Beiträge im Archiv April 2011

Kay Johannsen dirigierte in der Stiftskirche Mahlers zweite Sinfonie

26.
Apr.
2011

Akustik als Handicap

Dass eine Aufführung von Mahlers zweiter Sinfonie nie zum Konzertalltag zählen wird, dafür hat der Komponist schon selber gesorgt: Zu umfangreich ist die geforderte Besetzung mit Fernorchester und zusätzlichem Schlagwerk, dazu ein gemischter Chor und zwei solistische Frauenstimmen. Im normalen Repertoirebetrieb ist das kaum zu stemmen. Doch auch der übersteigerte Anspruch des Werks selber, der weit über das hinausging, was man bis dahin unter Sinfonik verstand, trägt zu der besonderen Aura bei, die eine Aufführung der Zweiten bis heute umgibt. Mahler selber hat sich zum inneren Programm der Sinfonie sehr dezidiert geäußert – doch auch wenn man diese Erläuterungen nicht kennt, kann sich sich der heilsgeschichtliche, weltübergreifende Anspruch des Stückes beim Hören plastisch vermitteln. Am deutlichsten natürlich im Finale: wenn zum „großen Appell“ unter Pauken und Posaunen die Gräber aufspringen und die versammelte Menschheit sich aufmacht, zum jüngsten Gericht vor den Schöpfer zu treten, wenn dann der einsame (Flöten-)vogel seinen Ruf erschallen lässt und schließlich der Chor pianissimo sein „Aufersteh´n“ in die unerträglich spannungsvolle Stille murmelt. Eine Gänsehautstelle bis heute.

Das war auch am Karfreitagabend so, als Kay Johannsen zusammen mit seiner Stuttgarter Kantorei und der Stiftsphilharmonie Stuttgart die Zweite aufgeführt hat – und die eindrückliche Wirkung lag vor allem am Chor selber, der zwar wie gefordert sehr leise, aber eben auch sehr klangvoll und homogen sang. Dass der Chor dabei nicht wie üblich hinter dem Orchester, sondern links an der Seite platziert war, störte an dieser Stelle noch kaum, wurde aber im weiteren Verlauf des Finales ein kaum zu kompensierendes Handicap, denn ein wirklich geschlossener Gesamtklang wollte sich einfach nicht einstellen. Nun war die Stiftskirche akustisch schon immer problematisch, und die Renovierung hat daran nicht grundsätzlich etwas geändert. Dem Klang fehlt es an Wärme und Grundton, Bässe wummern, die Reflexionen sind diffus. Eine Riesenbesetzung wie hier zwingt dazu noch zu Aufstellungskompromissen: so waren Holzbläser und Schlagwerk hinten, Hörner auf der linken, Trompeten und Posaunen auf der rechten Seite und die Streicher überall dazwischen platziert, sodass Kay Johannsen in drei Richtungen zugleich dirigieren musste – was immer wieder zu Koordinationsproblemen führt, am deutlichsten im Scherzo. Angesichts der Widrigkeiten gelang vieles noch ausgesprochen gut: Johannsen mühte sich mit Erfolg, die Tempoübergänge organisch zu gestalten, das Orchester, allen voran das fabelhafte Blech, spielte technisch weitgehend ohne Fehl und Tadel. Auch mit den Solistinnen Felicitas Fuchs und Eva Leitner hatte Johannsen ein glückliches Händchen. Und doch kam diese Aufführung über ein bloße Bewältigung der Partitur zu selten hinaus, als dass man diesen Abend als besonderen im Gedächtnis bewahren würde. Für manch anderes Stück hätte das genügt. Für Mahler war es zu wenig.  (Stuttgarter Zeitung)

