Beiträge im Archiv Mai 2012

Journalisten und SWR-Verantwortliche diskutierten in Baden-Baden über die Zukunft der SWR-Orchester

03.
Mai.
2012

Kunst gegen Mammon

Eines muss man dem SWR-Intendanten Peter Boudgoust zugestehen: er versteckt sich nicht. Von Anfang an hat er sich der Diskussion um die Fusionierung der beiden SWR-Orchester aus Stuttgart und Baden-Baden/Freiburg offen gestellt. Doch wenn damit von seiner Seite vielleicht eine leise Hoffnung verbunden gewesen sein sollte, der Tonfall des zu erwartenden Protests würde sich im zivilisierten Rahmen halten, so hat er sich getäuscht. Als „Kulturbarbar“, der der „geistigen Verflachung“ Vorschub leiste, wurde er auch von durchaus prominenter Seite verunglimpft, der Komponist Helmut Lachenmann witterte gar schon „die Verblödung“ des Abendlands. Dass sich Boudgoust von derlei Angriffen persönlich verletzt fühlt, merkte man ihm auch bei der von Birgit Wentzien straff geleiteten Podiumsdiskussion an, die er nun zusammen mit dem SWR-Hörfunkdirektor Bernhard Hermann, der Leiterin der Fernsehkultur im SWR, Martina Zöllner, und den drei Journalisten Gerhard Rohde (Neue Musikzeitung), Alexander Dick (Badische Zeitung) und Götz Thieme (Stuttgarter Zeitung) in Baden-Baden geführt hat und die als Livestream im Internet zu verfolgen war. Als „Grobianismus“ bezeichnete Boudgoust gleich zu Beginn diese Ausfälle, anfügend, dass er immer versucht habe, die Diskussion sachlich zu führen. Seit langem ist seine Grundposition klar, und er machte sie gleich zu Beginn noch einmal deutlich: Auch er wolle, so Boudgoust, die Zusammenlegung der Orchester nicht, aber die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen im SWR hätten sich nun mal geändert. Einfach weiter zu machen wie bisher, sei deshalb unverantwortlich. Die Alternative zur Fusion sei, die beiden existierenden Orchester zur künstlerischen Bedeutungslosigkeit herunterzusparen.

Der Verlauf der Diskussion brachte kaum neue Argumente, sondern machte eher den grundsätzlichen Konflikt deutlich, der sich auf die Formel bringen lässt: Hier der (nicht in Geld zu beziffernde) Wert der Kunst, da die Sachzwänge eines (gebührenfinanzierten) Senders. Thieme stellte die regionale Struktur des SWR mit Außenstudios und Korrespondentenbüros in Frage, prophezeite für den Fusionsfall künstlerische Verwerfungen und beklagte die akute chronische Unterfinanzierung der SWR-Orchester. Rohde grantelte über kunstferne Unternehmensberater, brachte den Kulturbegriff ins Spiel und betonte die nachgeordnete Rolle der Medien, die selbst gar keine Kultur schaffen würden – eine Vorlage, die Boudgoust bereitwillig aufnahm: Auftrag des Rundfunks sei es eben nicht, Kultur zu produzieren, sondern sie zu verbreiten, womit er auch gleich die Gelegenheit erhielt, die Rundfunkorchester überhaupt in Frage zu stellen: Schließlich seien sie einst als Arbeitsorchester gegründet worden, um den Mangel an geeigneten Schallaufzeichnungen auszugleichen, eine Situation, die sich mittlerweile völlig geändert habe. Gleichwohl, so Boudgoust, fühle er sich dem Erbe der Orchestertradition verpflichtet. Dicks Verweis auf den geringen Anteil der Orchesterausgaben im Vergleich zum Gesamtetat setzte Boudgoust entgegen, dass 80% des Senderetats feste Ausgaben seien und nur 200 Millionen im Jahr als freie Programmmittel zur Verfügung stünden. Von Zuhörerseite wurde das Argument ins Spiel gebracht, warum man denn statt bei der Kultur nicht am Sport spare, Alexander Dicks Hinweis auf ein buntes SWR3-Heft mit Grillwerbung zielte in dieselbe Richtung. Martina Zöllner schließlich betonte den „Schutzwert der Kultur“ und räumte selbstkritisch ein, dass die Hochkultur im Fernsehen vielleicht doch ein bisschen unterrepräsentiert sei. Man müsse den Menschen zeigen, dass „Kultur Spaß macht“. Kultur als Spaßmacher: das ist dann vielleicht doch ein grundsätzliches Missverständnis. (Stuttgarter Zeitung)

 

Die ganze Diskussion im Netz unter http://www.swr.de/direkt/-/id=8760410/did=9659850/pv=video/nid=8760410/9q3ctq/index.html.

 

 

Retroklingeltöne

03.
Mai.
2012

Früher war es das Nokia Tune, das in öffentlichen Räumen regelmäßig Verwirrung stiftete. Heute bimmelt es wieder wie in vordigitalen Zeiten.

Die Älteren erinnern sich: Sobald irgendwo in einem Raum mit mehreren Menschen das charakteristische Nokia-Dideldü zu hören war, ging das kollektive Genestel los. Einkaufstaschen wurden hektisch durchgewühlt, Jacken und Mäntel gefilzt, um nach einem Blick auf das Display meist festzustellen: war doch nicht meins. Das war in der Anfangsphase des mobilen Telefonierens. Nokia war damals mit weitem Abstand Marktführer, und die meisten Menschen verspürten noch keinerlei Bedürfnis, einen anderen als den voreingestellten Rufton zu verwenden, was auch daran lag, dass allein schon der Besitz eines Mobiltelefons als Ausweis von Fortschrittlichkeit galt. Bald aber besaßen fast alle ein Handy. Und als man damit nicht nur beliebig Klingeltöne herunterladen, sondern sogar individuelle Soundfiles aufspielen konnte, mauserte sich der individuelle Rufton zum Distinktionsmerkmal, er vermittelte, wie Kleidung oder Auto, plötzlich eine Botschaft. Mein Klingeln zeigt, wie ich wirken will: Technobeats (cool und jung!), Beethovens Fünfte (kulturbeflissen!) oder das Lachen der eigenen Sprößlinge (stolze Eltern!) – es galt, mit Bedacht auszuwählen. Doch mit diesem Stress ist jetzt Schluss, Gott sei Dank. Denn wie von einem kollektiven, unbewussten Selektionsprozess gesteuert hat sich seit einiger Zeit wieder ein Rufton in ähnlicher Weise flächendeckend durchgesetzt wie einst das Nokia tune. „Classic bell“ oder „Retro“ heißt der Klingelton, der an die alten analogen Haustelefone erinnert und nicht nur die Sehnsucht nach den guten vordigitalen Zeiten zum Ausdruck bringt, sondern auch wieder viele Menschen gleichzeitig nach ihren Handys suchen lässt. Ganz wie früher. (Stuttgarter Zeitung)