Beiträge im Archiv Januar 2011

Das neue deutsche Erlebnispinkeln

31.
Jan.
2011

Zu deutschen Autobahnraststätten pflege ich ein ähnliches Verhältnis wie zu Dorfärzten in Wintersportgebieten. Im Grunde finde ich es gut, dass es sie gibt, aber wenn es sich vermeiden lässt, gehe ich nicht hin. Neulich war ich mit meiner Kleinfamilie in einer neu gebauten, vom ADAC empfohlenen Raststätte. Zum ADAC pflege ich ein ähnliches Verhältnis wie zu antroposophischen Kieferchirurgen, die ohne Betäubung arbeiten.

Wer in so einer neuen Raststätte aufs Klo will, muss fünfzig Cent einwerfen und sich durch ein Drehkreuz quetschen. Dafür gleitet einem ein Wertbon entgegen, den man sich in dem nach fernöstlichen Prinzipien eingerichteten Raststättenrestaurant mit dem Preis seines Verzehrs verrechnen lassen kann. Der Gang zur Toilette erfährt mittels des Wertbons sozusagen eine symbolische Verknüpfung mit der Aufnahme von Nahrungsmitteln. Wer trinkt, muss danach pinkeln. Wer pinkelt, darf dafür wieder trinken. In der Sprache der Technik nennt man sowas einen geschlossenen Wasserkreislauf.

Das ist aber nicht das einzige Neuerung. Was früher Klo hieß, nennt sich jetzt Sanifair-Servicebetrieb und funktioniert weitgehend berührungslos. Vielleicht kommt mal jemand auf die Idee, die seltsamen Handbewegungen zu filmen, die Waschwillige vor dem Wasserkran vollführen, um die Sensoren für die Auslösung des Wasserstrahls zu erwischen. Der Streifen könnte glatt als Doku-Film aus einer Spezialklinik für Zwangshandlungen durchgehen. Auch das Pinkeln selber ist nicht mehr ganz wie früher. Nicht nur, dass es keine stinkenden WC-Steine mehr gibt. Während ich das ressourcenschonende, wasserfreie Urinale benetze, flötet aus den Lautsprechern an der Decke eine junge Frauenstimme, die mir einen „rundum angenehmen Aufenthalt“ wünscht. Ich rücke näher an die Wand, bis ich mit der Nase fast auf die Kaminwerbung stoße.

Ich mag es nämlich nicht, beim Pinkeln beobachtet zu werden, auch nicht als Gefühl.

Früher gab es in deutschen Raststätten warmgehaltenen sauren Kaffee und staubtrockene Brathähnchen. Vor den Toiletten saßen dicke Frauen mit Schürze, neben sich ein Tellerchen mit aufgeklebten Münzen. Dazu muss ich sagen, dass ich aus einem grundsätzlichen Mitgefühl mit benachteiligten gesellschaftlichen Randgruppen bei meinen seltenen Besuchen immer mindestens eine Münze im Wert der aufgeklebten auf den Teller gelegt habe.

Irgendwann habe ich dann gelesen, dass die Klofrauen das Geld gar nicht kriegen, das man im Glauben, eine benachteiligte Randgruppe zu unterstützen, auf das Tellerchen schmiss, sondern dass es in die Taschen mafiös organisierter Raststättenklobetreiber fließt, die sich dafür schwere Geländewagen mit getönten Scheiben kaufen.

Man kann ja vom Fortschritt halten, was man will, aber da finde ich das neue Erlebnisklo doch besser. Von mir aus können so ruhig alle deutschen Raststätten umgerüstet werden. In nicht ferner Zukunft wird dann in der Wand neben dem Urinal ein Kaffeespender installiert sein, der dem Gast eine aus seinem Entleerungsvolumen millilitergenau errechnete Menge an Latte macchiato bereitstellt. Die Klofrauen werden Sanitärservicehostessen heißen und regelmäßig zu Feng-Shui-Fortbildungsseminaren geschickt, wo man sie in der Kunst der berührungslosen Klobrillenreinigung unterweist. Dann trete ich vielleicht auch wieder in den ADAC ein.
(Stuttgarter Zeitung)

Jonathan Doves Pinocchio an der Stuttgarter Staatsoper

28.
Jan.
2011

Wer kommt mit ins Spassland?

