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Donizettis Lucia di Lammermoor an der Staatsoper Stuttgart

06.
Okt.
2010

Wenn die Seele als Vogel gen Himmel fliegt

Man muss fast bis zum Ende warten. Doch dann, in der Arie, in der Edgardo auf dem Gräberfeld von Ravenswood sein Leid über die treulose Lucia klagt, erfüllt sich nicht nur jene Vorahnung des tragischen Ausgangs, die von Beginn an wie ein dräuender Schatten über der Oper hängt, sondern auch die, die eine ältere Dame in der Pause äußerte: jetzt fehle nur noch, meinte sie halb im Scherz, dass sich der Tenor beim Singen ans Herz greife. Was Dmytro Popov kurz vor seinem finalen Selbstmord denn auch nach Kräften tut, wie er überhaupt reichlich von jenen klischeehaften Gesten Gebrauch macht, auf die manche Sänger immer dann zurückgreifen, wenn sie von der Regie in puncto körpersprachliche Direktiven weitgehend unbehelligt bleiben: beschwörend die Arme heben, schmachtend ins Publikum schauen. Letzteres dürfte ihm nicht zuletzt deshalb leichtgefallen sein, als er sich, wie auch das restliche sängerische Personal, ohnehin überwiegend dort aufhält, wo er nach Meinung der Regisseurin Olga Motta offenbar hingehört: vorne an der Rampe, Blick ins Publikum gerichtet. Dabei war aber die Aufführung von Gaetano Donizettis Dramma tragico Lucia di Lammermoor nicht konzertant angekündigt, selbst wenn man mitunter den Eindruck hatte, dass die Bühnenhandlung zum Stillstand kommt, sobald gesungen wird.

Nun passiert in diesem Stück das Entscheidende tatsächlich in der Musik. Salvatore Cammarano hat für sein Libretto die Handlung von Walter Scotts Roman “The Bride of Lammermoor” auf den Grundkonflikt reduziert: Lucia liebt Edgardo, den Todfeind ihres Bruders Enrico, welcher sie aus Gründen des Machterhalts nötigt, Lord Arturo zu heiraten. Lucia wird darüber wahnsinnig, meuchelt noch in der Hochzeitsnacht den frisch Vermählten und stirbt bald drauf selber, worauf sich auch Edgardo ins Messer stürzt. Das wäre als Plot eines romantischen Melodramma nicht ungewöhnlich, hätte nicht Donizetti dazu eine Musik komponiert, die manche formalen Konventionen sprengt und in der die Emotionen bis zum Siedepunkt erhitzt werden. Vor allem Lucia gerät in einen psychischen Grenzzustand, der in jener Wahnsinnsarie gipfelt, wo sich die Koloraturen vom Wortsinn „Färbung“ emanzipieren und verselbständigen. Es ist der Sopranistin Ana Durlovski zu verdanken, dass diese Szene dann zum überwältigenden Höhepunkt des Abends wird. Schon bei ihrem ersten Auftritt im Park von Ravenswood vermittelt sie, die die Rolle kurzfristig an Stelle der vorgesehehen Simone Schneider übernommen hatte, jenen Hang zur Hysterie, der sie nach dem Unterschreiben des Ehevertrags in jenes irre Lachen ausbrechen lässt, das andeutet, dass die den Bezug zur Realität schon verloren hat. In der Wahnsinnsarie vermittelt sie dann glaubhaft jene totale Entgrenzung der Persönlichkeit, die zusammenfällt mit der des musikalischen Materials. Die leicht kehlige Schärfe, die ihren ungemein alerten und höhensicheren Sopran vor der Pause noch etwas eng und verschlossen wirken ließ, weicht hier einem nervig-kühlen, schimmernden Ton, der gerade im Piano auch weich-verhangene Facetten offenbart. Dass die Szene nicht wie meistens üblich von der Flöte, sondern von der ursprünglich vom Komponisten vorgesehenen Glasharmonika (souverän: Sascha Reckert) begleitet wird, trägt einen weiteren Teil zur transzendenten Wirkung der Szene bei.

