Beiträge im Archiv Juni 2022

Dima Slobodeniouk dirigierte das SWR Symphonieorchester

24.
Jun.
2022

Ballettmusik ohne eine dazugehörige Choreografie, kann das funktionieren? Nun, wenn die Musik schon für sich allein derartig plastische Bilder evoziert wie Sergej Prokofjews Ballettsuiten „Cinderella“ und dazu noch mit solcher Brillanz gespielt wird wie vom SWR Symphonieorchester unter der Leitung von Dima Slobodeniouk, dann auf jeden Fall. Für das Abokonzert im wieder einmal recht gut besuchten Beethovensaal hatte der russische Dirigent in die komplette erste noch zwei Sätze aus der zweiten Konzertsuite eingefügt – eine stimmige Ergänzung der ohnehin schon bildhaften Musik um einige reizvolle Facetten. Und so erlebte man die Geschichte um das arme Aschenbrödel, das am glücklichen Ende seinen Prinzen bekommt, wie ein Ballett in Tönen: von der geheimnisvollen, schwermütigen Einleitung über die rustikale Mazurka und Cinderellas beschwingten Walzer bis zur dramatischen Mitternachtszene, wo Cinderella aus dem Ballsaal fliehen muss, um dem Ende des Zaubers zuvorzukommen. Das fabelhaft disponierte Orchester, rhythmisch gestützt von den stark besetzten Perkussionisten, verwirklichte dabei aus einem hell-präzisen Grundklang heraus den üppigen Farbenreichtum der Partitur – beweglich, animiert, aus einem Guss.
Zuvor hatte der ukrainische Pianist Vadym Kholodenko mit Rachmaninows „Rhapsodie über ein Thema von Paganini“ für den ersten Höhepunkt dieses Abends gesorgt. Der Artist in Residence des SWR Sinfonieorchesters in dieser Saison ist ein technisch eminent beschlagener Pianist und alles andere als Tastendonnerer. Transparenz und Differenzierung liegen ihm weit mehr am Herzen als virtuoses Auftrumpfen und gefühlige Rubati – und so hört man die Paganini-Rhapsodie in einer berückenen Mischung aus dezenter klanglicher Schärfe und einer von allen sentimentalen Schlacken befreiten Luzidität. Aus dieser Haltung heraus gewinnt das Finale umso mehr an Wucht, zumal Kholodenko die rasenden Oktavketten mit schier unglaublicher Leichtigkeit hinlegt. Großer Jubel im Saal. (STZ)

Allumfassender Gesang

10.
Jun.
2022

Der Rundfunkchor Berlin sang im Beethovensaal Brahms „Ein deutsches Requiem“

Wer ist Künstler? Wer ist Zuhörer? An der Kleidung sind sie nicht zu unterscheiden, alle bewegen sich durch- und miteinander im stuhlbefreiten Beethovensaal, und nur der Umstand, dass einige singen, definiert sie als Mitglieder des Rundfunkchors Berlin, ansonsten sind alle schlicht: Menschen.
„Human Requiem“ nennt Jochen Sandig seine Version von Brahms´ „Ein Deutsches Requiem“, in der die Grenzen zwischen Ausführenden und Hörenden aufgelöst werden. Bereits vor zehn Jahren konzipiert, wurde sie in vielen Städten der Welt sehr erfolgreich aufgeführt, der Komponist Tan Dun sagte nach der Brüsseler Aufführung 2016, er habe geweint: dies sei das Beste, das er seit Jahren gehört habe.
Auch in Stuttgart, wo die Produktion im Rahmen der Ludwigsburger Schlossfestspiele an zwei Abenden aufgeführt wurde, kann man am Ende im abgedunkelten Saal, nachdem die letzten Töne verklungen sind, einige Schluchzer hören. Viele sind berührt, was nicht allein der Musik, sondern auch dem Kontakt mit den Sängern zu verdanken ist – zu den Worten „Ich will euch trösten“ haben sie ihrem Gegenüber die Hand auf die Schulter gelegt und ihm in die Augen geblickt.
Sandigs Choreografie ist einfach, aber wirkungsvoll. Zu „Denn wir haben hie keine bleibende Statt“ irren die Sänger suchend umher, bei „Denn alles Fleisch ist Gras“ schreiten sie in Trauermarschformation durch den Saal. Seine überwältigende Wirkung bezieht diese Aufführung aber in erster Linie durch den Klangeindruck. Man empfindet sich als Teil eines großen, allumfassenden Gesangs, der Klang kommt aus allen Richtungen, ist ständig in Bewegung, und man kann dabei fast die unglaubliche Leistung des Chores vergessen, der, unterstützt von zwei Dirigenten, hier singt wie ein einziger Körper. Dass der nur von einem Klavier begleitet wird, stört nicht – im Gegenteil: so wird der Fokus umso mehr auf die menschliche Stimme gelegt. Denn auch die beiden Solisten Iwona Sobotka und Ansgar Theis sind, wie die ganze Aufführung, einfach fabelhaft.