Beiträge im Archiv Juni 2023

Das Staatsorchester Stuttgart begeistert mit Bartók und Mahler

18.
Jun.
2023

Musik als Liebeserklärung, das gibt es öfters in der klassischen Musik. Der 74-jährige Janáček etwa komponierte sein zweites Streichquartett „Intime Briefe“ als Liebesgeständnis an die 36jährige Kamila Stöslová. Die Liebe wurde nicht erwidert, das Begehren blieb und war Janáček eine lange währende Inspiration. Auch Béla Bartók war in die sieben Jahre jüngere, genial begabte Geigerin Stefi Geyer verliebt, der er 26-jährig sein erstes Violinkonzert widmete. „Aus dem Herzen heraus“, so Bartók, habe er das Werk geschrieben. Und das hört man. Ein kaum verhaltenes Schwärmen prägt den ersten Satz, in dem die Solovioline sich immer wieder zu süßen Kantilenen aufschwingt, und Christian Tetzlaff spielt das betörend schön, fein balancierend auf dem Grat zwischen Überschwang und latenter Bitterkeit, der vielleicht schon die Ahnung eingeschrieben ist, dass es nichts werden könnte mit dem Liebesglück. Im zweiten Satz des musikalischen Porträts demonstriert Tetzlaff weitere Facetten seines geigerischen Könnens: „Giocoso“, spielerisch, bewältigt er der Vortragsanweisung gemäß die techischen Vertracktheiten, mit denen Bartók Stefi Geyers extrovertierte Seite zeigen will. Cornelius Meister am Pult des Staatsorchesters ist ihm dabei ein Bruder im Geiste, der die Ausschläge in Bartóks Liebesdrama mit dem bestens disponierten Staatsorchester in seelischem Gleichklang mit dem Solisten nachzeichnet.
Ein Erlebnis, das nach der Pause noch einmal übertroffen wird von einer, ja, triumphalen Interpretation von Mahler monumentaler 5. Sinfonie. Der Stuttgarter GMD Cornelius Meister hat sich zu einem genuinen Mahlerdirigenten entwickelt, dem es auf überwältigende Weise gelingt, unterschiedliche Qualitäten zu bündeln. Meister lässt die Extreme dieser Musik, ihre elementare Wucht und Maßlosigkeit, aber auch ihre herzzerreißende Klage und spirituelle Hoffnung vorbehaltlos ausspielen, beweist aber auch Sinn für die Zwischentöne, für das Uneindeutige und Tastende und behält dabei die Dramaturgie des Satzganzen immer im Blick. Nach drei Sätzen ist man da als Hörer emotional derart durchgerüttelt, dass das traumverlorene Adagietto wie Balsam auf die Seele wirkt, ehe sich das Finale in einer gewaltigen Kulmination aller Kräfte entlädt. Das Staatsorchester spielt das wie entfesselt, am Ende gibt es Ovationen. Ein Ereignis. Wer es nicht hören konnte: am Montagabend wird das Konzert wiederholt.

Räumt den Müll weg

17.
Jun.
2023

„Die Schöpfung – Erde an Zukunft“ als Eröffnungskonzert des Musikfests 2023

Wieviele Personen passen auf die Bühne des Hegelsaals? 100? 200? Deutlich mehr, nämlich an die 350 dürften es nun beim Eröffnungskonzert des Musikfests 2023 gewesen sein, der überwiegende Teil davon Kinder. Die hatten sich dicht an dicht zwischen Chor und Orchester der Gaechinger Cantorey gezwängt, um ihren Part von „Die Schöpfung – Erde an Zukunft“ zu singen, einem Projekt, das die Bachakademie schon 2022 sechsmal aufgeführt hat. Bei jedem Konzert waren andere Schulen beteiligt, was jedesmal aufs Neue intensive Probenarbeit bedeutete. Diesmal waren es neun Schulen aus dem Großraum Stuttgart vom Strohgäu bis nach Korntal, in denen zunächst vor Ort geprobt wurde, ehe die gesamte Schar von Sabine Layer zu einem Kollektiv zusammengeschweißt wurde. Einfach zu singen ist das nämlich keineswegs: Karsten Gundermann hat Elemente aus Joseph Haydns Oratorium „Die Schöpfung“ mit selbst komponierten Teilen zu einem knapp 75-minütigen Werk kombiniert und dabei dem Kinderchor eine zentrale Rolle zugewiesen. Wichtig vor allem, damit der musikalische Fluss nicht ins Stocken gerät, sind dabei die nahtlosen Übergänge zwischen Solisten, Profi- und Kinderchor. Und die gelangen vorbildlich.
Nun erzählt Haydns Werk die Schöpfungsgeschichte aus biblischer Sicht, und das in sehr gespreiztem Sprachduktus. Da „beut die Flur das frische Grün dem Auge zur Ergötzung dar“, heißt es da etwa, und man könnte durchaus fragen, ob Kinder diese Ausdrucksweise verstehen, zumal die historische Perspektive durch die Erweiterung um einen zeitgenössisch formulierten, dezidiert zivilisationskritischen dritten Teil nivelliert wird: „Wenn ich all meinen Müll besehe, schäm ich mich, dass ich hier stehe“, singt die Erderstbewohnerin Eva im Finale, nachdem Astronaut Ulf Merbold in einem eingespielten Text zuvor die ethische Pflicht beschworen hat, die Erde in intaktem Zustand zu hinterlassen.
Auch musikalisch bedeutet der Wechsel von Haydns klassischem Stil in ein musicalähnlich synkopiertes Genre einen Bruch, der sich auch durch ein Keyboard als Rezitativbegleitung nicht kitten lässt. Vielleicht weist das aber auch auf ein Manko der zeitgenössischen E-Musik hin. Warum gibt es offenbar kein Werk, das generationenübergreifend eine solche Thematik behandelt und dabei weder anbiedernd noch elitär daherkommt? Die Begeisterung über diese gelungene, am Ende bejubelte Aufführung soll diese Überlegung nicht schmälern.