Ich brauche keine Millionen

25.
Apr.
2011

Lieber Dr. Pravna Sluzba,

lieber Dr. Jimmy Sanchez, lieber Mosola Leseti und all die anderen, die mich seit Wochen mit immer neuen Gewinnbenachrichtigungen via E-Mail bedenken: Ich kann das Geld nicht annehmen. Nicht die 935 400 Euro, die ich bei Interlotto Europe gewonnen habe, auch nicht die 950 000 Euro vom Euromillion Notification Award. Selbst die 19,7 Millionen, die mir ein bei einem Flugzeugabsturz verstorbener südafrikanischer Geschäftsmann namens George Brumley hinterlassen hat, muss ich leider ablehnen. Es tut mir wirklich leid.
Es ist nämlich einfach so: wenn man mal ein bestimmtes Alter erreicht hat, hat man auch einiges über das Leben gelernt. Und dazu gehört, dass zu viel Geld nicht glücklich macht. Man stelle sich doch nur das Leben als Multimillionär mal vor: Ich müsste, aus Angst vor Entführungen, Bodyguards einstellen. Meine Kinder könnten nur noch mit Personenschutz zur Schule gehen, und in meiner neuen Villa in Halbhöhenlage würde ich in ständiger Angst vor Einbrechern leben. Mich selbst würden keinerlei pekuniäre Anreize mehr dazu anregen, meine bescheidenen Fähigkeiten in nützliche Tätigkeiten umzusetzen. Kurz: Ich würde ein fauler, nichtsnutziger Spätaufsteher, ein verachtenswertes Subjekt.
Da wohne ich lieber weiterhin bescheiden und verfasse gegen Zeilenhonorar Artikel. Einen Vorschlag zur Verwendung meines gewonnenen Geldes hätte ich aber doch: Investieren Sie einen Teil davon doch in bessere Übersetzungsprogramme.
Anreden wie „Achtung, Sieger” und Formulierungen wie „Uffnen sich mit Irem Anspruch unverzuglch fur Ihre Preisfonds” sind angesichts der frohen Botschaften, die Sie verkünden, einfach nicht angemessen. Über die Kosten machen Sie sich mal keine Gedanken. Buchen Sie es einfach von meinem Gewinnkonto ab. Ist ja genug drauf.

Mit freundlichen Grüßen,
Ihr Frank Armbruster
(Stuttgarter Zeitung)

Kann man Kabel hören?

18.
Apr.
2011

Strippenziehen

Es dürfte wohl kaum noch passionierte Audiophile geben, die Kabeln und Stromversorgung keine Aufmerksamkeit widmen, selbst wenn sich in einschlägigen Internetforen die Fraktion der Kabelklangskeptiker immer noch ihre festzementierten Vorurteile behauptet. Doch zugegeben: das Thema ist derart komplex, dass es Spekulation wie Geschäftemacherei Tür und Tor öffnet. Die Preiskalkulation bei High-End-Kabeln ist kaum nachzuvollziehen, und mit entsprechend forcierter Werbung, gekauften Testberichten und entsprechender Imagebildung lässt sich schnelles Geld verdienen.
Bei Kabeln sind Unterschiede zwar im Hörtest nachzuvollziehen, durch die Vielzahl an möglichen Anlagenkonstellationen aber schwer zu objektivieren. Dazu kommt der bei Hörvergleichen nicht zu unterschätzende Faktor der Autosuggestion, den auszuschalten selbst Profis schwer fällt. Man weiß, dass da jetzt ein megateures Kabel aus dem Edelholzkistchen dranhängt – und flugs ist  man schon etwas erwartungsfroh gestimmt. Da helfen im Zweifelsfall nur Blindtests – die aber auch ihre Tücken haben.

