Einen größeren Kontrast als zum vorherigen Konzert der Meisterpianistenreihe kann es kaum geben: nach dem Solitär Sokolov, der sich allem Äußerlichen verweigert, kaum Aufnahmen autorisiert und praktisch keine Interviews gibt, trat mit Khatia Buniatishvili nun eine Künstlerin auf, die wie kaum eine andere Pianistin multimedial vermarktet wird. Dass dabei auch bewusst ihr Äußeres in Szene gesetzt wird – Stichwort lasziver Vamp – gehört mit zum Konzept dazu. Beide, Sokolov wie Buniatishvili jedenfalls, haben ihr Publikum. Und beide können herausragend Klavier spielen. Wenn auch auf sehr unterschiedliche Weise.
Zum Glück, so sagte die Georgierin in einem Interview, habe sie einen Beruf, in dem es nicht darum gehe, besser, sondern anders zu sein als andere. Das nun könnte als Leitschnur für viele ihrer Interpretationen gelten – ihre Lesart etwa von Schuberts B-Dur-Sonate D960 dürfte ziemlich einzigartig sein. Zwar mag es auch andere Pianisten geben, die sich Freiheiten in der Tempogestaltung erlauben. Aber die Manier, mit der sie, ohne fühlbares Metrum in geradezu quälender Langsamkeit das Andante sostenuto heruntertupft, darf schon als exzentrisch gelten. Zwar gibt es innerhalb der vier Sätze auch immer wieder berückend schön gespielte Stellen – aber der dramaturgische Bogen von Schuberts Sonatenvermächtnis bleibt genauso verborgen wie sein resigniert-katastrophischer Subtext.
In Schuberts Impromptu Ges-Dur dagegen kommt sie ohne solche Manierismen aus. Pianistisch erlesen schichtet sie hier die Texturen zugunsten eines Cantabiles der Oberstimme, das sich wie ein liedhafter Gesang über die Harmonien legt. Die kleinen dramatischen Ausbrüche des Stücks pflügt sie weitgehend unter, betont dafür seinen lyrischen Grundcharakter. Kann man so machen.
Am überzeugendsten ist Buniatishvili freilich, wenn sie ihre Virtuosität beweisen kann. Denn technische Hürden braucht sie keine zu fürchten: ihre auratische Version von Liszts Schubert-Bearbeitung des „Ständchen“ beweist dies ebenso eindrucksvoll wie Liszts furios hingelegte Ungarische Rhapsodie Nr. 2 cis-Moll, mit der sie das Publikum im gut gefüllten Saal zu Ovationen hinreißt, die sich nach jeder Zugabe weiter steigern: zunächst ein Satz aus einem bachschen Klavierkonzert, dann das Precipitato aus Prokofjews siebter Sonate und schließlich ihre Bearbeitung von Serge Gainsbourgs „La javanaise“ aus ihrem Album „Labyrinth“.
Bachs Messe h-Moll zum Abschluss der Bachwoche Stuttgart
Was den sängerischen und instrumentalen Nachwuchs der Alte-Musik-Szene anbelangt, so braucht man sich keine Sorgen zu machen – davon konnte man sich am Samstagabend im Konzertsaal der Stuttgarter Musikhochschule beim Abschlusskonzert der Bachwoche überzeugen. Knapp zwei Wochen Probenarbeit hatten die Teilnehmer der Ausbildungs- und Meisterklassen hinter sich, um dann als Höhepunkt unter der Leitung von Hans-Christoph Rademanns Bachs h-Moll-Messe aufzuführen. Das Werk, so bekannt und beliebt es sein mag, ist immer noch ein Prüfstein: vor allem für den Chor, der etliche polyphone Vertracktheiten zu bewältigen hat, aber auch für die Vokalsolisten. Was die anbelangt, so konnte Rademann unter den Teilnehmern der Meisterkurse aus dem Vollen schöpfen, waren darunter neben Studenten doch auch einige Sängerinnen und Sänger, die ihre Ausbildung abgeschlossen haben und bereits im Konzertleben etabliert sind. Dazu zählt etwa die australische Sopranistin Morgan Balfour, die zusammen mit dem lyrischen Tenor Emanuel Tomljenovic ein Traumduo im Domine Deus bildete: zwei wunderbar timbrierte, biegsame Stimmen, die obendrein noch sehr textverständlich agieren. Wenn auch nicht alle hier genannt werden können, so seien seien wenigstens noch der frei ausschwingende Altus von Nicholas Burns sowie der feine Bariton Jared Swope erwähnt – aber auch von vielen der anderen Solisten wird man noch hören.
