Beiträge im Archiv Mai 2022

Denkwürdig

16.
Mai.
2022

René Jacobs führte in LB Bachs h-Moll-Messe auf

Vor 30 Jahren brachte René Jacobs zusammen mit dem RIAS-Kammerchor und der Akademie für Alte Musik Berlin eine Aufnahme von Bachs h-Moll-Messe heraus, die Furore machte. Vor kurzem erschien nun eine Neueinspielung mit denselben Ensembles, die wohl die Spitze der aktuellen Alte-Musik-Interpretation markiert. Wenn Jacobs in dieser Besetzung – nur die männlichen Solisten entsprechen nicht denen der Aufnahme – Bachs Opus summum im Rahmen der Ludwigsburger Schlossfestspiele aufführt, könnte das eigentlich als Toptermin für Barockmusikliebhaber gelten – doch trotz moderater Kartenpreise war das Ludwigsburger Forum allenfalls zur Hälfte gefüllt. Ob´s am Wetter lag oder an den Corona-Spätfolgen? Schwer zu sagen. Die gekommen waren, erlebten jedenfalls einen in vielerlei Hinsicht denkwürdigen Abend.
Das lag zum einen an der selten derart perfekt zu hörenden Verzahnung der Vokal- und Instrumentalpartien. Jacobs hatte den Chor größtenteils vor dem erhöht sitzenden Orchester platziert und die Solisten auch in die Chorpartien eingebunden. Schon im Kyrie verblüffte dabei die artikulatorische Beweglichkeit des RIAS-Kammerchors, der auch in virtuosesten Koloraturenpassagen wie im Sanctus nicht an Leuchtkraft einbüßte. Dem standen die Solisten in nichts nach. Wunderbar die verschmelzenden Soprane im „Christe“-Duett, und auch der für den erkrankten Sebastian Kohlhepp aus dem Chor als Tenorsolist einspringende Shimon Yoshida machte seine Sache exzellent.
Auf demselben hohen Niveau agierte das Orchester. Sehr kompakt die Streicher, dazu ein leichtfüßig den Puls vorgebendes Continuo. Und wann hört man einmal solch rund timbrierte Barockoboen und einen Naturhornisten, der die Figurationen im „Quoniam tu solus sanctus“ derart geschmeidig beherrscht?
Eine weniger nüchterne Akustik als die des Forums, und das Bach-Glück wäre perfekt gewesen. Und ob richtige Blumen für die Musiker nicht doch schöner sind als die am Ende von Intendant Sandig verteilten Blühwiesen-Patenschaften?

Das Zittern des Subjekts

07.
Mai.
2022

Das Aris Quartett im Mozartsaal

In diesem Stück, das spürt man nach wenigen Sekunden, geht es um Existenzielles. Dem quasi aus dem Nichts anschwellenden G-Dur Akkord zu Beginn von Schuberts Streichquartett Nr. 15 G-Dur folgt eine abrupt dramatische Wendung nach Moll, dem sich einige Takte weiter eine tremologrundierte Melodie von abgrundtiefer Traurigkeit anschließt. Gibt es, scheint Schubert hier zu fragen, überhaupt Grund zur Hoffnung?
Endgültige Antworten darauf lassen sich, wie meist in großer Kunst, am Ende nicht finden. Doch die Dringlichkeit und Radikalität, mit der das Aris Quartett bei seinem Konzert im Mozartsaal die schubertschen Erosionsprozesse offengelegt hat, dürfte kaum einer der Zuhörer je vergessen. Der erste Satz war hier durchzogen von einem nervös-treibenden Puls, unterbrochen von kurz aufscheinenden Momenten der Glücksverheißung; in den unfassbar homogen gespielten Tremolopassagen vernahm man das Zittern eines bis ins Mark erschütterten Subjekts. Einzig das Trio im irrlichternden Scherzo bot etwas Trost, ehe das Finale als zwischen Dur und Moll hin- und herschwankender Tanz auf dem Vulkan hereinbrach.
Doch das war beileibe nicht alles beim Konzert dieses noch sehr jungen Streichquartetts, das sich nach vielen Wettbewerbserfolgen aufgemacht hat, in die Spitze der Quartettszene zu spielen. Wenn es da nicht längst ist: denn auch ein Haydn-Streichquartett wie das op. 76/4 hört man in derart ausdifferenzierter Charakterisierung nur selten. Mit leichter Hand und kompaktem Klang wurde hier musiziert, mit sparsam als Ausdrucksmittel eingesetzem Vibrato, Leichtes und Ernstes mit Geschmack und Stilbewusstsein in der Waage haltend.
Und was die Vier schließlich in Erwin Schulhoffs „Fünf Stücken für Streichquartett“ an technischer Brillanz und rhythmischer Finesse zeigten war geeignet, selbst abgebrühte Kammermusikliebhaber in Verblüffung zu versetzen. Warum bloß, fragt man sich, hört man dieses geniale Amalgam aus Folklore, Expressionismus und Dada nicht öfter?
(STZ)