Lautsprecherkabel

Ich lege deshalb Wert darauf, hier keine allgemeingültigen Aussagen über das Thema zu treffen, sondern nur über meine persönlichen Erfahrungen zu schreiben. Für das Thema sensibilisiert wurde ich erst Ende der 90er Jahre, als die Kabeldiskussion in den entsprechenden Fachzeitschriften so richtig in Gang kam. Davor hatte ich an meinen Dynaudio Contour 3.3. ein Paar günstige Mogami Ultra Pure, vom Händler als ordentliches Kabel angepriesen,  ohne weitere Hörvergleiche angeschlossen. Als Cinchkabel an meinem kleinen Accuphase E-210 dienten zur Verbindung mit einem Sony CD-Spieler ein Audioquest Kabel.
Aber dann wollte ich es wissen und lieh mir mehrere Testpaare mittelpreisiger LS- und NF-Kabel, darunter ein Straight Wire Rhapsody, eines von HMS. Um keinen autosuggestiven Täuschungen aufzusitzen, holte ich mir meinen Freund Tom Krüger, seines Zeichens Tonmeister zu Hilfe. Das Ergebnis war für uns beide frappierend. Sofort nach Anschließen des ersten LS-Kabels bot sich ein in allen Belangen verbessertes Klangbild: mehr Feinauflösung, mehr Farben, bessere Räumlichkeit. Ich kaufte dann das Straight Wire und war ein paar Jahre froh damit. Die Tests von Cinchkabeln brachten dagegen kaum Unterschiede.
Irgendwann tauschte ich das „Rhapsody“ gegen ein deutlich teureres „Virtuoso“, immer noch mit der gleichen Anlagenkonfiguration – auch dieses Update war sofort deutlich zu hören.

Richtig los ging es dann, als ich die Dynaudio Confidence 5 erworben hatte und diese dann mit besserer Elektronik immer weiter ausreizte. Ich probierte erst ein Straight Wire Crescendo: ein Kabel, das den Klang stärker verändert als alle Kabel, die ich bis heute kennengelernt habe. Der Spitzname zuhause war wegen seiner erheblichen Dicke „Python“. Es war, als hätte man einen Bass-Booster zugeschaltet: der untere Mitten- und Bassbereich wie aufgeblasen, zunächst irgendwie imposant,  aber alles andere als neutral. Ein Kabel, das man eigentlich nur zur Kompensation bassschwacher Anlagen einsetzen kann.
In Folge probierte ich dann ein Kimber KS 3035 – sehr transparent und feinzeichnend – und ein Silent Wire LS 38, das mir sogar noch etwas besser gefiel. Die Unterschiede zwischen diesen schon sehr hochpreisigen Kabeln waren zwar insgesamt kleiner, aber doch klar nachvollziehbar. Kaum zu glauben, dass es noch besser geht, aber das ging es dann doch, und zwar mit den LS-Kabeln von Klang Manufaktur, die der Entwickler Manuel Löffler in Handarbeit produziert und die noch in kaum in Fachmagazinen getestet wurden. Bei den sogenannten „RIO“ LS-Kabeln handelt es sich um Flachbandkabel aus Reinsilber, und sie brachten nochmals eine deutliche Steigerung gegenüber meinen bis dahin probierten Kabeln.

Allerdings mussten auch dieses Kabel irgendwann weichen, und das lag an den Kabeln von Jorma Design. Die schwedische Firma stellt die schlichtweg besten Kabel her, die ich bisher gehört habe. Lesen Sie meinen Artikel dazu.

 

Klang Manufaktur RIO

 

NF-Kabel

Etwas anders sieht es mit NF-Kabeln aus. Während meiner Accuphase-Zeit brachten Hörvergleiche mit solchen, egal, in welcher Konstellation, immer mehr oder weniger das  immer gleiche Resultat: gar keines.  Beim direkten Umschalten am Accuphase-Vorverstärker von einem Eingang auf einen anderen, gab es so gut wie keine nachvollziehbaren Unterschiede zwischen hochpreisigen Kabeln und einem Accuphase-Standardkabel, was mich selber wunderte, widersprach es doch tausenden von Testberichten, in denen das Gegenteil beschrieben wird. Ich hatte wirklich viel ausprobiert, Kimber KS 1130 und KS-1136Silent Wire NF-38, Fadel Art Reference One, mit immer demselben Ergebnis. Es scheint offenbar Anlagen zu geben, die auf NF-Kabel unempfindlich reagieren, warum auch immer.
In meiner aktuellen Anlagenkonstellation mit TIDAL Vorstufe und Endstufen von New Audio Frontiers, sieht die Sache anders aus. Zwar sind die Unterschiede nicht so groß wie bei LS-Kabeln, aber doch eindeutig nachvollziehbar. Und auch hier bin ich nach einigen Hörvergleichen mittlerweile bei Kabeln von Jorma gelandet.

