Das Neujahrskonzert der Stuttgarter Philharmoniker

03.
Jan.
2016

Schulterfrei geht´s besser

Das Neujahrskonzert der Stuttgarter Philharmoniker

Bei Silvester- und Neujahrskonzerten darf es gern mal etwas lockerer zugehen als innerhalb des sinfonischen Normalbetriebs. Der Dirigent Nicholas Milton trug am Neujahrsabend zwar ebenso förmlich Frack wie die Musiker der Stuttgarter Philharmoniker, erwies sich aber als launiger Conferencier, der mit Charme und Witz durch das Programm führte. Dabei war er merklich in ebenso leicht aufgekratzter Post-Silvesterstimmung wie das Publikum, das sich vermutlich freute, statt Grieg und Brahms mal Gershwin und Bernstein hören zu können. Zu Recht, denn das ist einfach tolle Musik. Müsste man darauf wetten, was in, sagen wir: hundert Jahren, noch gespielt werden wird von der Musik des 20. Jahrhunderts – vieles spräche für „West Side Story“ und „Porgy and Bess“. Falls es bis dahin überhaupt noch Orchester gibt.
Konzerte wie dieses dürften auf jeden Fall dazu beitragen, denn so spielfreudig und mitreißend wie an diesem Abend hat man die Philharmoniker selten gehört. Das groovte, dass es eine Freude war, dazu ein Klang wie aus einem Guss, gekrönt durch fabelhafte Bläsersoli! Ja, und dieser Nicholas Milton hat offenbar ein Händchen für Stücke wie die Ouvertüre aus „West Side Story“und ihre unvergänglichen Melodien wie „Tonight“ oder „Somewhere“, die er elegant und mit großer Geste ausspielen ließ und dabei das Tempo elastisch im Fluss hielt. Arturo Marquez´ „Danzón Nr.2“ wurde durch Gustavo Dudamel und sein Jugendorchester bekannt, die es aber wohl nicht derart funkensprühend gespielt haben wie an diesem Abend die Philharmoniker, eine kleine rhythmische Klippe im Zusammenspiel sicher umschiffend. Großartig auch die Orchesteradaptionen von Gershwins „The Man I Love“ und „Someone To Watch Over Me“ wie der Brasilienohrwurm „Tico Tico“. Und dann kam sie: Angela Denoke. Über ihre Qualitäten als Sopranistin muss man nicht reden, doch bei den Songs aus Bernsteins „West Side Story“ tat sie sich erstmal schwer. Trotz ebenmäßiger Legatobögen und Vokalformung fehlte da eine gewisse Erdigkeit, ein Hauch Broadway – mit klassischer Technik allein wird man dieser Musik nicht gerecht, und das schien auch Angela Denoke zu spüren, der eine leicht angestrengte Befangenheit anzumerken war.
Die hatte sie dann aber nach der Pause ebenso abgelegt wie das Hängerchenkleid, das sie gegen ein schulterfreies tauschte. Und siehe da: bei Friedrich Hollaenders „Ich bin von Kopf bis Fuß“ oder „Ich weiß nicht zu wem ich gehöre“ wirkte sie wie befreit. Mit Mut zum diseusenhaften Parlando traf sie den Tonfall dieser Liedklassiker, blickte dabei den Herrn in den vorderen Reihen tief in die Augen, um hernach des Konzertmeisters Haar zu tätscheln. Der war davon zum Glück nicht nachhaltig irritiert: In Bernsteins „Sinfonischen Tänzen“ aus der West Side Story agierte er so souverän wie seine Kollegen. Drei Zugaben, Ovationen. (StZ)

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