Beiträge im Archiv Oktober 2010

Frank Bungarten spielt Villa-Lobos

27.
Okt.
2010

Frank Bungarten spielt Villa-Lobos

Referenzqualitäten

Die „Douze Etudes“ von Heitor Villa-Lobos gelten als das gitarristische Äquivalent zu Chopins Etüden für Klavier: im Abstecken der technischen Möglichkeiten des Instruments eröffnen sich auch neue Ausdrucksmittel. Wer diesen Stücken gerecht werden will, muss seine Virtuosität also transzendieren können, in den Dienst der Musik stellen – und Frank Bungarten ist ein Gitarrist, dem das in beeindruckender Manier gelingt. Die gefürchteten Läufe und Trillerpassagen der siebten Etüde etwa spielt er mit nonchalanter Eleganz, die Akkordketten der vierten treibt er mit ungehörtem Ingrimm und Furor voran. Man kann das kaum besser spielen, auch nicht die anderen Stücke des relativ schmalen Gitarrenoeuvres von Villa-Lobos, das gleichwohl das Zentrum des modernen Gitarrenrepertorires bildet: wie die berühmten „Cinq Préludes“ oder die „Suite populaire brésilienne“. Zwar gibt es schon einige Einspielungen des Gesamtwerks, doch Bungarten legt hier eine Referenzaufnahme vor – nicht zuletzt wegen der überragenden Klangqualität dieser Hybrid-SACD. (Stuttgarter Zeitung)

Heitor Villa-Lobos: Complete Solo Works. MDG 90501629-6

 

Reporter auf der Jagd

25.
Okt.
2010

Dauererigierte Mikrofone in Fernsehmagazinen

Reporter auf der Jagd

Man muss ja heute schon froh sein, wenn man keine Leiharbeiter beschäftigt. Falls man dazu noch die Chuzpe besitzt, ein Cabrio zu fahren, kann es einem nämlich passieren, dass man an einer roten Ampel plötzlich von Reportern überfallen wird, die einem Fragen zu Lohnabrechnungen stellen. So geschehen vor einigen Wochen auf RTL. Oder war es SAT1? Ja, man kann da schon ein bisschen durcheinanderkommen bei all dem investigativen Furor, der da seit einiger Zeit im Abendprogramm Brisanz vortäuschen soll. Anstatt Fakten und Argumente abzuwägen, setzt man in den entsprechenden Magazinen lieber auf die kamerabegleitete Ermittlungsarbeit vor Ort. Dass es um das Aufdecken von gesellschaftlich relevanten Missständen gehe, wird dabei gerne vorgeschoben – bei näherer Betrachtung scheint es eher darum zu gehen, Vorurteile zu bestätigen und Stimmungen zu bedienen. Sündenböcke sind in der Regel die üblichen Verdächtigen aus Wirtschaft, Industrie und Politik:  Magazinjournalismus als Beschwichtigungsprogramm für eine verunsicherte Gesellschaft, der das Grundgefühl von Gerechtigkeit abhanden gekommen ist. Klar: Wer für ein paar Euro in der Stunde arbeiten muss und sieht, wie sich gleichzeitig Manager und Banker die Taschen vollstopfen, für den bedeutet es eine gewisse Genugtuung, wenn abends im Fernsehen ein paar von denen da oben bloßgestellt werden.