Wichtig: Da ich seit Ende 2013, mein eigenes Wohnraumstudio concert audio betreibe und damit eine Vermischung von privaten mit geschäftlichen Interessen nicht auszuschließen ist, habe ich mich daher entschlossen, diesen privaten Audiophilie-Blog ab 2014 auf allgemeine Themen zu beschränken, d.h. es gibt von mir keine weiteren Beiträge über Produkte mehr  – diese stehen ab jetzt auf meinem Blog auf concert audio.
Kommentare von Lesern können natürlich weiterhin gepostet werden.

 

 

Das Stuttgarter Staatsorchester mit Mahlers fünfter Sinfonie

18.
Apr.
2011

Zwischen Schlachtfeld und Ballsaal

Die fünfte Sinfonie ist nach den liedinspirierten „Wunderhornsinfonien“ 1-4 die erste, der Mahler keinerlei programmatische Erläuterungen mitgegeben hat – erhalten ist nur das berühmte Briefzitat an Alma, in dem er dem zeitgenössischen Publikum die Kompetenz zum Verständnis des Werks weitgehend absprach: angesichts der „Urweltsklänge“ der Fünften könne die „Schafsherde“ wohl nichts anderes als „blöken“. In der Tat erreichte die Fünfte nie die Beliebtheit der Ersten, Zweiten oder Achten, zu sperrig erscheint ihre gewaltige Faktur, zu bestürzend die ungeschminkte Drastik, mit der hier schon im ersten Satz, dem „Trauermarsch“, das Leid der Welt in Töne gesetzt ist: in keiner anderen Sinfonie liegen Gewalt und Glücksverzückung, Schlachtfeld und Ballsaal derart eng beieinander. Theodor W. Adorno hat diese Musik gar prophetisch als „Angsttraum kommender Pogrome“ empfunden, „in dem die schneidende Stimme des Mordbefehls und das Geschrei der Opfer sich überkreuzen“.

Manfred Honeck hat nun mit dem Stuttgarter Staatsorchester Mahlers Fünfte im restlos ausverkauften Beethovensaal dirigiert und schon mit dem ersten Trompetenmotto jenen dringlichen Tonfall angeschlagen, der bis zur Choralapotheose am Ende des fünften Satzes dieses denkwürdige Konzert prägen sollte. Unwiderstehlich, wie Honeck die Umschwünge zwischen den ungemein tänzerisch phrasierten Streicherpassagen und den martialischen Marschepisoden gestaltete, imponierend die Balance zwischen Durchhörbarkeit und mächtiger Klangentfaltung, gerade in den polyphonen Aufschichtungen des zweiten Satzes – als die Blechbläser dann den Choral anstimmten, schwang in der Triumphgeste auch ein Hauch jener Verzweiflung mit, die dann im Scherzo der Walzerseligkeit schließlich den Boden unter den Füßen wegzieht. Das Adagietto musizierte Honeck als weltentrückte Liebeserklärung, und das Rondo-Finale kulminierte in einer großen Entladung, der die Spannungen anzuhören waren, die man bis zu dieser Stelle durchlebt hatte.

Das Staatsorchester spielte an diesem Morgen in ganz großer Form auf, obwohl es schon vor der Pause Schumanns Klavierkonzert mit einem Solisten zu spielen hatte, der kaum etwas von jenen Freundlichkeiten erwiderte, die ihm das Orchester in Form von Phrasierungsfrische und romantisch belebtem Tonfall entgegenbrachte. Der offenbar noch von früherem Ruhm zehrende Radu Lupu absolvierte seinen Part pianistisch glanzlos, mit stoischer, gefühlsreduzierter Routine. Schade. (Stuttgarter Zeitung)

 

Her mit dem Mittelinitial!

