Beiträge im Archiv Juni 2016

Das Markus Geiselhart Orchestra in Ludwigsburg

27.
Jun.
2016

Bigbandmusik auf der Höhe der Zeit

Dass es im Nachkriegsdeutschland Bigbands wie die von Max Greger oder Hugo Strasser waren, die sozusagen die musikalische Grundversorgung übernommen hatten – wobei die Grenzen zwischen Tanzmusik und Jazz fließend waren – dürfte einiges zum konservativen Image der Bigband beigetragen haben. Waren ihre Vorbilder, also Count Basie, Duke Ellington oder Glenn Miller stilistisch noch auf der Höhe ihrer Zeit, so blieben deren Nachfolger auch dann noch größtenteils dem gepflegten Swing verhaftet, als sich der Jazz schon längst dramatisch weiterentwickelt hatte. Das Konzert in der Reithalle der Karlskaserne mit dem Markus Geiselhart Orchestra war nun ein Beweis dafür, dass sich mit einer klassischen Bigbandbesetzung höchst zeitgenössische Musik machen lässt, ohne dabei die Tradition gänzlich zu verleugnen.
Schon im vorigen Jahr gastierte der in Fellbach geborene Posaunist und Bandleader Geiselhart im Rahmen der Ludwigsburger Schlossfestspiele mit dem Don Ellis Tribute Orchestra, damals mit dem Wiener Trompeter Thomas Gansch. Auch die Mitglieder seines Orchesters hat sich Geiselhart aus der Wiener Jazzszene herausgepickt und konnte – der Festspieletat macht´s möglich – als special guest noch die amerikanische Posaunenlegende Ray Anderson verpflichten.
Die Stücke des Abends stammten bis auf zwei von Geiselhart selbst, der mit seinem Vorbild Don Ellis die Vorliebe für komplexe Rhythmen teilt. Geiselhart verarbeitet dabei verschiedene Einflüsse zu einer sehr eigenständigen Musik, beispielhaft zu hören im ersten Stück des Abends, „My instrument is the orchestra“. Schneidende Fanfaren gemahnen an Gladiatorfilme, quasi-orchestrale Arrangements an modernen Bigbandstil à la Maria Schneider, dazwischen gibt es die Möglichkeit zur Improvisation. Bemerkenswert ist, dass Geiselharts Stücke bei aller Komplexität – permanente Taktwechsel! – niemals akademisch klingen, sondern immer einen gewissen Groove bewahren: Musik, die Kopf und Herz gleichermaßen anspricht und schlicht Laune macht.
Solistisch stand an diesem Abend natürlich Ray Anderson im Mittelpunkt. Der New Yorker ist ein ebenso begnadeter Posaunenvirtuose wie verspielter Kindskopf, dessen permanente Aufgekratztheit auch nerven könnte, aber zum Glück durch einige mitreißende Soli von Geiselharts Bandkollegen im Zaum gehalten wurde: vor allem der Gitarrist Martin Koller konnte sich dabei als herausragend innovativer Vertreter seiner Spezies profilieren. Geiselhart moderierte so unterhaltsam wie hemdsärmelig sympathisch, und so ging der Abend in der voll besetzen Reithalle wie im Fluge vorüber. Einziger Wermutstropfen blieb der zu laute und harte Sound der Verstärkung: Die konnte den farbenreichen Klang der Band nur andeutungsweise abbilden. Schade. (STZN)

Das Sinfoniekonzert des Staatsorchesters Stuttgart mit Alisa Weilerstein

19.
Jun.
2016

Klirrend kalte Klänge

Spürbar bewegt war Pascal Dusapin nach der Aufführung seines Cellokonzerts „Outscape“. Erst küsste er die Solistin Alisa Weilerstein und herzte hernach die Konzertmeisterin Elena Graf. Nun hatte Dusapin auch allen Grund für Glücksgefühle, war diese europäische Erstaufführung seines Konzerts, einem Auftragswerk des Staatsorchesters Stuttgart und des Chicago Symphony Orchestra, doch ein außergewöhnlich eindrucksvolles Konzerterlebnis. Dusapins Werk ist von der nordischen Landschaft inspiriert, die „Idee einer Schneewüste“ soll ihm bei der Komposition vorgeschwebt haben. Doch unabhängig von außermusikalischen Assoziationen hat Dusapin hier eine ungemein atmosphärische wie bildmächtige Musik geschrieben, in der sich die Klänge aus einer symbiotischen Einheit von Solocello und Orchester heraus naturhaft entwíckeln und dabei immer wieder neue, faszinierende Strukturen bilden. Gerade im Vergleich zu anderen zeitgenössischen Werken ist diese Musik von großer Sinnlichkeit und in ihrer frostigen Herbheit auch schillernd schön: das Bild einer klirrend kalten Schneelandschaft vermittelt sich vor allem durch eisige, wie mit Raureif überzogene Linien des Solocellos. Der Beifall des Publikums war herzlich, die zugegebene Sarabande aus Bachs 3. Cellosuite rundete den Eindruck aufs Schönste.
Auch Bruckners vierte Sinfonie ist von Naturbezügen durchdrungen, wobei die Schwierigkeit für den Dirigenten vor allem darin besteht, die Prozesshaftigkeit der Musik bruchlos darzustellen. Organisch, wie von selbst sollte sich Bruckners Sinfonik entwickeln, was freilich nur durch akribische Probenarbeit zu erreichen ist und deshalb für einen Gastdirigenten vielleicht auch gar nicht zu schaffen. Der bei Dusapin sehr überzeugende Markus Stenz tat sich damit jedenfalls deutlich schwerer. Muss es denn überhaupt so oft Bruckner sein? (STZN)