So werden Abend für Abend große Strippenzieher und kleine Profiteure von dienstbeflissenen Reportern gejagt, deren Waffe das dauererigierte Mikrofon mit Senderaufdruck ist, das sie kampfbereit vor sich hertragen. Und wer einmal ihn die Fänge der Reporter geraten ist, hat schon fast verloren. Am schlimmsten trifft es in der Regel jene, die sich trauen, unvorbereitet vor laufender Kamera zu antworten. Dann kann es ihnen gehen wie am letzten Dienstag der Familienministerin Kristina Schröder, die sich in einem  offenbar spontanen Interview mühte, etwas Schlüssiges zum Thema Integration zu sagen, sich dabei leicht verhedderte und dafür anschließend in Frontal 21 gnadenlos durch den Kakao gezogen wurde. Dass auf den ihr entgegengehaltenenen Mikrofonen die Senderlogos der Öffentlich-Rechtlichen prangten, verleitete die naive Ministerin wohl zu den  Annahme, von derart renommierten Institutionen nicht in die Pfanne gehauen zu werden. Von wegen. Das freimütig gebenene Statement wurde samt Versprechern ungeschnitten gezeigt und von einem Sprecher im Off süffisant kommentiert. Hauptsache, man kann mal wieder über unsere Politiker lachen.

Wer schlauer ist, wie der Mann im Cabrio, sagt lieber gar nichts und braust einfach davon. Was ihm aber auch wenig nützt, bestätigt er damit doch den unausgesprochenen Grundverdacht: Wer flüchtet, hat was zu verbergen. Subtil aufgebaute Ressentiments tun ein Übriges, die Verdächtigen in ein schlechtes Licht zu rücken. „Die Geschäfte scheinen gut zu laufen“ raunte der Sprecher süffisant, als das Cabrio durchs Bild flitzte. Na, der muss doch Dreck am Stecken haben, wenn er so eine dicke Kiste fährt.

Und wenn man gar keine Schweinereien mehr finden kann, dann erfindet man einfach welche. In einer der letzten Ausgaben der ZDF-Sendung „Die Reporter“ ging  es (mal wieder) um Lebensmittel, genauer gesagt um Geschmacksverstärker. Der sogenannte Hefeextrakt ist in vielen Fertigprodukten enthalten und wirkt geschmacksverstärkend, ist aber kein Zusatzstoff und muss deshalb laut Lebensmittelrecht nicht als solcher deklariert werden. Eigentlich ist das ganz einfach. Die ZDF-Reporter aber bauschten es wild entschlossen zum

Skandal auf, für den Verantwortliche gesucht und  zur Rechenschaft gezogen werden mussten. Nachdem zunächst unschuldige Tütensuppenkäufer in einem Supermarkt  auf ihre Kenntnisse über Hefeextrakt befragt wurden – mit den erwartbaren Antworten – zog der Trupp weiter auf eine Lebensmittelmesse, um dort Suppenproduzenten mit dem unhaltbaren Zustand  zu konfrontieren. Die wiesen – wenig überraschend – auf das Lebensmittelrecht hin, worauf der wackere Reporter auf die riesige Firmenzentrale von Unilever in Hamburg zusteuerte. Da nimmt einer für die Verbraucher den Kampf mit der Großindustrie auf, sollten die respektheischend inszenierten Bilder sagen. Viel Aufwand für nichts: man wolle seitens der Firma keine Interviews vor laufender Kamera geben, resümierte der Reporter. Na, die werden schon ihre Gründe haben. Der Beitrag endete mit einem Überfall auf die Verbraucherministerin Ilse Aigner, die souverän konterte und ebenfalls auf geltendes Recht verwies, was den Reporter erst recht in Rage brachte. Bockig rief er ihr hinterher, sie solle doch nun bitte schön mal sagen, ob Hefeextrakt nun ein Geschmacksverstärker sei oder nicht, und ob er nun als solcher bezeichnet werden dürfe. „Jetzt geben Sie mir doch bitte mal ´ne Antwort, der Verbraucher möchte das doch wissen!“ Wenn er sich da mal bloß nicht täuscht. (Stuttgarter Zeitung)

 

