Der Hohepriester des Klaviers

08.
Mrz.
2023

Grigory Sokolovs Recital in der Meisterpianistenreihe

Grigory Sokolovs Vorliebe für barocke Klaviermusik ist bekannt – seit Jahren spielt er Werke von Komponisten wie Rameau oder Couperin, die andere Pianisten in der Regel links liegen lassen. Bei seinem Recital innerhalb der Meisterpianistenreihe im Beethovensaal nun waren es Stücke des englischen Barockmeisters Henry Purcell, denen die komplette erste Programmhälfte gewidmet war: eine ohne Unterbrechungen gespielte Abfolge von Einzelwerken und drei Suiten, die Sokolov in fast meditativem Duktus zelebrierte, erlesen durchtrillert als zeitenthobene Preziosen. Eine Art mentale Fastenkur – mit dem überraschenden Effekt, dass man Mozarts Sonate Nr. 13 B-Dur – ein Stück, das, wenn überhaupt, von Großpianisten allenfalls als Auftaktwerk programmiert würde – hernach als jenes Wunderwerk an Komplexität und Ausdrucksvielfalt erlebte, das es für Mozarts Zeitgenossen auch gewesen sein dürfte.
Hörerfahrungen dieser Art sind es, die Sokolovs Klavierabende, zusammen mit ihren pianistischen Qualitäten, zu singulären Ereignissen machen: hier geschieht, das spürt man, etwas Unwiederbringliches, kann man existenzielle Erfahrungen machen, die sich auch durch eine Konservierung auf Tonträgern nicht reproduzieren lassen, weshalb Sokolov auch nur selten Konzertmitschnitte freigibt.
Mit Mozarts todtraurigem Adagio h-Moll KV 540 endete dann der offizielle Teil des Programms, dem, das ist bekannt, in der Regel noch ein umfangreicher Zugabenteil folgt – so auch hier. Spielte sich der dynamische Bereich bis dahin praktisch ausschließlich, wenn auch in unfassbarer Differenzierung, im Bereich von dreifachem Piano bis Mezzoforte ab, so öffnete Sokolov mit den Zugaben – zunächst Brahms´ Intermezzo op. 117/2, dann eine chopinsche Mazurka und schließlich zwei Préludes von Rachmaninov – den Klang bis ins Orchestrale, um dann mit den Trillern in Chopins Mazurka op. post. 68/2 wieder an die Klangwelt von Purcell anzuschließen und den dramaturgischen Bogen zu runden. Das Publikum war im sehr gut gefüllten Saal bis dahin längst im Sokolovtaumel, dem Hohepriester des Klaviers seine Ovationen stehend entgegenbringend, und eigentlich hätte es mit dieser fünften Zugabe gut sein können. Dann aber geschah etwas Ungeheures. In Alexander Silotis Bearbeitung von Bachs Präludium BWV entfaltet sich eine Art Cantus firmus in langen Notenwerten über einer Sechzehntelbegleitung, und mit welch kontemplativer Kraft Sokolov nun diese Klangschichten auffächerte und in den Raum stellte, hatte etwas Magisches. Klavierspiel, nicht mehr ganz von dieser Welt.