17.
Apr.
2011

Von Frank M. Armbruster

Seit Theodor zu Guttenbergs Plagiatspromotion ist der Doktortitel etwas in Verruf geraten. Halb so schlimm, gibt es doch auch für distinktionswillige Nichtakademiker eine elegante Alternative. Das Mittelinitial.

Was tun viele Leute nicht alles für einen eindruckschindenden Namen. Heiraten für ein schnödes „von“ oder „zu“ in degenerierte Adelsgeschlechter ein, stressen sich mit dem Verfassen überflüssiger wissenschaftlicher Arbeiten oder kaufen sich für Unsummen akademische Titel von dubiosen Konsuln. Dabei geht es doch viel einfacher. Denn vor allem jenen, die mit einem Zweitnamen gesegnet sind, liefert der die Basis für ein völlig risikoloses und kostenfreies Distinktionsmerkmal: das Mittelinitial. Harry S. Truman und George W. Bush haben ebenso erfolgreich eingesetzt wie William S. Burroughs oder Joanne K. Rowling, dabei muss man weder ein amerikanischer Präsident noch ein Schriftsteller sein, um mit dem eingefügten Großbuchstaben in der Namensmitte einen deutlichen Zugewinn an Status zu erzielen. Noch finden sich die meisten Beispiele der Binnenmajuskel bei Personen in öffentlichkeitsaffinen Positionen – man denke an Henryk M. Broder oder Pierre M. Krause. Aber zunehmend finden auch Durchschnittsbürger Gefallen daran, vor allem solche, die mit einem Allerweltsnamen gestraft sind: Klingt „Peter R. Schulze“ doch deutlich besser als „Peter Schulze“. Ja, und selbst wer über keinen zweiten Vornamen verfügt, kann sich mittels eines Namensupdates aus der Masse herausheben. Man sollte dann allerdings auf das Einfügen exotischer Majuskeln verzichten und sich mit einem schlichten M zufriedengeben. Auf die Frage, was das zu bedeuten hat, kann man dann wahrheitsgemäß antworten: Mittelinitial!

(Stuttgarter Zeitung)

Lang Lang in Stuttgart

14.
Apr.
2011

Überspielt

Lang Lang im Beethovensaal

Vor ziemlich genau zwei Jahren gab Lang Lang im Beethovensaal einen Klavierabend, der die durch den Medienhype genährten Zweifel, dass hier ein ernstzunehmender Pianist in den Fokus der Musikwelt getreten war, erst einmal zerstreute. Jetzt war Lang Lang erneut am selben Ort zu Gast, und die einstigen Bedenken melden sich mit verstärkter Dringlichkeit zurück. Lang Lang wiederholte das Programm, das er vor einem Jahr im Wiener Musikvereinssaal auf CD einspielte – und in dem Umstand, dass er diese Stücke einfach zu oft gespielt hat, könnte auch ein Grund für den insgesamt enttäuschenden Eindruck dieses Abends liegen.

Schon bei Beethovens C-Dur-Sonate op.2/3 wirkte Lang Lang merkwürdig unkonzentriert, fast innerlich abwesend. Gleich das Eingangsmotiv wirkte rhythmisch unstet, die Durchführung verstärkte den Eindruck einzelner, unzusammenhängender Stellen. Besonders das Adagio litt unter Lang Langs selbstverliebter, willkürlich wirkender Agogik – als hätte er sein Gespür für klassische Periodik und Phrasierung in der Garderobe vergessen. In der „Appassionata“ op. 57 , wo es weniger um Klassizität als um Entfesselung und Verdichtung geht, ließ Lang Lang etwas von der Hingabe spüren, die man von seinem letzten Auftritt noch in Erinnerung hatte. Doch aller pianistischen Grandiosität zum Trotz, mit der er in der Durchführung des ersten Satzes die Themen auftürmte oder den Prestoteil des Finales herunterdonnerte – es blieb ein Rest von Distanz, von Unbeteiligtheit. Dazu passte auch Lang Langs manierierte Gestik, die immer so wirkte, als müsse er für eine imaginäre Fernsehkamera posieren.