Donizettis Lucia di Lammermoor an der Staatsoper Stuttgart

06.
Okt.
2010

Wenn die Seele als Vogel gen Himmel fliegt

Man muss fast bis zum Ende warten. Doch dann, in der Arie, in der Edgardo auf dem Gräberfeld von Ravenswood sein Leid über die treulose Lucia klagt, erfüllt sich nicht nur jene Vorahnung des tragischen Ausgangs, die von Beginn an wie ein dräuender Schatten über der Oper hängt, sondern auch die, die eine ältere Dame in der Pause äußerte: jetzt fehle nur noch, meinte sie halb im Scherz, dass sich der Tenor beim Singen ans Herz greife. Was Dmytro Popov kurz vor seinem finalen Selbstmord denn auch nach Kräften tut, wie er überhaupt reichlich von jenen klischeehaften Gesten Gebrauch macht, auf die manche Sänger immer dann zurückgreifen, wenn sie von der Regie in puncto körpersprachliche Direktiven weitgehend unbehelligt bleiben: beschwörend die Arme heben, schmachtend ins Publikum schauen. Letzteres dürfte ihm nicht zuletzt deshalb leichtgefallen sein, als er sich, wie auch das restliche sängerische Personal, ohnehin überwiegend dort aufhält, wo er nach Meinung der Regisseurin Olga Motta offenbar hingehört: vorne an der Rampe, Blick ins Publikum gerichtet. Dabei war aber die Aufführung von Gaetano Donizettis Dramma tragico Lucia di Lammermoor nicht konzertant angekündigt, selbst wenn man mitunter den Eindruck hatte, dass die Bühnenhandlung zum Stillstand kommt, sobald gesungen wird.

Nun passiert in diesem Stück das Entscheidende tatsächlich in der Musik. Salvatore Cammarano hat für sein Libretto die Handlung von Walter Scotts Roman “The Bride of Lammermoor” auf den Grundkonflikt reduziert: Lucia liebt Edgardo, den Todfeind ihres Bruders Enrico, welcher sie aus Gründen des Machterhalts nötigt, Lord Arturo zu heiraten. Lucia wird darüber wahnsinnig, meuchelt noch in der Hochzeitsnacht den frisch Vermählten und stirbt bald drauf selber, worauf sich auch Edgardo ins Messer stürzt. Das wäre als Plot eines romantischen Melodramma nicht ungewöhnlich, hätte nicht Donizetti dazu eine Musik komponiert, die manche formalen Konventionen sprengt und in der die Emotionen bis zum Siedepunkt erhitzt werden. Vor allem Lucia gerät in einen psychischen Grenzzustand, der in jener Wahnsinnsarie gipfelt, wo sich die Koloraturen vom Wortsinn „Färbung“ emanzipieren und verselbständigen. Es ist der Sopranistin Ana Durlovski zu verdanken, dass diese Szene dann zum überwältigenden Höhepunkt des Abends wird. Schon bei ihrem ersten Auftritt im Park von Ravenswood vermittelt sie, die die Rolle kurzfristig an Stelle der vorgesehehen Simone Schneider übernommen hatte, jenen Hang zur Hysterie, der sie nach dem Unterschreiben des Ehevertrags in jenes irre Lachen ausbrechen lässt, das andeutet, dass die den Bezug zur Realität schon verloren hat. In der Wahnsinnsarie vermittelt sie dann glaubhaft jene totale Entgrenzung der Persönlichkeit, die zusammenfällt mit der des musikalischen Materials. Die leicht kehlige Schärfe, die ihren ungemein alerten und höhensicheren Sopran vor der Pause noch etwas eng und verschlossen wirken ließ, weicht hier einem nervig-kühlen, schimmernden Ton, der gerade im Piano auch weich-verhangene Facetten offenbart. Dass die Szene nicht wie meistens üblich von der Flöte, sondern von der ursprünglich vom Komponisten vorgesehenen Glasharmonika (souverän: Sascha Reckert) begleitet wird, trägt einen weiteren Teil zur transzendenten Wirkung der Szene bei.