Dass die Aufführung überhaupt musikalisch in vielen Aspekten zu überzeugen weiß, liegt vor allem am Dirigenten Patrick Fournillier, der das Staatsorchester nachhaltig unter Strom setzt: mit rhythmischer Energie und einem guten Schuss Pathos und Emphase in den Chor- und Ensembleszenen, aber auch mit viel Gefühl für metrischen Puls in den lyrischen Cabaletten und deren wiegenden Triolenbegleitungen. Nun gilt Lucia di Lammermoor als die Vollendung der Belcantooper, was den Sängern Verpflichtung sein muss: zu einem feinen, auf dem Atem gesungenen Legato, zu Verzierungskompetenz und dynamischer Variabilität. An letzterer mangelt es allerdings sowohl Tito You, der den Enrico ansonsten mit viel baritonalem Glanz singt, wie auch dem sonoren, wenngleich mitunter etwas polternden Liang Li als Raimondo. Joel Prieto gibt den schnöseligen Lord Arturo mit fein geführtem, aber auch etwas leichtgewichtigen Tenor. Dmytro Popov als Edgardo besitzt zweifellos ein enormes Potential: mit profunder Tiefe, einer strahlenden, aber nie metallischen Höhe und souverän gesetzten Spitzentönen. Für einen Belcantisten vermisst man etwas farbliche Finesse und dynamische Differenzierung, dazu neigt er mitunter zu tenoralen Triumphgesten, wo sie nicht angebracht sind – was man aber auch der Regie anlasten muss. Denn neben Rampensingen gibt es auf der Bühne nicht viel an schlüssiger Interaktion, die in der Lage wäre, dem Publikum etwas von der Motivation der Protagonisten zu vermitteln. Warum treibt Enrico mit seiner Schwester erst so ein übles Spiel und spielt hinterher den Leidenden? Warum wird Lucia sogar von ihrem Vertrauten Raimondo hintergangen? Stattdessen viel Chargieren und sinnfreie Zeitfüllaktionen: wenn Enrico in der Vertragsszene minutenlang Lucias Brautkleid schwenkt oder Edgardo in der Liebesszene vor seiner Lucia kniet und ihr steif den Arm tätschelt. Am nachdrücklichsten offenbart sich die Hilflosigkeit einer überforderten Regie in der Behandlung des ansonsten tadellos singenden Chors. Wenn der nicht gerade mit seinen überdimensionierten Mikadostäben stochert, steht er meist entweder apart kostümiert herum oder vertreibt sich die Zeit mit Aktionen aus dem Theatergestenfundus wie angeregt Parlieren, vergnügt Anstoßen oder betreten Dreinblicken.

Olga Mottas seltene Ansätze, dem Stück so etwas wie szenische Deutung zu verleihen, führen meist zu platten Bildern wie dem im Hintergrund installierten Planeten, der immer wieder von einer Wolke verfinstert wird (Achtung: Unheil!) oder einer Farbsymbolik, die Rot mit Blut und Liebe und Schwarz mit Tod assoziiert. Dazu kommen hübsch arrangierte Bühnentableaus und am Ende sogar ein kleiner Varietézaubertrick: Bevor sich Edgardo umbringt, erscheint ihm noch einmal Lucia auf einem Podest, vom Himmel kommt ein Schlauch aus rotem Stoff, der sie erst verdeckt, dann fällt – und weg ist auch Lucia. Edgardo folgt ihr in den Tod, man sieht, wie seine Seele entschwindet: als Vogelschatten, der gen Himmel fliegt.

Beide Szenen zeigen das erschütternde ästhetisch-reflexive Niveau dieser Inszenierung – und das an einem Haus, das sich einmal auf die Fahnen geschrieben hat, Vorreiter eines intellektuell geschärften, zeitgenössisch avancierten Musiktheaters zu sein. Vielleicht müsste man Daniel Kehlmann mal einladen. Historische Kostüme, schönes Licht und darüberhinaus kaum störende Eingriffe – dem bekennenden Regietheaterhasser könnte das gefallen.