Frank Armbruster

Mit Blitz und Pulverdampf

05.
Feb.
2023

„Der Räuber Hotzenplotz“ an der Staatsoper Stuttgart

„Alles gut!“ ist, selbst wenn es nicht immer zutrifft, wohl eine der aktuell am häufigsten verwendeten Phrasen. Zum Ende der Geschichte um den Räuber Hotzenplotz passt sie aber auf jeden Fall: denn da hat die Großmutter ihre geliebte Kaffeemühle ebenso zurück wie Kasperl und Seppel die Freiheit samt ihrer Mützen wiederbekommen haben. Und auch der Wachtmeister Dimpfelmoser ist zufrieden, kann er doch den Räuber Hotzenplotz endlich hinter Schloss und Riegel bringen.
Vor gut 60 Jahren hat Otfried Preußler den ersten Band des Kinderbuchklassikers geschrieben, der in über 30 Sprachen übersetzt und um die 3 Millionen Mal verkauft wurde. Dreimal wurde er verfilmt, zuletzt 2022 von dem Schweizer Regisseur Michael Krummenacher, und x-fach als Theaterstück adaptiert. Überzeugende Bearbeitungen für die große Musiktheaterbühne aber gab es bislang noch nicht – ein Manko, dem die Staatstheater Stuttgart nun mit einer Neubearbeitung des Stoffes durch den Komponisten Sebastian Schwab abgeholfen haben. Und damit – darauf deuten die begeisterten Reaktionen nach der Premiere am Samstagabend hin – wohl einen nachhaltigen Erfolg landen werden.
Der dürfte nicht zuletzt darauf beruhen, dass das Regieteam um Elena Tzavara die komödiantischen Elemente des Stücks sehr wirkungsvoll in Bühnenaktion übersetzt hat und dabei auch das zum großen Teil aus Kindern bestehende Publikum in die Handlung miteinbezieht. Die inszenatorische Grundidee folgt dabei dem Vorbild des Kasperletheaters. Auf das hat sich Preußler selbst berufen, „Eine erzählte Kasperlgeschichte“ nannte er sein Buch in der Widmung an seine Töchter.
„Seid ihr alle da?“ wird das Publikum in Stuttgart folgerichtig gefragt, und auch das Bühnenbild nimmt diesen Topos insofern auf, als Elemente des kleinformatigen Puppentheaters auf die Dimensionen einer Opernbühne hochgezoomt werden. Wie in einer Manege treten die Protagonisten durch verschieden große Bühnenvorhänge auf und ab, deren Farben jeweils für eine Person und Örtlichkeit stehen: gelb steht für das Häuschen der Großmutter, grün ist der Räuberwald und die geheimnisvolle Welt des Zauberers Petrosilius Zwackelmann wird durch schimmerndes Schwarz symbolisiert. Das mag, gemessen an den Möglichkeiten eines Staatstheaters, etwas schlicht erscheinen. Allerdings gleicht die Regie dies durch allerhand Theatertricks und Effekte aus: wenn etwa Zwackelmann mittels Blitz und Pulverdampf den Seppel herbeizaubert gibt es viele überraschte Ahs und Ohs samt Szenenapplaus vom Publikum.
Dass der gut zweieinhalbstündige Abend wie im Fluge vergeht, liegt aber auch an den allesamt erstklassigen Darstellern. Das gilt für Kasperl (Elliott Carlton Hines) und Seppel (Dominic Große), die ebenso mit Hingabe spielen und singen wie Clare Tunney als leicht hysterische Fee Amaryllis und Torsten Hofmann als Wachtmeister Dimpfelmoser. Eine Paraderolle hat Heinz Göhrig als Zauberer Zwackelmann, Maria Theresa Ullrich gibt eine herrlich überkandidelte Großmutter. Franz Hawlata schließlich füllt die Hauptrolle des Räuber Hotzenplotz mit baritonaler Präsenz im Stimmlichen und einer Ambivalenz im Darstellerischen aus, die den Gesetzesbrecher trotz seiner Untaten auf subtile Weise sympathisch wirken lässt.
Man kann das Stück schon für kleinere Kinder ab etwa sechs Jahren vorbehaltlos empfehlen, was auch an den überaus fantasievollen Kostümen von Elisabeth Vogetseder liegt, die allein schon eine Augenweide sind. Vor allem aber daran, dass, gestützt durch eine dezente elektronische Verstärkung, durchweg verständlich gesungen und gesprochen wird: Man versteht (fast) jedes Wort. Dazu überfordert die Musik auch die Kleinen nicht. Sebastian Schwab hat hier eine veritable Theatermusik geschrieben, die sich bei vielen Genres bedient. Eben tönt es noch, tubagestützt, wie aus einem bayerischen Bierzelt, dann wähnt man sich plötzlich in einer mexikanischen Bodega. Zu Beginn des zweiten Teils scheint man sich gar kurz in eine Puccinioper verirrt zu haben, bevor es musicalmäßig schmissig weitergeht.
Ein buntes Stilpotpourri, das den gängigen Prämissen zeitgenössischen Komponierens nicht entsprechen mag, aber dazu betragen könnte, die Oper breiteren Bevölkerungsschichten zugänglich zu machen. Wäre unter seinen Vorgängerintendanten ein solches Stück auf dem Opernspielplan kaum vorstellbar gewesen, so dürfte es, gerade vor dem Hintergrund der anstehenden Sanierung und der damit zusammenhängenden Diskussion über das künftige Publikum, eine bewusste Entscheidung von Viktor Schoner gewesen sein, um zu demonstrieren: So elitär ist die Oper doch gar nicht. Zumindest nicht immer.