Den Rückgrat der Aufführung freilich bildete der Chor. Für historische Aufführungspraxis recht groß besetzt, verblüffte er mit großer Beweglichkeit gerade in fugierten Teilen wie dem Kyrie, die klar konturiert und ohne Reibungsverluste gelangen. Dazu verfügte er aber auch über die kompakte Klangfülle für koloraturenreiche Jubelsätze wie Gloria oder Sanctus, die von Rademann energiegeladen und mit bezwingender Dramatik realisiert wurden. Dessen Vertrautheit mit der Partitur – er dirigierte auswendig – war denn auch der Schlüssel zu einer ingesamt fesselnden Aufführung, bei der sich präzises Gestalten im Kleinen in Form einer an der Sprache angelehnten Artikulation mit einer überlegenen Disposition im Großen vereinte.
Und schließlich sollte man auch das erstklassige Orchester mit seinen fabelhaften Solisten nicht vergessen, allen voran der Naturhornist Gustav Borggrefe und die Trompeterin Andrea Braun: auch was die Achillesfersen mancher Barockorchester anbelangt – Grund zur Sorge besteht nicht.
Frank Armbruster
Das SWR Symphonierorchester spielte Messiaens «Turangalîla»-Sinfonie
Spektakel? Das kann man musikalisch auf verschiedene Weise haben. Während sich im Apollo Theater illustres Publikum zur Premiere des Musicals „Tina“ versammelt hat, konnte man wenige Kilometer entfernt im Beethovensaal der Aufführung eines der ungewöhnlichsten sinfonischen Experimente der Musikgeschichte beiwohnen: Olivier Messiaens «Turangalîla»-Sinfonie. Die ist ein monströses, alle Dimensionen sprengendes Riesenwerk, mit dem der Komponist jener absoluten Liebe huldigte – er nannte sie kosmische Liebe – die, auf Ewigkeit zielend wie jene zwischen Tristan und Isolde, letzlich in den Tod mündet. Dazu hat Messiaen alles aufgefahren, was ihm als Komponist zur Verfügung stand: ein Riesenorchester mit dreifach besetzten Holzbläsern, aufgerüstet mit multiplem Schlagwerk samt Celesta und Glockenspiel, dazu ein Klavier. Und natürlich jenes merkwürdige Instrument names Ondes Martenot, ein Vorläufer der elektronischen Musik, das uns heute mit seinem an eine singende Säge erinnerenden Sound kurios vorkommen kann.
Doch nicht nur die schiere Fülle an Klangfarben kennt kaum einen Vergleich, auch stilistisch ist es ein Konglomerat heterogenster Elemente: Messiaen verwebt darin hochkomplexe indische Rhythmen, impressionistische Harmonik und quasi-hollywoodeske Filmmusikanklänge zu einem hybriden, keinerlei ästhetischen Beschränkungen unterliegenden Gesamtkunstwerk.