Nun wurde Lang Lang wie kein anderer Pianist vor ihm zu einem Medienstar aufgebaut, der auch jenseits der klassischen Musikszene vermarktet wird – es gibt da wenig, was er nicht macht, sein jüngster Coup ist die Musikeinspielung zu „Gran Turismo 5“: einer Playstation-Rennsimulation. Dass er kraft seiner Popularität auch Publikum für seine Auftritte zu interessieren vermag, das nicht zum üblichen Klassikklientel zählt, war daran abzulesen, dass immer wieder zwischen den Sätzen applaudiert wurde. Ungewöhnlich.

Ungewöhnlich ist auch, dass sich Pianisten nichtspanischer Provenienz an der Musik von Isaac Albéniz versuchen – verdankt sich die Idiomatik dieser Musik den Formen spanischer, speziell andalusischer Volksmusik wie Seguidilla, Polo oder Bulerias. Wer deren Rhythmik nicht gut kennt, verfehlt leicht den Kern auch der „Iberia“-Suite – so wie Lang Lang, der die einleitende „Evocación“, in der sich ein sanft schwebender Fandanguillo mit einer Solea mischt, in manierierte Klangflächen ohne inneren Zusammenhang auflöste. Ryhthmisch verwaschen der Polo in „El Puerto“, und in dem imaginierten Prozessionszug des „El Corpus en Sevilla“ traf Lang Lang weder dessen Marschcharakter noch den festlich-hymnischen Tonfall.

Zum Abschluss Prokofjews infernalische siebte Sonate: auch ein Stück, das Lang Lang schon lang, aber eben nicht mehr kurzweilig spielt. Pianistisch untadelig, aber über weite Strecken ausdrucksarm, die extremen Gefühlszustände dieser Musik nur streifend, verpuffte auch die Wirkung der Schlussapotheose nach wenigen Sekunden. Großer Beifall, zwei Chopin-Etuden als Zugabe.

(Stuttgarter Zeitung)

Vilde Frang spielt Violinsonaten von Grieg, Bartók und Strauss

12.
Apr.
2011

Die Norwegerin Vilde Frang mit Violinsonaten
Auf der Geige zu singen

Seit Hilary Hahn dürfte es keine junge Geigerin mehr gegeben haben, die über eine derartige musikalische wie technische Souveränität verfügt wie die 24 Jahre alte Norwegerin Vilde Frang. Auf ihrer zweiten CD zeigt sie mit den zwei Violinsonaten von Grieg und Strauss und der Solosonate von Bártok das ganze Spektrum ihrer eminenten Musikalität: berückend, wie sie in Edvard Griegs früher Sonate op. 8 die Umschwünge zwischen keuscher Erregtheit und grüblerischem Innehalten in Klang setzt, dabei jeder Nuance nachspürt. Noch das kleinste Motiv ist von Ausdruck beseelt, der deutsch-usbekische Pianist Michail Lifits ist ihr dabei Partner im Geiste. Frangs tonliches Spektrum scheint fast unerschöpflich, auch in Strauss´ einziger Violinsonate op.18 – allein für den überirdisch schön gespielten zweiten Satz würde sich diese CD lohnen. Imponierend auch, mit welch gestalterischer Kraft sie Bartóks aberwitzig schwere Solosonate nicht nur bewältigt, sondern in ihrer ganzen herben Drastik und formalen Stringenz ausspielt: ganz große Violinkunst.  (Stuttgarter Zeitung)

