Beiträge im Archiv September 2018

Richard Wagner „Lohengrin“ an der Staatsoper Stuttgart

30.
Sep.
2018

Wer gibt den Führer?

Das Volk braucht einen Führer. Einen starken Mann, an den man glaubt und der die Menschen beschützen kann vor all den Zumutungen, die das Leben so mit sich bringt. In Richard Wagners Oper „Lohengrin“ ist es der Schwanenritter, der quasi vom Himmel fällt, um die Brabanter gegen die feindlichen Hunnen zu verteidigen und dazu noch Elsa, der Tochter des verstorbenen Herzogs, eheliches Glück zu schenken. In Árpád Schillings Lohengrin-Inszenierung, der ersten Premiere der Staatsoper Stuttgart unter der Intendanz von Victor Schoner, ist der edle Ritter ein bärtiger Zausel mit Parka, der mehr oder weniger unfreiwillig hineingestoßen wird in die Rolle des Retters. Dem Volk ist es gleich – Hauptsache, es findet sich einer, der den Job übernimmt.
Árpád Schilling, künstlerisch sozialisiert im postsozialistischen Ungarn der 90er Jahre, hat miterlebt, wie ein Volk, das durch einen radikalen politischen Wandel orientierungslos geworden ist, sein Heil in einem autoritären Führer sucht und diese Erkenntnisse in seiner Arbeit als Theaterregisseur verarbeitet. Krétakör, „Kreidekreis“ nennt sich sein Ensemble, das schnell über die Grenzen Ungarns hinaus bekannt und zu vielen europäischen Festivals eingeladen wurde, 2009 erhielt er den Europäischen Theaterpreis für Neue Realitäten im Theater. Viktor Orbán bedankte sich dafür auf seine Weise: im September 2017 wurde Schilling vom Ausschuss für Nationale Sicherheit des ungarischen Parlaments offiziell zum „Staatsfeind“ erklärt.
Kein Wunder also, dass Schilling, der sein Debut als Opernregisseur an der Bayerischen Staatsoper gab, seinen Fokus auch im „Lohengrin“ auf gesellschaftliche Zusammenhänge richtet. Die gesamte Oper spielt in einem schwarzen, nach hinten abfallenden Stollen, Requisiten gibt es außer ein paar ausgestopften Schwänen kaum. Eine „leere Bühne“-Ästhetik, um die Aufmerksamkeit auf die Protagonisten auszurichten. Deren Hoffnunglosigkeit vor Lohengrins Ankunft findet Ausdruck in ihrer Kleidung. Graf Telramund sieht mit seinem schlecht sitzenden Anzug und der piefigen Hornbrille aus wie die Karikatur eines sozialistischen Parteifunktionärs, mausgrau gewandet sind auch die Brabanter, mit Ausnahme des Königs Heinrich: ein Zweireiher mit Goldknöpfen genügt ihm als Ausweis besseren Standes. Im dritten Akt erscheint das Volk in bunten Freizeitklamotten, weniger kriegs- als konsumbereit in Erwartung kapitalistischer Freuden. Umso bitterer ist seine Enttäuschung als es erfährt, dass sein Heilsbringer Lohengrin wieder zurück muss zu seinen Gralsrittern, weil Elsa ihr Versprechen gebrochen hat: ihn nicht zu fragen, wer er ist und woher er kommt.
Das alles ist schlüssig gedacht und auch handwerklich sauber gemacht, bleibt szenisch aber über weite Strecken reiz- und spannungslos. Der Kreidekreis auf dem Bühnenboden, mit dem der Kampfraum für Telramund und Lohengrin abgesteckt wird, kann als hübsche selbstreferentielle Anspielung auf den Namen von Schillings Theaterensemble gelten. Doch das komplette Ausblenden der mythischen Aspekte der Lohengrinsage um Parzival und den heiligen Gral hat seinen Preis – zumal Schillings Personenführung vor allem im ersten Akt merkliche Defizite aufweist. So viel geschritten, gestanden und an der Rampe gesungen wurde lange nicht auf der Stuttgarter Opernbühne, gerade der Chor wirkte mitunter komplett alleingelassen.
Dass diese Premiere am Ende dann doch – und zurecht – stürmisch bejubelt wurde, liegt an ihrer musikalischen Qualität. Herausragend aus dem durchweg hochklassigen Sängerensemble waren Simone Schneider (Elsa) und Okka von der Damerau (Ortrud) und Martin Gantner (Telramund). Martin Königs Tenor (Lohengrin) fehlte es etwas an Höhenglanz, zu Beginn etwas kehlig, öffnete er sich aber im Verlauf des Stücks mehr und mehr: die Gralserzählung gelang ihm berührend.
Der eben erst mit dem Prädikat „Opernchor des Jahres“ ausgezeichnete Staatsoperchor sang wie beflügelt, offenbar ebenfalls inspiriert vom neuen GMD Cornelius Meister, dessen Debut nachgerade überwältigend war. Meister vereint Liebe zum Detail mit dem Gespür für die große Linie, alles mit dem Gefühl für das rechte Maß, nie in Manieriertheiten abgleitend. In den letzten Jahren dirigentisch nicht eben verwöhnt, zeigte das Stuttgarter Staatsorchester, welches Potential in ihm steckt. Klangliche Sensationen dieser Art hat man an diesem Haus – gefühlt – seit Jahrzehnten nicht mehr gehört: irisierende, wie mit dem Silberstift gezogene Streicherkantilenen, delikateste Abschattierungen der Bläser, eingebunden in einen edlen, homogenen, niemals statisch wirkenden Gesamtklang. Ein Fest. So darf es weitergehen in Stuttgart. (Südkurier)