Ein derart enthusiasmiertes Publikum gab es wohl noch selten an der Stuttgarter Staatsoper wie nun nach der Premiere von Jonathan Doves Familienoper „Pinocchios Abenteuer“ – was durchaus nicht nur an den trampelnden und rhythmisch klatschenden Kindern und Jugendlichen lag. Auch die Erwachsenen schauten überwiegend beglückt drein, sodass die Ovationen und Bravos gar kein Ende nehmen wollten. Und das völlig zurecht: Denn was das Team unter der Leitung des Regisseurs Markus Bothe da auf die Bühne gebracht hat, ist sicher eine der schönsten und fantasievollsten Produktionen der letzten Jahre, ein Fest für Augen und Ohren. Und es wurde ja auch mal Zeit, dass eine Produktion für den Nachwuchs mit dem gleichen Aufwand erarbeitet wird wie eine „große“ Oper. Ansonsten werden Kinderopern ja gerne ins Kammertheater abgestellt, oft mit kärglichen Bühnenbildern, Miniinstrumentalensembles und 1b-Sängern ausgestattet – was ja grundsätzlich auch in Ordnung ist.

Hier ist aber alles mal anders: das fängt damit an, dass das Stück mit knapp drei Stunden inklusive Pause (von denen keine Sekunde langweilig ist!) abendfüllend ist, aber vor allem szenisch und musikalisch wird aus dem Vollen geschöpft. Die Bezeichnung „Familienoper“ trifft die Sache insofern gut, da sich das Stück keineswegs nur an Kinder richtet. Jonathan Dove und sein Librettist Alasdair Middleton haben Carlo Collodis Geschichte von der Holzpuppe Pinocchio, die nach ihrer aufregenden Reise durch die Menschenwelt, in der sie, hin- und hergerissen zwischen den Lockungen der Kindheit und den Forderungen der Erwachsenen am Ende ein richtiger Junge wird, als das genommen, was sie ist: Ein Märchen. In denen liegt bekanntlich viel verborgen an Weltwissen, Mythen und Tiefenpsychologie, und so kann man die Abenteuer des kleinen Pinocchio verstehen als Reise in jene Bereiche des eigenen Seins, die noch nicht völlig besetzt sind von Verantwortung und Vernunft. Wer kennt nicht die Versuchung, einmal abzutauchen in ein regel-und verpflichtungsfreies „Spassland“, wer möchte nicht mal gerne im Haus einer schönen blauen Fee aufgenommen werden? Collodis „Pinocchio“ ist auf vielfältige Weise ein Gegenentwurf zur ökonomisierten modernen Welt, in dem aber auch die großen Fragen verhandelt werden: woher kommen wir, was ist wichtig im Leben, was hat es mit der Liebe auf sich und mit dem Tod?

Dass Pinocchios Eskapaden hier einen derartigen Bühnenzauber verbreiten, liegt aber vor allem an der Fantasie und der Detailliebe, mit denen Robert Schweer (Bühnenbild) und Justina Klimczyk (Kostüme) das Stück auf die Bühne gebracht haben. Die Kostüme sind schlichtweg spektakulär, die konsequent zweidimensionalen Bühnenelemente wurden ästhetisch an die Bilderbücher des 19. Jahrhunderts angelehnt und werden mitunter so überraschend von allen Seiten herein- und herausgefahren,  dass es immer wieder erstaunte Ahs und Ohs im Publikum gibt: wenn man sich plötzlich in einer Korallenunterwasserwelt wiederfindet oder sich im Spassland Super-, Bat- und Spiderman ein Stelldichein geben. Aktualisierungen wie diese bleiben aber selten und dann auch so subtil, dass sie nie aufdringlich werden – immer steht das Zeitenthobene, Traumgleiche im Vordergrund.

Was auch für die Musik von  Jonathan Dove gilt: der spielt virtuos mit den musikalischen Stilen und Genres, ohne dass es jemals eklektisch klänge. Da bläst das formidabel spielende Staatsorchester (Leitung: David Parry) mal puccinimäßig die Backen auf, um hernach in John-Williams-Manier Stimmungen zu malen, dazu gibt es gruslig-schöne Gruftmusiken und überdrehte Zirkusklänge: ein Riesenvergnügen, das noch gesteigert wird, als auch der Chor merklich Spass an der Sache hat und sich das Besetzungsbüro auch bei den Sängern nicht hat lumpen lassen. Tina Hörhold singt und spielt den Pinocchio umwerfend, Michael Ebbecke gibt einen kernigen Gepetto. Yuko Kakuta ist die Rolle der Grille auf den zwitschernden Sopran geschieben, und Catriona Smith stattet die Rolle der blauen Fee mit jener Wärme und Sensibilität aus, die sie braucht. Und wer wissen will, wie Füchse und Kater und Schnecken singen, der muss schon selber hingehen.(Stuttgarter Zeitung)