Nahtloses Zusammenspiel

27.
Jan.
2023

Das Klavierduo Lucas & Arthur Jussen in der Meisterpianistenreihe

Man könnte mal eine Typologie anlegen mit den verschiedenen Arten, wie Pianisten den Weg vom Flügel zu den Saaltüren zurücklegen. Da gibt es einige, die sich, gezeichnet von den gerade durchlittenen Anstrengungen, schwerfällig dem Ausgang entgegenschleppen. Manche begreifen die Distanz als Catwalk, den es mit Grandezza zu durchschreiten gilt, während man bei anderen wiederum den Eindruck hat, dass sie sich am liebsten mehr oder weniger unbemerkt verkrümeln wollen – sie sind ja zum Klavierspielen und nicht zum Schaulaufen gekommen. Ziemlich einzigartig dürfte nun die Manier sein, mit der das Klavierduo Lucas & Arthur Jussen bei ihrem Klavierabend im Stuttgarter Beethovensaal diese Strecke zurückgelegt hat: im Laufschritt nämlich. Als müssten sie hinter der Bühne noch dringend was erledigen, huschten die beiden nach jedem Stück mit einer Leichtfüßigkeit vom Podium, die vergessen ließ, dass sie eben noch auf höchst virtuose Weise Klavier gespielt haben.
Klavierduo ist bekanntlich, dem Punktklang der Instrumente geschuldet, eine heikle Disziplin: in der Regel braucht es lange Jahre gemeinsamer Arbeit, bis alle Asynchronitäten getilgt sind. Diese Qualität des nahtlosen Zusammenspiels erscheint bei den Jussen-Brüdern nun in einer Weise perfektioniert, die ihnen agogische Freiheiten ermöglicht wie man sie ansonsten von Solisten gewohnt ist. Das gilt sowohl für das vierhändige Spiel – wunderbar die atmende Phrasierung in Mendelssohns Andante und Allegro Brillante op. 92 wie auch in Schuberts berühmter Fantasie f-Moll D 940 – als auch für das Spiel an zwei Klavieren, das seinen Höhepunkt an diesem Abend in der atemberaubend hingelegten Klavierbearbeitung von Ravels „La Valse“ erreichte. Das Visionäre, Rauschhafte dieser Walzerapotheose, die in ihrer katastrophalen Zuspitzung gleichzeitig einen Abgesang auf eine Epoche darstellt, realisierten die hochbegabten Brüder derart mitreißend, dass der Wunsch nach Orchesterfarben gar nicht erst aufkam.

Das gilt nun nicht in gleichem Maße für Strawinskys „Le Sacre du Printemps“ in der zweiten Programmhälfte. Durch die Reduzierung auf zwei Flügel erscheint das ohnehin dominierende rhythmische Element des Werks auf eine den Klangeindruck deutlich nivellierende Weise verstärkt, daran konnte auch die fabelhafte Anschlagstechnik der beiden Pianisten nichts ändern. Die Ovationen waren gleichwohl verdient, eine Zugabe gab´s dann auch: „Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit“ aus BWV 106.

Frank Armbruster

Streichquartett der Zukunft

22.
Jan.
2023

Das vision string quartet begeisterte im Mozartsaal

Unter anderem als Wunschbild oder Zukunftsentwurf definiert das Wörterbuch den Begriff „Vision“ – und damit ist schon recht genau beschrieben, was sich hinter dem Namen vision string quartet verbirgt. Denn tatsächlich arbeiten die vier jungen Streicher – der Primarius Florian Willeitner ist derzeit wegen einer Handverletzung durch die Geigerin Byol Kang vertreten – mit ihrem Quartett an nichts weniger als an einer Vision dessen, wie die ehrwürdige Gattung Streichquartett in die Zukunft geführt werden kann. Denn machen wir uns nichts vor: das Gros der Besucher klassischer Kammermusikabende ist in der Regel im Rentenalter oder nicht viel davor. Und ob jüngeres Publikum nachrückt, ist die Frage.