Das Antrittskonzert von Teodor Currentzis als Chefdirigent des SWR Symphonieorchesters

21.
Sep.
2018

 Nach dem Schlussakkord von Mahlers dritter Sinfonie ist erstmal: Stille. Dem Orchester zugewandt, den Kopf gesenkt, verharrt Teodor Currentzis eine gefühlte halbe Minute regungslos, als wolle er der eigenen Ergriffenheit Raum geben. Ähnliches erlebt man ansonsten eigentlich nur in Kirchen – nach einer bachschen Passion etwa, und dass Currentzis dies gelingt, dass keiner der üblichen vorlauten Claqueure und Bravorufer die Atmosphäre zu zerstören wagt, zeigt, über welches Charisma dieser Mann verfügt. Und welche Macht er über Menschen hat. Nach seinem Signal, dass nun genug ist mit dem Warten, kennt der Jubel jedenfalls keine Grenzen. Zunächst stehen nur einige, am Ende der Ovationsstürme haben sich dann fast alle im ausverkauften Saal erhoben, um dem neuen Chefdirigenten zu huldigen.
Die Erwartungen an Currentzis sind riesig. Das fusionierte SWR Symphonieorchester, seit zwei Spielzeiten ohne Chefdirigent, soll der neue Messias zusammenfügen. Aus dem lange zerstrittenen Haufen eine Einheit formen, sein künstlerisches Potential mobilisieren und das Orchester in die Champions League der Klangkörper führen: davon träumt man beim SWR. Die Chancen dafür stehen nicht schlecht. Seit Currentzis´ Verpflichtung ist die Aufmerksamkeit der Musikwelt auf Stuttgart gerichtet wie nie zuvor. Sämtliche Konzerte bisher waren ausverkauft, zwei Gastspiele – ebenfalls bereits ausverkauft – in der Elbphilharmonie sind bereits gebucht. Und das ist erst der Anfang. Vielleicht klappt es ja auch, auf dem Tonträgermarkt bei einem major label unterzukommen – Currentzis ist bei Sony Classical unter Vertrag. Für Attraktivität ist also gesorgt, nocht wichtiger aber: aus den Reihen der Musiker hört man nur Gutes über den Neuen. Einer, der das Orchester fordern und inspirieren würde. Endlich.
Dass Currentzis über ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein verfügt ist bekannt, und so passt es, dass er sich für sein Antrittskonzert Mahlers dritte Sinfonie ausgesucht hat, deren erster Satz – insgesamt sind es an die 100 Minuten Spielzeit – mit über 30 Minuten allein so lange ist wie manche komplette Sinfonie.
Musik, in der es um alles geht: in einem groß angelegten, stufenartigen Konzept entwickelt sich die (sinfonische) Welt vom Immateriellen über die erwachende Natur mit ihrer Flora und Fauna über den Menschen zum Engel, bevor sie schließlich in der Entrückung des gut halbstündigen langsamen Finalsatzes in der göttlichen Liebe kulminiert. Eine derart ausgedehnte Formanlage hat Mahler später nie mehr gewagt, auch musikalisch hat er hier heterogenstes Material verwendet: Volkslieder, Bimm-Bamm-Kindermusik, Militärklänge (mit bisweilen „grob“ dreinfahrendem Blech), Tanzmusik. Musik, der man im kommoden Dienstmodus genauso wenig gerecht werden kann wie mit bloßer Schönheitsästhetik. „Im erniedrigten und beleidigten Musikstoff“, so formulierte es Adorno wunderbar poetisch, „schürft Mahler nach unerlaubtem Glück“ – eine Prämisse, ohne die sich Mahlers Werk nicht begreifen lässt.
Das weiß Currentzis, und so lässt er die Marschrhythmen im ersten Satz mit Volldampf aufeinanderprallen, die Klarinetten kirmeskapellengleich kreischen. Auch wenn nicht alles auf dem Punkt ist, so ist es doch technisch bemerkenswert sauber und akkurat gespielt, auch im heiklen zweiten Satz, dessen graziöser Duktus Luftigkeit von der Genauigkeit profitiert, mit der die oft gegeneinanderlaufenden Rhythmen gesetzt werden. Offenbar hatte Currentzis gut geprobt. Doch vielleicht ist das Orchester schon etwas überspielt, denn ab dem vierten Satz lässt die Spannung merklich nach. „Mit geheimnisvollem Ausdruck“ fordert Mahler hier, doch singt Gerhild Romberger Nietzsches Zeilen „O Mensch!“ nicht wie gefordert Pianissimo, auch die Horngruppe agiert zunehmend nervös, sodass das Meditative des Satzes kaum zum Ausdruck kommt. Currentzies Stärke liegt darin, Phrasen aufzuladen, Dramatisches zuzuspitzen, Motive auf die Goldwaage zu legen. Doch dass diese Musizierweise Gefahren birgt, zeigt das Finale der Sinfonie. Dieser gen Himmel gerichtete Liebeshymnus entwickelt sich idealerweise in einem großen, apotheotisch im Paukenwirbel kulminierenden Gesang, bei dem sich eines aus dem anderen ergibt. Currentzies aber gelingt es nicht, organischen Fluss in die Musik zu bringen, große Formbögen aufzubauen. Überphrasiert im Kleinen und überfrachtet mit Ausdruck stockt immer wieder die sinfonische Entwicklung – als schöbe sich das Ego des Dirigenten zwischen Musik und Hörer. So bleibt die Finalsteigerung unvermittelt, der Satz letztlich Stückwerk. Als einen „Flug durch die Wolken, hin zum ewigen Licht“, so hatte Currentzis dessen Bedeutung in seiner Einführung am Dienstagabend im Mozartsaal ausgedrückt. An diesem Abend blieb das eine Vision.