Mozarts Cosi fan tutte zur Eröffnung der Winterfestspiele in Baden-Baden

28.
Jan.
2011

Alles ist bloß ein Spiel

Kennen die Schwestern Dorabella und Fiordiligi von Anfang an die wahre Identität der beiden Herren, die ihnen da den Hof machen, nachdem ihre Liebhaber Guglielmo und Ferrando (angeblich) in den Krieg gezogen sind? Sind sie wissende Mitspielerinnen in einem abgekarteten Spiel um einen Partnertausch unter Freunden?

Einiges deutet darauf hin in Philipp Himmelmanns Neuinszenierung von Mozarts „Cosi fan tutte“, die nun zum Auftakt der Winterfestspiele im Baden-Badener Festspielhaus gegeben wurde. Denn zum einen sind Dorabella und Fiordiligi mit dabei, als Don Alfonso mit Guglielmo und Ferrando seine Wette auf den Treuebruch der beiden Damen aushandelt. Zum anderen symbolisiert auch das Bühnenbild ein solches Spiel im Spiel: im Zentrum des bis auf einen Baum weitgehend leeren Raums, den eine Art Sternenkarte überwölbt, steht als Spielstätte ein rechteckiges Podium. Die wenigen Requisiten und Kostüme werden nach Bedarf vom Schnürboden herabgelassen, was die Künstlichkeit der Situationen betont. Neu ist das freilich nicht: schon im 19. Jahrhundert wurde in zahlreichen Umarbeitungen die Mitwisserschaft der Frauen mit dem Zweck implementiert, die als unmoralisch empfundenen Frivolitäten der Oper erträglicher zu machen: Es ist doch alles bloß ein Spiel. In neueren Inszenierungen, wie etwa 2004 in Salzburg, greifen Regisseure deshalb gerne auf den Trick zurück, um sich die Verkleidungsposse mit angeklebten Bärten und Turbanen zu ersparen.

So tauschen Guglielmo (Stephan Genz) und Ferrando (Steve Davislim) in Baden-Baden einfach ihre weißen Anzüge gegen schwarze, und die Farce kann beginnen. Auch die Rollen von Don Alfonso (Konstantin Wolff) und Despina (Mojca Erdmann) hat Philipp Himmelmann neu definiert. Ersterer ist hier kein alter Philosoph, sondern ein viriler Lebemann, der mit der feschen Despina auf der Bühne erotisch vorlebt, was sich die neu zu bildenden Paare erhoffen. Am Ende finden sich bekanntlich die ursprünglichen Paare wieder zusammen – wenn auch reichlich derangiert, haben sie doch an dem inszenierten Techtelmechtel mehr Gefallen gefunden, als ihnen lieb ist. Dass vor allem die Frauen die Intensität der Gefühle erst in der Untreue erfahren, darin liegt wohl das eigentlich subversive Potential dieser Oper. Das kann die Regie in Baden-Baden aber vor allem deshalb nicht glaubhaft machen, als Charakterisierung durch Ästhetisierung ersetzt wird: so unverbindlich wie das Bühnenbild erscheinen auch die Akteure, von denen allein Véronique Gens als Fiordiligi jene Zerrissenheit spürbar werden lässt, die Mozart in der Musik angelegt hat. Ansonsten hört man mehr oder weniger schöne Stimmen: Mojca Erdmann singt eine quecksilbrig höhensichere Despina, während es Silvia Tro Santafé als Dorabella etwas an Wärme mangelt. Sehr homogen besetzt sind die Männerstimmen, und auch das von Teodor Currentzis geleitete Balthasar-Neumann-Ensemble kann überzeugen: Currentzis hält die Musik wunderbar im Fluss, atmet mit den Sängern und verwirklicht mit den technisch brillanten Musikern das Ideal eines kammermusikalisch-lichten, auf Balance zwischen Streichern und Bläsern angelegten Musizierens. Dass einiges davon in der Weite des Baden-Badener Festspielhauses verloren geht, dafür kann er allerdings nichts.  (Stuttgarter Zeitung)