Damit das gelingt, arbeitet das vision string quartet an mehreren Fronten. Eine davon ist das Erscheinungsbild. Im Netz sind die vier Visionäre mit coolen Videos unterwegs, und auch bei ihrem Auftritt im Mozartsaal am Samstagabend wirkten sie auf sympathische Weise nahbar. Sie tragen keine Fräcke, außer dem Cellisten spielen alle im Stehen, was sie vielleicht vom renommierten Artemis Quartett übernommen haben, bei dem sie studierten. Nun bewirkt ein lockerer Habitus noch keine große Kunst: in der Vergangenheit gab es bereits einige Streichquartette, die mit neuen Formaten experimentierten, kaum eines davon zählte freilich künstlerisch zur Elite.

Doch das ist beim vision string quartet völlig anders. Ihr Auftritt geriet zu einer Demonstration erlesener Streichquartettkunst, beginnend mit einer Quasi-Röntgenversion von Barbers berühmtem Adagio op.11 über das bitterernste, bekenntnishafte achte Streichquartett von Schostakowitsch bis zum blühenden Melos in Dvoráks G-Dur-Quartett op.106. Den eher gedeckt-herben Grundklang der drei Stammmitglieder erweiterte Byol Kang an der ersten Violine um strahlend helle Farben, insgesamt erschien jede Stimme, jeder Akkord minutiös ausgehört und austariert. Größte technische Kontrolle bei mitreißender emotionaler Beteiligtheit, so könnte man die Spielweise dieses Quartetts beschreiben. Von dessen Erweiterungen des Repertoires – hier sind wir bei der zweiten Front, an der das Quartett erfolgreich arbeitet – bekam man freilich nur durch die Zugabe etwas mit. „Plunk Ballad“ heißt das zwischen Jazz und Chinapop angesiedelte, selbst komponierte Pizzicatostück aus ihrer CD „Spektrum“, mit der sich das Quartett nach euphorischem Beifall vom Publikum verabschiedete. Vielleicht gibt es ja beim nächsten Konzert in Stuttgart mehr davon?

Teodor Currentzis dirigierte das SWR Symphonieorchester mit Werken von Berg und Schostakowitsch

20.
Jan.
2023

Es darf vielleicht als eines der vordringlichsten Verdienste von Teodor Currentzis gelten, dass er seit seinem Amtsantritt als Chefdirigent des SWR Symphonieorchesters den Sinn dafür geschärft hat, dass Musik mehr sein kann – oder mehr sein sollte? – als das Feierabendvergnügen eines gebildeten (oder sich dafür haltenden) Publikums. Bei Currentzis geht es immer um alles: Leben und Kunst bilden für ihn keine getrennten Sphären. Und wer sich einlässt auf die Kunst, sollte dafür brennen. Dafür spricht auch die Programmatik seiner Konzerte. Gern dirigiert er die schweren Brocken, darunter auch musikalische Weltentwürfe von Komponisten wie Mahler, Prokofjew oder Strawinsky; und auch für sein erstes Konzert 2023 standen nun mit Alban Bergs Violinkonzert und Dmitrij Schostakowitschs achter Sinfonie zwei Werke aus der Abteilung Bekenntnismusik auf dem Programm. Obwohl sie historisch nur wenige Jahre trennen – Bergs Werk entstand 1935, das von Schostakowitsch 1943 – gehören sie ästhetisch dennoch verschiedenen Welten an. In Bergs Konzert, gemäß den Prinzipien der Zweiten Wiener Schule zwölftönig komponiert, ist das Hintergrundrauschen der Spätromantik in Form subjektiver Expressivität, die auch mal sinnlich sein darf, noch deutlich wahrzunehmen. Bei Schostakowitsch dagegen ist von Romantik nichts mehr zu spüren: mag die Sinfonie auch der Dur-Moll-Tonalität verhaftet bleiben, so artikuliert sich hier ein in die Moderne geworfenes Individuum in all seiner Verzweiflung. Mit Klängen, die vor allem wahr, aber nicht mehr schön sein wollen.
Für das Berg-Konzert hatte Currentzis die Geigerin Vilde Frang eingeladen – eine Idealbesetzung, denn die norwegische Geigerin kann nicht nur von ihrer Erscheinung her wie eine Projektion jenes Engels gelten, der früh verstorbenen Manon Gropius, dem Alban Berg im Untertitel sein Werk gewidmet hat. Vor allem fügte sich ihr feinnerviges, jeder Nuance nachspürendes Spiel perfekt ein in das kammermusikalisch orientierte Klangbild, mit dem Berg sein Requiem entwarf.
Und wenn am Ende, nach dem versöhnenden Bach-Choral, die Seele des Mädchens in Form eines hohen Tons der Solovioline in himmlische Sphären entschwebte, so holte Currentzis die Hörer nach der Pause mit dem Beginn von Schostakowitschs Achter wieder auf den Boden zurück. Gleich die ersten Töne der tiefen Streicher setzten den Grundton als klingende Ausrufezeichen: hier wird Dringliches verhandelt. Schostakowitsch schrieb seine Achte unter dem Eindruck der Verheerungen des Zweiten Weltkriegs als schonungslose, nur ab und zu von Inseln der Glücksverheißung unterbrochene Darstellung des Grauens. Die überwältigende Wirkung dieses Werks im Großen verdankte Currentzis seiner akribisch genauen Gestaltung im Kleinen, einer messerscharfen, vom Orchester großartig umgesetzten Charakterisierung jeder Phrase in ihrem Ausdrucksgehalt, die die Hörer im voll besetzen Beethovensaal in permanenter Spannung hielt und am Ende zu Ovationen hinriss.
Und auch wenn, wie der SWR betont, das Programm schon vor Beginn des Ukrainekriegs feststand – wer will, kann diese Aufführung auch als verdecktes politisches Statement des derzeit wegen seiner Russlandbeziehungen stark umstrittenen Currentzis deuten: als Anklage des Kriegs in Zeiten des Kriegs.

