für all die wundersamen Dinge, die dann im Verlauf des neunzigminütigen Stücks passieren. Obwohl Webers Bühnenadaption radikal aufräumt mit all den zeittypischen Ingredienzen von Andersens Märchen – es gibt hier weder Prinzessinnen noch Räuberbanden – lässt sie gleichwohl Raum für seinen fantastischen Kern, hält die Geschichte in der Schwebe zwischen Traum und Wirklichkeit. Dazu fährt sie ein Arsenal an schrillen Typen auf, wie man sie auch im Theater nicht allzu häufig erleben kann. Etwa Rolf, die Kanalratte: Ein haariger, verdreckter, aber gutmütiger Zottel, der sich von liegengebliebenen Pausenbroten ernährt und Gerda der ersten Hinweis auf den Verbleib des vermissten Kay gibt. Er ist von der Kostümabteilung mit der gleichen Liebe zum Detail ausgestattet worden wie das erbgeile Paar, das seine spinnerte Mutter im Rollstuhl durch die Gegend schiebt: er ein irrer Professor mit Pullunder und Hornbrille, sie eine Prolltussi mit Leopardenleggins – und die vorgeblich debile und gelähmte Mutter erweist sich schließlich als qietschfidele Alte, die ihre missratenen Kinder bloß zum Narren hält und Gerda schließlich weiterhilft. Nicht nur hier entwirft die Regie eine kleine, hoch verdichtete Farce, die mächtig Tempo in die Geschichte bringt und von Groß und Klein gleichermaßen begeistert akklamiert wird – und kriegt am Ende doch wieder die Kurve zurück in den Plot, der ja auch eine Art Entwicklungsroman ist: zwei Kinder schlagen sich mit der Welt herum und finden am Ende heraus, was wirklich wichtig ist im Leben.

In Andersens Märchen sind sie da gar erwachsen geworden, und erwachsener werden sind sie auch in Webers Fassung. Gerda, da sie quasi im Schnelldurchlauf Bekanntschaft gemacht hat mit allerlei wunderlichen Ausgeburten unserer Zeit – neben den erwähnten sind da noch ein durchgeknalltes Hotelierspaar und ein russischer Taxifahrer mit Rentierpullover, der sie schließlich an den Nordpol ins Schloss der Schneekönigin bringt.

Doch vor allem Kay hat dazugelernt.

Der würde so gerne – wie viele Jugendliche heutzutage – ein singender Superstar werden: mit kreischenden Fans, Ruhm und ganz viel Geld. Dafür würde er alles tun, sogar seine Seele verkaufen. Und indem er der Schneekönigin folgt, die verspricht, aus ihm einen Star zu machen, sofern er nur „cool“ genug ist, erliegt er schließlich genau jener Verführung, der heutige Jugendliche durch Formate wie „Deutschland sucht den Superstar“ dauernd ausgesetzt sind. So moralinsauer das nun klingen mag, so fantasievoll und selbstironisch ist das in der Werkhalle in Szene gesetzt. Nadja Stübinger spielt die Schneekönigin als eine Art vollends zu Eis gewordene Heidi Klum, eine mephistophelisch grinsende Karrierecoachin, die gegen Ende die Kinder im Publikum “Na, ward ihr auch alle schön böse?“ fragt. Und man kann ja die Faszination gut nachvollziehen, wenn Kay im Glitzeranzug im Rampenlicht seinen Song schmettert, begleitet von der exzellenten dreiköpfigen Combo „The frozen snowdogs“, die für die musikalische Begleitung des Abends zuständig ist. Schließlich gibt es ja auch noch eine Tanzbegleitung, und es darf als echter Regiecoup gelten, hierfür einen so spektakulären Breakdancer wie Sebastian Petrascu verpflichtet zu haben. Der wird zum einen schlüssig in den Plot integriert, bietet aber vor allem für die jüngeren im Publikum immer wieder Anlass für staunende Ahs und Ohs, wenn er wieder mal einen Einhandstand oder eine andere hochartistische Einlage gemacht hat.

Dass sie sich auf verschiedenen Ebenen rezipieren lässt, ist ohnehin eine der stärksten Qualitäten dieser am Ende mit Riesenbegeisterung aufgenommenen Inszenierung. Es ist wirklich für jeden etwas dabei: Jüngere Kinder staunen über die fantasievollen Kostüme und bekommen die Grundzüge der Handlung doch gut mit, die Älteren können sich nicht zuletzt an den liebevollen Details ergötzen, mit denen Hasko Weber die Szenerie intellektuell angereichert hat. Jascha, der russische Taxifahrer etwa, trinkt nicht nur gerne ein Gläschen Wodka, sondern übt sich auch im Obertongesang – was man aber nur mitbekommt, wenn man gut aufpasst.

Was aber jeder mitbekommt, sind der Schwung und die Leidenschaft, mit der hier das gesamte Ensemble bei der Sache ist. Michel Brandt (Kay) und Eléna Weiß (Gerda), beides Schauspielstudenten, fügen sich perfekt in das restliche Ensemble ein, bei dem Sabine Bräuning, Christian Schmidt, Anja Lechle und Bernhard Baier in jeweils drei verschiedene Rollen schlüpfen.

Gerdas warmes Herz lässt am Ende dann sogar die eisige Schneekönigin schmelzen. Und irgendwie herzerwärmt macht man sich nach diesem Stück auch auf den Heimweg. (Stuttgarter Zeitung)