Das SWR Symphonieorchester nun tat sein Bestes, um Messiaens Vision klangliche Realität werden zu lassen. Brad Lubman als Kapitän des sinfonischen Riesenschiffs hatte dabei alle Hände voll zu tun, seine musizierenden Heerscharen auf der proppenvollen Bühne sicher durch die Partitur zu steuern. Was ihm gut gelang. Maßgebliche Unterstützung erfuhr er dabei von Francois-Frédéric Guy, der den halsbrecherischen Klavierpart souverän meisterte und dabei seinen Mitmusikern auch rhythmisch strukturierend zur Seite stand. Was den dramaturgischen Bogen anbelangt, der die insgesamt zehn Sätze überspannt, so hätte man sich vielleicht noch eine stringentere, erzählerische, die Charakteristika der einzelnen Sätze prägnanter herausarbeitende Haltung gewünscht. Auch was die – zugegeben extrem heikle – Klangbalance anbelangt, wäre an manchen Stellen durchaus noch Luft nach oben gewesen. Eine imposante Leistung war die Aufführung gleichwohl. Und der große Beifall im gut besuchten Saal verdient.
Grigory Sokolovs Recital in der Meisterpianistenreihe
Grigory Sokolovs Vorliebe für barocke Klaviermusik ist bekannt – seit Jahren spielt er Werke von Komponisten wie Rameau oder Couperin, die andere Pianisten in der Regel links liegen lassen. Bei seinem Recital innerhalb der Meisterpianistenreihe im Beethovensaal nun waren es Stücke des englischen Barockmeisters Henry Purcell, denen die komplette erste Programmhälfte gewidmet war: eine ohne Unterbrechungen gespielte Abfolge von Einzelwerken und drei Suiten, die Sokolov in fast meditativem Duktus zelebrierte, erlesen durchtrillert als zeitenthobene Preziosen. Eine Art mentale Fastenkur – mit dem überraschenden Effekt, dass man Mozarts Sonate Nr. 13 B-Dur – ein Stück, das, wenn überhaupt, von Großpianisten allenfalls als Auftaktwerk programmiert würde – hernach als jenes Wunderwerk an Komplexität und Ausdrucksvielfalt erlebte, das es für Mozarts Zeitgenossen auch gewesen sein dürfte.
Hörerfahrungen dieser Art sind es, die Sokolovs Klavierabende, zusammen mit ihren pianistischen Qualitäten, zu singulären Ereignissen machen: hier geschieht, das spürt man, etwas Unwiederbringliches, kann man existenzielle Erfahrungen machen, die sich auch durch eine Konservierung auf Tonträgern nicht reproduzieren lassen, weshalb Sokolov auch nur selten Konzertmitschnitte freigibt.
Mit Mozarts todtraurigem Adagio h-Moll KV 540 endete dann der offizielle Teil des Programms, dem, das ist bekannt, in der Regel noch ein umfangreicher Zugabenteil folgt – so auch hier. Spielte sich der dynamische Bereich bis dahin praktisch ausschließlich, wenn auch in unfassbarer Differenzierung, im Bereich von dreifachem Piano bis Mezzoforte ab, so öffnete Sokolov mit den Zugaben – zunächst Brahms´ Intermezzo op. 117/2, dann eine chopinsche Mazurka und schließlich zwei Préludes von Rachmaninov – den Klang bis ins Orchestrale, um dann mit den Trillern in Chopins Mazurka op. post. 68/2 wieder an die Klangwelt von Purcell anzuschließen und den dramaturgischen Bogen zu runden. Das Publikum war im sehr gut gefüllten Saal bis dahin längst im Sokolovtaumel, dem Hohepriester des Klaviers seine Ovationen stehend entgegenbringend, und eigentlich hätte es mit dieser fünften Zugabe gut sein können. Dann aber geschah etwas Ungeheures. In Alexander Silotis Bearbeitung von Bachs Präludium BWV entfaltet sich eine Art Cantus firmus in langen Notenwerten über einer Sechzehntelbegleitung, und mit welch kontemplativer Kraft Sokolov nun diese Klangschichten auffächerte und in den Raum stellte, hatte etwas Magisches. Klavierspiel, nicht mehr ganz von dieser Welt.
Frank Armbruster