Der Opernstar als Diseuse

16.
Jan.
2023

Maria Theresa Ullrich und Walter Sittler in der Staatsgalerie

„Glitzer und Gift der 20er Jahre“ – so heißt die erfolgreiche Ausstellung der Staatsgalerie Stuttgart mit Bildern, die George Grosz in Berlin gemalt hat. Grosz blickt darin hinter die Fassade der sogenannten Goldenen Zwanziger, in denen zwar die Kunst Konjunktur hatte, aber eben auch Ausbeutung und Verbrechen blühten. Musikalisch ist uns diese Zeit vor allem durch Lieder von Komponisten wie Kurt Weill oder Friedrich Hollaender präsent, und so lag es nahe, dass die Internationale Hugo-Wolf-Akademie den ersten Liederabend dieses Jahres im Kontext der Grosz-Ausstellung im restlos ausverkauften Vortragssaal der Staatsgalerie veranstaltet hat. Dazu hatte sie neben der Sopranistin Maria Theresa Ullrich und dem Pianisten Nicholas Kok auch den Schauspieler Walter Sittler eingeladen, der Auszüge aus Erich Kästners Roman „Fabian“ las – unter anderem die apokalyptische Traumsequenz aus dem vierzehnten Kapitel, die in der Drastik, mit der hier menschliche Abgründe geschildert werden, wie eine literarische Entsprechung zu Grosz` bildnerischem Schaffen wirkt. Ansonsten erscheint Kästners zeitdiagnostischer Scharfblick gemildert durch einen heiter-satirischen Tonfall – manchmal ist das Leben eben nur mit Humor auszuhalten, und wie Maria Theresa Ullrich dieser Ambivalenz, die sich auch in vielen Liedern der 20er Jahre findet, sängerisch Ausdruck verlieh, war schlichtweg grandios. Für eine Opernsängerin nämlich – Ullrich ist Ensemblemitglied an der benachbarten Staatsoper – können Chansons und Couplets wie Edmund Nicks „Die Barfrau“ oder Kurt Weills „Der Abschiedsbrief“ durchaus Herausforderungen darstellen: nicht jeder Opernstar ist eine Diseuse.
Doch Ullrich kann es. Im langen grünen, mittels Accessoires mal dezent auf mondän, dann auf verrucht getrimmten Kleid changierte sie virtuos zwischen Deklamation und Gesang und ließ, wenn es passte, ihrem volltönenden Mezzo auch mal freien Lauf. Auch was Körpersprache und Gestik anbelangt, stimmte da alles: hinreißend der Unschuldsblick, den sie Walter Sittler zu den Worten „Ich bin doch zu schade für einen allein“ in Hollaenders berühmtem Chanson „Ich weiß nicht, zu wem ich gehöre“ zuwarf. In seiner dramaturgischen Stimmigkeit und Professionalität – auch Ullrichs Ehemann Nicholas Kok trug als versierter Begleiter seinen Teil dazu bei – war das ein Auftritt, der, das kann man ohne Übertreibung sagen, auch größeren Bühnen zur Ehre gereichen würde. Vielleicht ja mal in der Staatsoper?