Marc-André Hamelin in der Meisterpianistenreihe

25.
Jan.
2011

 

Die meisten Pianisten dürften sich glücklich schätzen, sie könnten mit zehn Fingern so gut spielen wie dieser Marc-André Hamelin mit fünf. Hätte man es nicht gesehen, wäre man kaum auf die Idee gekommen, dass dessen erste Zugabe, eine selbst geschriebene Etude nach einem Wiegenlied Tschaikowskys, allein mit der linken Hand gespielt wurde, derart vollständig erschien die musikalische Faktur: ein kantables Thema, begleitet von einem weit ausgreifenden akkordischen Satz, klanglich perfekt abgetönt. Unfassbar.

Dass viele den Franko-Kanadier für den besten Pianisten unserer Zeit halten, liegt allerdings nicht allein an dessen zirzensischen technischen Fähigkeiten. Denn Hamelin ist eben auch ein blitzgescheiter, hochsensibler Musiker, der sein immenses Talent immer in den Dienst einer musikalischen Idee stellt. Das Auftaktstück etwa, Haydns Sonate e-Moll Hob. XVI:34, fasste er als Spielmusik auf: aus einer klassischen Distanz heraus beleuchtete er das Stück von allen Seiten, klopfte es ab auf metrische Verschiebungen und spielte mit allen denkbaren Artikulationsarten zwischen Staccato und Legato. Vor allem das gedankenverlorene Adagio verströmte dabei eine fast rokokohaft verspielte Grazie, wozu auch die celestahaft funkelnden Töne beitrugen, die er dem Fazioliflügel entlockte. Künstlich, aber nicht kühl.

Hatte Hamelin den Flügel hier dynamisch im Zaum gehalten, so zeigte er in Schumanns Carnaval op. 9 eine geradezu orchestrale Fülle. Das Stück ist eine tönende Weltbühne, auf der Schumann neben den Figuren der Comedia dell´arte auch musikalische Protagonisten der Zeit wie Paganini oder Chopin auftreten lässt. Die blitzartigen Verwandlungen in diesem Maskenspiel erfordern pianistische Charakterisierungskunst, gleichermaßen kühlen Kopf und heißes Herz. Über beides verfügt Hamelin: Brillanz und Intimität, Pathos und Naivität stellt er dicht an dicht und spannt einen großen Bogen über die tönenden Skizzen, begreift sie als Kapitel einer Erzählung.

Das Werk des in Berlin geborenen jüdischen Komponisten Stefan Wolpe, der vor den Nazis in die USA emigrieren musste, ist bis heute in Deutschland wenig bekannt. So erscheint Hamelins Interpretation von dessen Passacaglia op. 23 wie eine Rehabilitation: großartige Musik von expressionistischer Kraft ist das, die derart fulminant gespielt einen regelrechten Sog entwickeln kann. Eine pianistische Exaltation, nach der Faurés Barcarole Nr. 3 Ges-Dur wie eine Traumvision wirkte: eine Skizze aus den Kanälen Venedigs, das Schillern des Wassers gedämpft durch einen Gazeschleier aus Nebel.

Mit Franz Liszts Opernparaphrase „Réminiscences de Norma“ bewies Hamelin schließlich noch einmal seine Führungsrolle unter den Tastenvirtuosen unserer Zeit: bezwingender, souveräner, leichthändiger meistert diese Höchstschwierigkeiten zurzeit keiner. Jubel und stehende Ovationen im gut besetzten Beethovensaal.(Stuttgarter Zeitung)

 

 

 

 

