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Jonathan Doves Pinocchio an der Stuttgarter Staatsoper

28.
Jan.
2011

Wer kommt mit ins Spassland?

Ein derart enthusiasmiertes Publikum gab es wohl noch selten an der Stuttgarter Staatsoper wie nun nach der Premiere von Jonathan Doves Familienoper „Pinocchios Abenteuer“ – was durchaus nicht nur an den trampelnden und rhythmisch klatschenden Kindern und Jugendlichen lag. Auch die Erwachsenen schauten überwiegend beglückt drein, sodass die Ovationen und Bravos gar kein Ende nehmen wollten. Und das völlig zurecht: Denn was das Team unter der Leitung des Regisseurs Markus Bothe da auf die Bühne gebracht hat, ist sicher eine der schönsten und fantasievollsten Produktionen der letzten Jahre, ein Fest für Augen und Ohren. Und es wurde ja auch mal Zeit, dass eine Produktion für den Nachwuchs mit dem gleichen Aufwand erarbeitet wird wie eine „große“ Oper. Ansonsten werden Kinderopern ja gerne ins Kammertheater abgestellt, oft mit kärglichen Bühnenbildern, Miniinstrumentalensembles und 1b-Sängern ausgestattet – was ja grundsätzlich auch in Ordnung ist.

Hier ist aber alles mal anders: das fängt damit an, dass das Stück mit knapp drei Stunden inklusive Pause (von denen keine Sekunde langweilig ist!) abendfüllend ist, aber vor allem szenisch und musikalisch wird aus dem Vollen geschöpft. Die Bezeichnung „Familienoper“ trifft die Sache insofern gut, da sich das Stück keineswegs nur an Kinder richtet. Jonathan Dove und sein Librettist Alasdair Middleton haben Carlo Collodis Geschichte von der Holzpuppe Pinocchio, die nach ihrer aufregenden Reise durch die Menschenwelt, in der sie, hin- und hergerissen zwischen den Lockungen der Kindheit und den Forderungen der Erwachsenen am Ende ein richtiger Junge wird, als das genommen, was sie ist: Ein Märchen. In denen liegt bekanntlich viel verborgen an Weltwissen, Mythen und Tiefenpsychologie, und so kann man die Abenteuer des kleinen Pinocchio verstehen als Reise in jene Bereiche des eigenen Seins, die noch nicht völlig besetzt sind von Verantwortung und Vernunft. Wer kennt nicht die Versuchung, einmal abzutauchen in ein regel-und verpflichtungsfreies „Spassland“, wer möchte nicht mal gerne im Haus einer schönen blauen Fee aufgenommen werden? Collodis „Pinocchio“ ist auf vielfältige Weise ein Gegenentwurf zur ökonomisierten modernen Welt, in dem aber auch die großen Fragen verhandelt werden: woher kommen wir, was ist wichtig im Leben, was hat es mit der Liebe auf sich und mit dem Tod?

Dass Pinocchios Eskapaden hier einen derartigen Bühnenzauber verbreiten, liegt aber vor allem an der Fantasie und der Detailliebe, mit denen Robert Schweer (Bühnenbild) und Justina Klimczyk (Kostüme) das Stück auf die Bühne gebracht haben. Die Kostüme sind schlichtweg spektakulär, die konsequent zweidimensionalen Bühnenelemente wurden ästhetisch an die Bilderbücher des 19. Jahrhunderts angelehnt und werden mitunter so überraschend von allen Seiten herein- und herausgefahren,  dass es immer wieder erstaunte Ahs und Ohs im Publikum gibt: wenn man sich plötzlich in einer Korallenunterwasserwelt wiederfindet oder sich im Spassland Super-, Bat- und Spiderman ein Stelldichein geben. Aktualisierungen wie diese bleiben aber selten und dann auch so subtil, dass sie nie aufdringlich werden – immer steht das Zeitenthobene, Traumgleiche im Vordergrund.

Was auch für die Musik von  Jonathan Dove gilt: der spielt virtuos mit den musikalischen Stilen und Genres, ohne dass es jemals eklektisch klänge. Da bläst das formidabel spielende Staatsorchester (Leitung: David Parry) mal puccinimäßig die Backen auf, um hernach in John-Williams-Manier Stimmungen zu malen, dazu gibt es gruslig-schöne Gruftmusiken und überdrehte Zirkusklänge: ein Riesenvergnügen, das noch gesteigert wird, als auch der Chor merklich Spass an der Sache hat und sich das Besetzungsbüro auch bei den Sängern nicht hat lumpen lassen. Tina Hörhold singt und spielt den Pinocchio umwerfend, Michael Ebbecke gibt einen kernigen Gepetto. Yuko Kakuta ist die Rolle der Grille auf den zwitschernden Sopran geschieben, und Catriona Smith stattet die Rolle der blauen Fee mit jener Wärme und Sensibilität aus, die sie braucht. Und wer wissen will, wie Füchse und Kater und Schnecken singen, der muss schon selber hingehen.(Stuttgarter Zeitung)