Kunstvoll unperfekt

02.
Jan.
2023

Erika Stucky performte im Theaterhaus

Erika Stucky ist Kult. Zum zehnten Mal in Folge hat sie nun an Neujahr die Veranstaltungssaison im Stuttgarter Theaterhaus eröffnet – ob es im Publikum welche gibt, fragt sie zu Beginn ins voll besetzte T2, die jedes Jahr dabei waren? Einige melden sich. Fünf Mal? Vielstimmiges Johlen. Zum ersten Mal? Auch ein paar.
In der Regel wissen die Besucher also, was sie an einem Stucky-Abend erwartet. Und insofern dürfte sich auch kaum einer gewundert haben, dass sich zunächst der Schlagzeuger Nelson Schaer auf den Boden setzt und mit seinen Drumsticks ausführlich leere Farbeimer bearbeitet. Nach einer Weile gesellt sich der Multiinstrumentalist Terry Edwards dazu und repetiert stoisch ein Riff auf den tiefen Saiten seiner E-Gitarre, ehe Erika Stucky, dezent rustikal im grünen Wollkleid, den ersten Song intoniert: „Why don´t we do it in the road?“. Ein früher Titel der Beatles, der damit auch das Stichwort liefert für den „Stuckys Roadshow“ überschriebenen Abend, denn ja – on the road war und ist die 1962 als Kind Schweizer Hippies in San Francisco geborene und in den 70er Jahren wieder in die eidgenössische Heimat zurückgekehrte Stucky ja wirklich, und so ist auch dieser Abend ein ziemlich wilder, multimedialer Trip durch Epochen, Länder und Landschaften. Auf den Bühnenhintergrund projizierte, erlesen vergrisselte Videos und Fotos zeigen die Performerin dabei in diversen Settings: mal tanzend auf dem Markusplatz in Venedig, mal glitzerfolienschwenkend vor Bergkulissen, und auch die musikalische Ebene entspricht dieser Ästhetik des kunstvoll Unperfekten. Denn was sie auch singt, ob Stevie Wonders „Superstition“, „Black Betty“ von Ram Jam oder Selbstkomponiertes wie den Kakerlakensong „Roach Hotel“, eine Anspielung auf das legendäre Chelsea Hotel – alles ist getragen von jener dezent trashigen Aura, die – Tom Waits lässt grüßen – Dilettantismus als Ausdruck von Authentizität adelt. Ihr selbst reicht dazu ein kleines Akkordeon zur Begleitung, dazu hat sie Musiker wie Terry Edwards, der sich nicht zu schade ist, auf Minitrompete und Billigsaxofon minutenlang Belanglosigkeiten zu dudeln.
Am Ende, nach allerhand bizarren und lustigen Geschichten, Jodeln und schrägen Songs, wird es gar funeral. „He´s watching me“ singt Erika Stucky, während der Film zeigt, wie sie durch einen Friedhof geht und sich dort auf Gräber legt. Meint sie´s ernst? Oder ist das bloß wieder ironische Anverwandlung? Die Zugabe, der böse „Hundehassersong“, lässt Letzteres vermuten.