Midori Seiler spielt Bach

13.
Jan.
2011

Midori Seiler spielt Bach

Körniger Klang

An Aufnahmen der Violinpartiten von Johann Sebastian Bach herrscht wahrlich kein Mangel – kaum ein Geiger von Rang, der sich nicht im Laufe seines Lebens daran versucht hätte, schließlich zählen sie zu den ultimativen Herausforderungen, sowohl was technische Beherrschung als auch was  musikalische Ausgestaltung anbelangt. Dass die von deutsch-japanischen Barockgeigerin Midori Seiler nun vorgelegte Neueinspielung innerhalb der einschüchternd großen Konkurrenz dennoch mehr als nur bestehen kann, liegt vor allem daran, dass sie nicht zuletzt mittels ihres historischen Ansatzes tatsächlich in der Lage ist, neue Facetten des Werks offenzulegen. Das beginnt mit der Tongestaltung: der leicht körnige, aufgeraute Klang, den Seiler auf ihrer darmbespannten Guarneri-Geige evoziert, korrespondiert aufs Schönste mit der artikulatorischen Beredtheit der stilisierten bachschen Tanzsätze. Dazu ist sie eine Meisterin im Gestalten von Strukturen: Die Variationen der berühmten Chaconne d-Moll breitet sie mit großer Ruhe aus, und den motorischen Impetus des e-Moll-Préludes hält sie unter beständiger Spannung, ohne in bloße Mechanik abzugleiten. Erfrischend. (Stuttgarter Zeitung)

Midori Seiler. Bach, Partiten BWV 1002,1004,1006.

Berlin Classics Vertrieb Edel.

Helen Schneider, Götz Alsmann und die SWR-Bigband

09.
Jan.
2011

Ach du lieber Gott, was ist denn das? „Ich hab mich so an Dich gewöhnt“ singt Götz Alsmann, schreitet durch die Stuhlreihen des gut besuchten Beethovensaals und wirft den Damen dabei kesse Blicke zu wie einst Bully Buhlan in den 60er Jahren in Heinz Schenks Blauem Bock, begleitet von der SWR-Bigband und präsentiert vom Hausfrauensender SWR 4 („Da sind wir daheim“). Muss das nicht die Höchststrafe sein für jeden ambitionierten Jazzer, zumal wenn es sich um solch hochkarätige Instrumentalisten handelt wie die der SWR-Bigband?

Freilich: Die SWR-Bigband, die in diesem Jahr ihr 60-jähriges Bestehen feiert, durfte auch einige originäre Bigbandnummern spielen, bei denen sie zeigen konnte, was ihn ihr steckt. Im Übrigen hieß sie einst Südfunk-Tanzorchester und spielte damals alles, was ihr langjähriger Leiter Erwin Lehn auf die Notenpulte legte. Und in den 50er- und 60er-Jahren machte man hierzulande noch nicht viel Unterschied zwischen Schlager, Jazz und Tanzmusik: wer gut war, konnte (und musste, wenn er davon leben wollte) alles spielen, egal ob er Paul Kuhn oder Erwin Lehn hieß (der für seinen Freund Bully Buhlan Hits komponierte wie „Gib mir einen Kuss durchs Telefon“).

Vor diesem Hintergrund gesehen setzt die SWR-Bigband also nur ihre eigene Tradition fort – und man muss, bei Lichte betrachtet, froh sein, dass es überhaupt noch Ensembles wie diese gibt, die an jene Zeit erinnern, als auch Unterhaltungsmusik noch von Könnern gemacht wurde.

Wer von dieser Band begleitet wird, darf sich also glücklich schätzen, und das ist an diesem Abend nicht nur Götz Alsmann, der auch durch das „Beswingt ins neue Jahr“ titulierte Programm führt, sondern vor allem Helen Schneider. Die 58-jährige Sängerin hat unlängst zusammen mit derSWR- Bigband eine Bert Kaempfert gewidmete CD aufgenommen, aus der sie einige Stücke präsentiert. Nun sind Klassiker wie „It´s only a Paper Moon“ (das Kaempfert allerdings nur arrangiert hat) oder „Strangers in the night“ bereits unzählige Male gecovert worden, was die Aufgabe nicht leichter macht. Doch Helen Schneider gelingt es, auch solchen Nummern noch neue Facetten abzutrotzen, selbst wenn ihre Stimme zu Beginn des Abends noch wenig präsent ist. Bei Kaempferts „L.O.V.E.“ sucht sie noch etwas den richtigen Sitz in der Höhe, doch nach der Pause ist der typische Schneider-Sound dann wieder da: die irisierende Höhe, das volle Brustregister und das ausgeprägte Tremolieren.

Da darf man Götz Alsmann schon Mut attestieren, mit ihr im Duett zu singen. Der fernseherfahrene Westfale mit der Geltolle ist ein smarter Conferencier und eloquenter Plauderer, aber ein Sänger ist er nicht. Für „Danke schön“ reicht sein Sprechgesang grade noch, aber schon durch die Schlager von Buhlan oder Eddie Constantine mogelt er sich mehr oder weniger durch. Ziemlich charmant, immerhin. (Stuttgarter Zeitung)