Dass die Aufführung überhaupt musikalisch in vielen Aspekten zu überzeugen weiß, liegt vor allem am Dirigenten Patrick Fournillier, der das Staatsorchester nachhaltig unter Strom setzt: mit rhythmischer Energie und einem guten Schuss Pathos und Emphase in den Chor- und Ensembleszenen, aber auch mit viel Gefühl für metrischen Puls in den lyrischen Cabaletten und deren wiegenden Triolenbegleitungen. Nun gilt Lucia di Lammermoor als die Vollendung der Belcantooper, was den Sängern Verpflichtung sein muss: zu einem feinen, auf dem Atem gesungenen Legato, zu Verzierungskompetenz und dynamischer Variabilität. An letzterer mangelt es allerdings sowohl Tito You, der den Enrico ansonsten mit viel baritonalem Glanz singt, wie auch dem sonoren, wenngleich mitunter etwas polternden Liang Li als Raimondo. Joel Prieto gibt den schnöseligen Lord Arturo mit fein geführtem, aber auch etwas leichtgewichtigen Tenor. Dmytro Popov als Edgardo besitzt zweifellos ein enormes Potential: mit profunder Tiefe, einer strahlenden, aber nie metallischen Höhe und souverän gesetzten Spitzentönen. Für einen Belcantisten vermisst man etwas farbliche Finesse und dynamische Differenzierung, dazu neigt er mitunter zu tenoralen Triumphgesten, wo sie nicht angebracht sind – was man aber auch der Regie anlasten muss. Denn neben Rampensingen gibt es auf der Bühne nicht viel an schlüssiger Interaktion, die in der Lage wäre, dem Publikum etwas von der Motivation der Protagonisten zu vermitteln. Warum treibt Enrico mit seiner Schwester erst so ein übles Spiel und spielt hinterher den Leidenden? Warum wird Lucia sogar von ihrem Vertrauten Raimondo hintergangen? Stattdessen viel Chargieren und sinnfreie Zeitfüllaktionen: wenn Enrico in der Vertragsszene minutenlang Lucias Brautkleid schwenkt oder Edgardo in der Liebesszene vor seiner Lucia kniet und ihr steif den Arm tätschelt. Am nachdrücklichsten offenbart sich die Hilflosigkeit einer überforderten Regie in der Behandlung des ansonsten tadellos singenden Chors. Wenn der nicht gerade mit seinen überdimensionierten Mikadostäben stochert, steht er meist entweder apart kostümiert herum oder vertreibt sich die Zeit mit Aktionen aus dem Theatergestenfundus wie angeregt Parlieren, vergnügt Anstoßen oder betreten Dreinblicken.

Olga Mottas seltene Ansätze, dem Stück so etwas wie szenische Deutung zu verleihen, führen meist zu platten Bildern wie dem im Hintergrund installierten Planeten, der immer wieder von einer Wolke verfinstert wird (Achtung: Unheil!) oder einer Farbsymbolik, die Rot mit Blut und Liebe und Schwarz mit Tod assoziiert. Dazu kommen hübsch arrangierte Bühnentableaus und am Ende sogar ein kleiner Varietézaubertrick: Bevor sich Edgardo umbringt, erscheint ihm noch einmal Lucia auf einem Podest, vom Himmel kommt ein Schlauch aus rotem Stoff, der sie erst verdeckt, dann fällt – und weg ist auch Lucia. Edgardo folgt ihr in den Tod, man sieht, wie seine Seele entschwindet: als Vogelschatten, der gen Himmel fliegt.

Beide Szenen zeigen das erschütternde ästhetisch-reflexive Niveau dieser Inszenierung – und das an einem Haus, das sich einmal auf die Fahnen geschrieben hat, Vorreiter eines intellektuell geschärften, zeitgenössisch avancierten Musiktheaters zu sein. Vielleicht müsste man Daniel Kehlmann mal einladen. Historische Kostüme, schönes Licht und darüberhinaus kaum störende Eingriffe – dem bekennenden Regietheaterhasser könnte das gefallen.