Werbung für die britische Musik

01.
Jan.
2023

Dass der Jazzklarinettist Benny Goodman Anfang der 1940er Jahre Benjamin Britten um die Komposition eines Klarinettenkonzerts bat, verwundert nicht. Britten galt schon damals als einer der führenden Komponisten seiner Zeit, gerade seine Solokonzerte zählen zu den Meisterwerken ihrer Gattungen. Dass aus dem Konzert nichts wurde, ist den Umständen des Krieges geschuldet – immerhin aber überdauerte der Entwurf zum ersten Satz, der erst 1989 von Colin Matthews vollendet und durch Bearbeitungen zweier weiterer Britten-Werke ergänzt wurde. Die Erkenntnis, dass dieses Stück eine veritable Ergänzung des Repertoires ist, ist auch dem Klarinettisten Sebastian Manz zu verdanken, das das Werk nun beim Silvesterkonzert mit dem SWR Symphonieorchester im Stuttgarter Beethovensaal aufgeführt hat. Vor allem im ersten Satz kann dabei die Klarinette ihr gesamtes Spektrum an Ausdrucksmöglichkeiten zeigen: weitgespannte, ab und an durch Glissandi und dirty tones angereicherte Kantilenen, virtuose Figurationen und Akkordbrechungen, alles integriert in einen vielfarbigen, die Soloklarinette niemals überlagernden Orchestersatz. Manz, selbst Soloklarinettist des Orchesters, spielte das mit der ihm eigenen musikantischen Emphase, technisch brillant und dabei kein Risiko scheuend – da gab es sogar Applaus zwischen den Sätzen aus dem erfreulich gut besetzten Saal. Und am Ende, zusammen mit Manz´ Kollegen Dirk Altmann, gar eine Zugabe: den 3. Satz aus Poulencs Sonate für zwei Klarinetten.
Auch das restliche Programm bestand aus Werken britischer Komponisten, die, aus welchen Gründen auch immer, hierzulande immer noch unterrepräsentiert sind. Neben Britten gilt dies vor allem für Ralph Vaughan Williams. Roger Norrington hatte sich einst als Chefdirigent des SWR-Orchesters für ihn stark gemacht hat, und auch seine „Serenade to Music“ darf als Ausweis seiner Qualitäten als Symphoniker gelten.
Dass dieser Abend insgesamt eine Werbung für die britische Musik war, wie sie eindrücklicher kaum hätte sein können, lag an dem perfekt disponierten Orchester, aber auch am Dirigenten Andrew Manze. Neben zweier Adaptionen für Streicher von Werken Henry Purcells war es vor allem seine überwältigende Realisierung von Edward Elgars grandiosen „Enigma-Variationen“, die am Ende des Konzert für jene Ovationen sorgte, die von der famos hingelegten Zugabe nochmals angefeuert wurde: Elgars March No. 1 „Pomp and Circumstance“. Was auch sonst?

Weihnachtsstimmung garantiert

22.
Dez.
2022

Das Konzert des Freiburger Barockorchesters im Mozartsaal

Woran´s bloß liegt, dass zur Erzeugung weihnachtlicher Gemütszustände meist Barockmusik gewählt wird? Möglicherweise steckt ja eine Art akustisches Framing dahinter: das riesige Repertoire an Weihnachtsmusiken aus dieser Zeit, angeführt von Bachs „Weihnachtsoratorium“, könnte dazu geführt haben, dass wir allein durch Cembaloglitzern oder Truhenorgelgesäusel in Verbindung mit winterlicher Witterung in besinnliche Festtagstimmung geraten.
Weihnachtskonzerte ohne Barockmusik jedenfalls sind selten. Und das war auch beim Konzert des Freiburger Barockorchesters mit Werken von J.S. Bach und Johann Kuhnau im gut besetzten Mozartsaal so. Kuhnau? Der dürfte wohl vor allem Pianisten ein Begriff sein. „Frische Clavier-Früchte“ überschrieb Kuhnau eine seiner Sonatensammlungen, und in vielen Sammelbänden und Klavierschulen finden sich Werke aus seiner Feder. Die Kirchenmusik von Bachs Vorgänger als Leipziger Thomaskantor, der auch als Wissenschaftler und Verfasser satirischer Romane berühmt war, ist heute freilich nur wenig bekannt. Zwar komponierte Kuhnau, wie später auch Bach, die Musik für Gottesdienste und kirchliche Feiertage überwiegend selbst. Doch zum einen ist davon wenig erhalten, zum anderen ist seine Autorschaft bei vielen der überlieferten Abschriften nicht gesichert.
Dazu zählt auch die Weihnachtskantate „Uns ist ein Kind geboren“, mit denen das FBO sein Konzert eröffnete. Ein apart instrumentiertes und in seiner Anlage auf italienische Einflüsse verweisendes Werk, das eine Zeitlang dem großen J.S. Bach zugeschrieben wurde. Dass es sich – von wem immer es auch stammen mag – auf jeden Fall um eine barocke Preziose handelt, zeigte das FBO auf eindringliche Weise. Dessen Qualitäten sind ja hinlänglich bekannt, und mit dem Chor Vox Luminis hat es sich einen Partner ausgesucht, das seiner instrumentalen Kompetenz auch in vokaler Hinsicht entspricht. Das von Lionel Meunier handverlesene Ensemble verfügt dabei über jene Homogenität und Transparenz, die auch den Orchesterklang auszeichnen, und da die Instrumente nach Kräften sprachaffin artikulierten, entstand hier ein Klangbild, das in puncto Beweglichkeit und Differenziertheit des Ausdrucks seinesgleichen sucht. Dass die aus dem Chor rekrutierten Solisten nicht alle auf demselben Niveau sangen, war da ebenso zu verschmerzen sein wie der Umstand, dass in größer besetzen Werke wie Kuhnaus Magnificat C-Dur, vor allem aber in Bachs Magnificat Es-Dur BWV 243a das quasi dirigentenlose Musizieren mitunter an seine Grenzen kam. Zwar strahlte der von der zentral platzierten Continuogruppe ausgegebene Puls bis in die Peripherie aus, auch der selbst mitsingende Lionel Meunier hatte seine neben ihm gruppierten Sänger immer im Blick. Rhythmisch freilich blieb hie und da schon mal was im Ungefähren und auch was die klangliche Austarierung anbelangt  – die trockene Akustik des Mozartsaals tat das Ihrige dazu – stellten sich mitunter leichte Disbalancen ein. Vorweihnachtliche Stimmung war jedenfalls, zumal nach der betörend schön musizierten Zugabe, garantiert: „Dona nobis pacem“ aus Bachs Messe h-Moll.