Johannes Harneits Kinderoper „Alice im Wunderland“ hatte im Kammertheater Premiere

03.
Jun.
2016

Opa im Strampelanzug

Warum sich in der Oper Menschen singend unterhalten, ist eine durchaus berechtigte Frage. Weil sich durch die Musik eine zweite Bedeutungsebene eröffnet, könnte man antworten. Oder weil Singen überhaupt etwas Schönes ist, und wenn man es schon auf der Straße nicht tut, dann doch wenigstens auf der Bühne. Freilich hat das Singen auch seine Tücken: „Ich denke,“ sagt Alice im dritten Akt zum Hutmacher, „das hätte ich besser verstanden, wenn ich es aufgeschrieben hätte“, und trifft damit so ganz nebenbei den wunden Punkt dieser Inszenierung der Kinderoper „Alice im Wunderland“, die am Donnerstagabend im Kammertheater Premiere hatte. Denn das gesungene Wort ist nun mal rein akustisch schwerer verständlich als das gesprochene, und wenn das Begreifen des Stücks – wie in diesem Fall – stark vom Text abhängt, kann man leicht den Faden verlieren. Um es klipp und klar zu sagen: über weite Strecken versteht man an diesem Abend nicht, worum es da eigentlich auf der Bühne gerade geht, selbst wenn man die Romanhandlung kennt. Als Basis ihres Librettos hat Lis Arends die Dialogpassagen aus Lewis Carrolls Kinderbuch genommen, ergänzt durch Monologe, in denen die Protagonistin über sich selbst reflexiert. Doch das nachzuvollziehen ist äußerst mühsam, vor allem dann, wenn Sopranistinnen in hoher Lage singen. „Wer ist das?“ oder „Was macht die da?“ hörte man denn auch einige Kinder ihre erwachsenen Begleiter flüsternd fragen, die es wohl selber auch nicht immer verstanden haben. Übertitel wären da möglicherweise hilfreich gewesen.
Dass die Komponisten lange Zeit einen Bogen um das berühmte Buch gemacht haben (erst 2007 gab es eine erste Vertonung von Unsuk Chin) könnte aber auch daran liegen, dass Fantasieräume, wie sie sich beim Lesen auftun, auf einer Theaterbühne nur schwer zu entwerfen sind – der (Trick-)Film hat es da wesentlich leichter. Nun sind die Kostüme von Vesna Hiltmann zwar überaus originell wie liebevoll gemacht, tragen aber manchmal eher zur Verwirrung bei. Dass die grün gekleidete Frau mit dem üppigen Kopfschmuck eine Raupe sein soll, macht erst ein Blick ins Programmheft klar. Und warum trägt der verwirrte Opa im Rollstuhl da einen Strampelanzug? Ach so, das soll ein Baby sein! Wenigstens Hutmacher und Kaninchen sind leicht zu identifizieren.
Die Chance für eine Opernadaption liegt in der Musik. Die müsste fesseln, verzaubern und mitreißen und jene Imaginationsebenen aufreißen, die der Bühne verschlossen bleiben. Und wenngleich der Musik von Johannes Harneit eine wirklich sinnliche Verführungskraft fehlt, hat der Komponist hier doch eine vielschichtige Theatermusik geschrieben, die ein weites stilistisches Spektrum umfasst und sich dabei weder anbiedert noch neutönerisch verweigert. Das kleine Instrumentalensemble unter Leitung von Stefan Schreiber setzt sie animiert um, wie überhaupt hier alle mit Feuereifer bei der Sache sind. Das gilt speziell für den Kinderchor der Staatsoper, aber auch für die Solisten, von denen Victoria Kunze (Alice) am Ende verdientermaßen den größten Applaus bekommt. Ein wenig gerädert fühlt man nach diesem langen Abend (inklusive Pausen 160 Minuten) freilich trotzdem. (StZN)