Das Royal Philharmonic Orchestra Liverpool mit Vasily Petrenko

01.
Apr.
2011

Schicksalston und Gute-Laune-Musik

 

Vasily Petrenko

Vasily Petrenko

Dass es in Großbritannien nicht nur in London ausgezeichnete Orchester gibt, hat sich inzwischen herumgesprochen. Zwar gelten die großen Hauptstadtorchester noch immer als die führenden Klangkörper, aber was einst Simon Rattle mit dem Orchester aus Birmingham geschafft hat, das ist jetzt Vasily Petrenko im Begriff, mit dem Royal Liverpool Symphony Orchestra nachzumachen. Der gebürtige St. Petersburger hat eine Blitzkarriere hingelegt, und dass der erst 35-jährige Schlaks sein Handwerk versteht, das bewies er nun in der Meisterkonzertreihe im Stuttgarter Beethovensaal mit Nachdruck. Die Briten begannen ihr Konzert mit Ralph Vaughan Williams´ Ouvertüre zur Komödie „The Wasps“ (Die Wespen), einem von mendelssohnschem Sommernachtszauber inspirierten Stück Gute-Laune-Musik, bei dem die Wespen gleich zu Beginn in Form tremolierender Streicher durch die Luft wuseln. Schon hier wurde deutlich, worin die Qualitäten der Liverpooler bestehen: Alles klingt wie aus einem Guss, da wird gemeinsam geatmet und phrasiert, Petrenko hält das Metrum in ständigem Fluss – keine Spur von Rigidität, wie man sie von manchen Taktschlägern kennt. Die Bläser, egal ob Holz oder Blech, sind Weltklasse, und auch wenn die Streicher nicht ganz das über edle Timbre der Spitzenorchester verfügen, so machen sie dies Manko mit tonlicher Variabilität, Präzision und Kompaktheit durchaus wett.

Mindestens so wichtig wie bei Vaughan Williams ist sinnfälliges Phrasieren bei Mozart. Und tatsächlich formulierte Petrenko schon das Eingangsthema von Mozarts Klavierkonzert A-Dur KV 488 mit aller wünschbaren Beredtheit aus: kleinteilig artikuliert, aber im großen Zusammenhang gedacht, mit luftigem Klang des hier auf Kammerorchesterbesetzung reduzierten Orchesterapparats. Und hätte man dazu einen Solisten gehabt, der diesem Format entsprochen hätte, es hätte ein großes Mozart-Erlebnis werden können. Die Französin Hélène Grimaud freilich beließ es bei einer technisch sauberen, aber insgesamt wenig inspirierten Auslegung des Soloparts. Zwar verfügt Grimaud über einen leicht-perlenden, für Mozarts Musik grundsätzlich passenden Anschlag, den sie aber kaum zu differenzieren vermag. Alles klang hier mehr oder weniger gleich: ein sprödes, nicht selten unter Pedal gesetztes Quasi-Legato, das über vieles von dem einfach hingweghuschte, was Mozart an rhythmischen und artikulatorischen Finessen in die Partitur geschrieben hat.

Dafür vermittelte sich in Tschaikowskys monumentaler „Manfred“-Sinfonie op. 58 jede auch noch so kleine Nuance. Was war das für ein Orchesterfest! Schon in den ersten Akkorden wurde jener Schicksalston angeschlagen, der die Abenteuer des Helden bis zu seinem Tod grundiert, Petrenko und das bis in die Haarspitzen motivierte Orchester aus Liverpool führten dabei die Hörer im Verlauf der vier Sätze durch alle denkbaren seelischen Zustände: Hoffnung und Schmerz, bohrende Verzweiflung und harfenbekränzte Glücksfantasien vermittelten ein eindringliches Psychogramm von Byrons Helden, der am Ende nach der rückenschauererregenden Orgelapotheose sein Leben aushaucht. Sekundenlang Stille nach dem Schlussakkord, dann begeisterter Applaus. (Stuttgarter Zeitung)