Loderndes Feuer

29.
Nov.
2022

Martha Argerich und Mischa Maisky haben in der Meisterpianistenreihe gespielt

Lange Schlangen vor den Ticketkassen, noch kurz vor Konzertbeginn – das ist eher selten geworden in der Liederhalle. Allerdings war an diesem Abend in der Meisterpianistenreihe auch eine Legende angekündigt: Martha Argerich. Die 81 Jahre alte Argentinierin ist zusammen mit Maurizio Pollini und Daniel Barenboim eine der letzten noch aktiven Vertreterinnen einer großen Pianistengeneration, und, das lässt sich nach diesem Abend konstatieren, wahrscheinlich die pianistisch fitteste von allen. Zwar hatte sie nicht solo gespielt – ihre Vorliebe für Kammermusik ist seit vielen Jahren bekannt – sondern mit dem Cellisten Mischa Maisky einen ihrer langjährigen Weggefährten mitgebracht. Die mitunter fast lakonisch wirkende Leichtigkeit, mit der sie die pianistisch durchaus anspruchsvollen Klavierparts der Sonaten von Beethoven, Debussy und Chopin quasi aus dem Ärmel schüttelte, war dennoch verblüffend. Technisch ist noch alles da: die Flexibilität im Handgelenk, mit der sie rasiermesserscharfe Oktavengänge stanzt, die fabelhafte Anschlagspräzision, und dann dieses stupende Klangbewusstsein, mit dem sie dem Steinway ein Riesenspektrum an Farben entlockt. Getragen ist dies alles von einem im Inneren lodernden Feuer, das allerdings, im Gegensatz zum Temperament von Mischa Maisky, ein eher kühles ist: mögen auch beide im Grunde romantische Musikerseelen sein, so neigt Maisky mit seinem monochrom sonoren, von Dauervibrato energisierten Celloton doch zum expressiven Schwärmen. Leicht könnte er dann seiner Neigung zum Überphrasieren erliegen, der Argerich mit ihrer rhythmischen Klarheit und formalen Stringenz aber erfolgreich entgegenwirkte. Und so ergänzten sich beide formidabel. Beethovens Sonate g-Moll op. 5/2 war von dramatischem Furor belebt, eher romantisch denn klassisch, Debussys Sonate d-Moll durchzogen von atmosphärischem Zauber. Und in Chopins groß angelegter Sonate g-Moll op. 65 waren dann beide in ihrem Element: das altmodische Wort „Grandezza“ fällt einem ein, um diese Mischung aus Souveränität, Eleganz und Leidenschaft zu charakterisieren, die im Finale in einer grandios angelegten Steigerung kulminierte. Als sie dann am Ende händchenhaltend die Ovationen entgegennahmen wirkten sie ein bisschen wie ein altes Ehepaar – das freilich noch genügend Energie für vier Zugaben hatte: Chopins Polonaise brillante op. 3, Brahms´ Lerchengesang, Schumanns Fantasiestück op. 73 No. 1 und Kreislers „Liebesleid“.