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Eva Poettgen ist Inspizientin am Staatstheater Stuttgart

27.
Jul.
2010

Der Fels in der Brandung

Freitagabend, 18 Uhr im Stuttgarter Opernhaus. Es ist noch eine Stunde bis zum Beginn von Mozarts Oper „Figaros Hochzeit“ in der Inszenierung von Nigel Lowery, eine ganz normale Repertoirevorstellung. Die Saaltüren sind noch geschlossen, aber auf und hinter der Bühne sind die Vorbereitungen in vollem Gange. Im Schnitt sind bei einer Aufführung etwa zwanzig Bühnentechniker im Einsatz, dazu kommen vier Beleuchter, zwei Schlosser und meist noch ein Rüstmeister. Längst haben die Bühnenarbeiter die Kulissen aufgebaut, in der Maske wird eifrig geschminkt, und auch die Inspizientin Eva Poettgen macht ihren Rundgang über die Bühne um zu kontrollieren, ob alles in Ordnung ist. Dabei geht es ihr vor allem um jene heiklen Stellen, an denen für die Sänger Gefahren lauern: ein fehlendes Geländer könnte ebenso fatale Folgen haben wie eine nicht weiß markierte Treppenkante – vor allem dann, wenn die Akteure bei verdunkelter Bühne auf-oder abtreten. All diese Details muss Eva Poettgen im Kopf haben – und noch viel mehr. Sie ist eine von sechs Inspizienten der Stuttgarter Staatstheater, wobei das Überprüfen der Bühne dabei noch zu den kleineren ihrer Aufgaben zählt. Sie sei „Mädchen für alles und Fels in der Brandung“, sagt Eva Poettgen, und das trifft es wohl ziemlich gut. Denn an ihrem Inspizientenpult an der Bühnenseite laufen alle Fäden zusammen, die für eine Opernaufführung von Bedeutung sind. Mittels einer Sprechanlage mit 48 Tasten ist sie mit allen wichtigen Räumen des Hauses verbunden, per Funkgerät gibt sie Anweisungen an die Technik – Obermaschinerie, Untermaschinerie, Schlosserei, dazu kommen Beleuchtung und Ton.

Noch 15 Minuten bis zur Vorstellungsbeginn. „Gong Bühne, Gong Zuschauerraum“ ruft Eva Poettgen ins Mikrofon, während draußen vor den Treppen des Opernhauses einige Besucher noch am Eckensee flanieren. Zwei Inspizientenpulte sind in der Regel bei einer Aufführung besetzt, an jeder Bühnenseite eines. Das an der Nordseite, wo sie heute sitzt, ist das wichtigere. Von hier treten die meisten Sänger auf und ab, von hier wird der gesamte technische Ablauf überwacht. In dem Klavierauszug, den Eva Poettgen ständig mitverfolgt, sind alle Details handschriftlich vermerkt. Besonders wichtig ist der Ablauf der Verwandlungen – so nennt man in der Theatersprache, wenn das Bühnenbild verändert wird. Beim Figaro ist das ziemlich oft der Fall, ständig werden Bühnenelemente herein- und wieder hinausgeschoben, jede einzelne Vewandlung muss vom Inspizienten initiiert werden.

Es ist 18 Uhr 55, allmählich füllt sich der Saal. Eva Poettgen ruft über die Sprechanlage die Sänger und die Musiker auf ihre Plätze. Dann geht’s los. Die Saaltüren werden geschlossen, der Dirigent betritt das Podium im Orchestergraben und hebt den Taktstock. Während der Ouvertüre warten die Sänger der ersten Szene neben dem Inspizientenpult auf ihren Auftritt. „Achtung, Figaro! Achtung, Susanna, losgehen bitte!“ Eva Poettgen ist ständig gefordert. Muss Akteure rufen, Requisiten überprüfen, Einsätze für die Beleuchter geben. „Stimmungen“ nennt man die Einstellungen des Bühnenlichts, die in Zahlen codiert werden. „Achtung für 30“ ruft sie dann zum Beispiel in ihr Walkie-Talkie, um die entsprechende Einstellung beim Beleuchter abzurufen.

Inspizient ist ein Job, in den man hineinwächst. Es gibt zwar eine offizielle Ausbildung in Berlin, doch am Stuttgarter Haus hat die keiner durchlaufen. 1984, noch während der Intendanz von Hans-Peter Doll, hat Eva Poettgen – die übrigens eine Tochter des bekannten Stuttgarter Regisseurs Ernst Poettgen ist – am Staatstheater angefangen. Davor war sie in der Statisterie, ihre Schwester hatte sie „mal mitgeschleppt“, wie sie sagt. Dann übernahm sie ab und an eine Aushilfe bei der Requisite oder Beleuchtung, und irgendwann brauchte man eine Inspizientenvertretung für die Theaterferien. Eva Poettgen wurde gefragt, ob sie das machen wollte. Seitdem ist sie hauptberuflich dabei.

Auf den geschätzten 2 Quadratmetern ihres Arbeitsplatz hat sich Theatergeschichte im Lauf der Jahrzehnte sedimentiert. Die analoge Technik mit den drei Bühnenmonitoren stammt noch aus den sechziger Jahren, von den Wänden blättert die Farbe ab, ein windschiefer Erste-Hilfe-Kasten wird mit Klebeband notdürftig zusammengehalten. Auch ein roter Feuerlöscher wartet auf einen Einsatz, und in der Ecke steht gar ein Eimer mit Wischmopp, doch den hat keine Putzfrau vergessen: Im 2. Akt braucht ihn Helene Schneiderman, die die Marcellina singt, auf der Bühne. Nicht zuletzt dient das Inspizientenpult auch als Versorgungsstation. Wenn den Sängern der Schweiß auf der Stirn steht – im Wandschrank finden sich Handtücher, und auch der erhitzte Dirigent bekommt hier zur Erfrischung ein Glas Wasser gereicht.

Einmal darf Eva Poettgen sogar selber ins Geschehen eingreifen. In einer Szene beteuert die Gräfin gegenüber ihrem Gatten, dass sie alleine sei – obwohl sich Cherubino in der Kammer versteckt hat. Eva Poettgen wirft dann hinter der Bühne geräuschvoll einen Holzbock um – was prompt den Verdacht des Grafen erregt.

Pauken und Trompeten für´s Finale!“ ruft sie die Musiker für das Ende des 2. Aktes auf die Bühne. Die Ansagen sind stets in allen relevanten Räumen zu vernehmen, ab und an kann es aber auch mal passieren, dass jemand die Ansage überhört. Wie vor einigen Jahren, als ein Sänger vor seinem Auftritt seine Rolle per Kopfhörer nachhörte und einfach nicht erschien. Momente, in denen auch nervenstarke Inspizienten schon mal in Stress geraten können. „Da bricht einem der Schweiß aus“, sagt Eva Poettgen, aber zum Glück passiert sowas sehr selten. Dreißig lange Sekunden war es damals schwarz auf der Bühne, ehe der Sänger aufgespürt und zu seinem Einsatzort gebracht werden konnte.

In der Regel aber funktioniert alles nach Plan. Auch im 3. und 4. Akt, wenn sich die Intrigen und Liebeswirrungen zwischen Graf und Gräfin, Figaro und Susanna zunächst verdichten und im glücklichen Ende zur allseitigen Zufriedenheit lösen.

Trotz der Daueranspannung liebt Eva Poettgen ihren Beruf: Besser, so sagt sie, könne man es doch nicht haben. Immer wieder lerne man neue Menschen kennen, außerdem dürfe man ständig schöne Musik hören. Auch seien die Sänger heute viel lockerer, man begegne sich auf Augenhöhe. „Früher hatten die alle so kleine selbstgebastelte Heiligenscheine“. Tatsächlich herrscht hinter der Stuttgarter Opernbühne eine ausnehmend freundliche, kollegiale Stimmung, was sicher auch zum Erfolg beiträgt. Wer sich nicht wohlfühlt, kann schwer eine gute Leistung bringen.

Klarinetten fürs Finale, bitte!“ Die Oper steuert auf das Ende zu. Graf Almaviva erkennt beschämt, dass er statt Susanna seine eigene Frau verführen wollte und erlaubt schließlich die Hochzeit Figaros. Zum Schlussapplaus ist es dann der Regieassistent, der die Auf- und Abtritte der Sänger choreografiert. „Vorgehen, beugen, zurück!“, kommandiert er vom Bühnenrand aus. Es gibt einige Vorhänge, ehe der Beifall abbrandet und schließlich versiegt. Die Saaltüren gehen auf, Eva Poettgen klappt ihren Klavierauszug zu. Es ist genau 22 Uhr 37. Am nächsten Morgen sind wieder Proben.

Erschienen in der Sonderbeilage Oper der StZ