Das große Plätschern
Nun ist´s vollbracht: nach drei aufregenden Wochen, in denen man sich dem Thema Wasser in allen denkbaren Erscheinungsformen und an verschiedensten Orten der Stadt musikalisch genähert hatte, ist das Musikfest Stuttgart mit einer Aufführung von Tan Duns Water Passion zu Ende gegangen. Der Intendant der Bachakademie Christian Lorenz wirkte in seiner kurzen Ansprache zu Beginn des gut besuchten, aber keineswegs ausverkauften Konzerts zufrieden mit dem Verlauf. 73% Auslastung seien zwar gut, ließen aber noch Luft nach oben: „Da geht noch was.“ Vielleicht sind die leeren Reihen beim Abschlusskonzert aber auch schlicht einer gewissen Ermüdung geschuldet: nach einer derartigen tour de force durch Wasserspeicher, Schwimmhallen und Neckarschiffe könnte man das durchaus nachvollziehen.
Tan Duns Water Passion war ja bekanntlich der Abschluss der legendären Passionstetralogie des Musikfests im Jahr 2000, die auch überregional große Wellen schlug. Damals bildete Tan Duns Werk zusammen mit der Passion von Osvaldo Golijov den etwas leichtgewichtigeren Gegenpart zu den strengen Werken von Wolfgang Rihm und Sofia Gubaidulina, diesmal war Tan Dun Jahr beim Musikfest gar Artist in residence und konnte einen Querschnitt seiner Werke in verschiedenen Konzerten vorstellen. Die Water Passion verkörpert exemplarisch einige der Grundzüge des Tan Dun´schen Komponierens – an erster Stelle seine Eloquenz in der Kombination verschiedenster musikalischer Stile: asiastische Folklore und gutturaler Obertongesang stehen da neben gregorianisch anmutenden Chorsätzen, meditative Wasserspiele neben plakativen, an Filmmusik erinnernden Klangfolien. Dazu kommen Techniken der abendländischen Avantgarde und ein stark ausgeprägtes Bewusstsein für Theatralik. Ja, Tan Dun (der ja seit langem in Amerika lebt) liebt die Show: das zeigte sich gleich zu Beginn des Abends, als zwei schwarz gewandete Perkussionistinnen mit ihren Instrumenten im Spotlight den abgedunkelten Beethovensaal von hinten durchschritten und mit großen Gesten Töne produzierten, um danach ihre Plätze auf der Bühne einzunehmen. Das erinnerte dann schon sehr an einschlägige Esoterikmusikevents. Auch sonst setzt Tan Dun in seiner in acht Abschnitte geteilten Vertonung der Matthäuspassion stark auf Effekte: Angesichts der in Kreuzform aufgestellten, von unten illuminierten Wasserbecken könnte man sich noch in einer (schlechten) Aufführung des wagnerschen Parsifal dünken; die verschiedenfarbigen Lichtbäder, in die Choristen und Musiker im Verlauf des Abends immer wieder getaucht wurden, erschienen dagegen als ästhetisch unmotivierter, bloßer Augenreiz. Das Element Wasser dient dabei als Bindeglied zwischen Ost und West, Buddhismus und Christentum, Reinigung und Taufritus. Tan Dun lässt es plätschern und rauschen, tröpfeln und fließen. Dazu kommt ein Sammelsurium an Tönen, Klängen und Geräuschen: Gongs und Gebetsglöckchen, Schlagwerk, Bleche, Synthesizer und Samples bilden einen Soundtrack, der die Passionserzählung allzuoft nur illustriert. Das Ganze wirkt wie ein esoterisch verbrämtes Spektakel, ein quasireligiöses Ritual, mit dem Komponisten als Zeremonienmeister.
Die musikalischen Protagonisten, die den Passionsbericht erzählen, waren vorn an der Bühne aufgestellt: wunderbar Claudia Barainsky, die ihrem beweglichen Sopran die erstaunlichsten Facetten abgewann, überzeugend auch Stephen Bryant (Bass). Jiamin Wang (Violine) und Amedo Cicchese (Cello), die die solistischen Linien expressiv in Klang setzten, auch die Gächinger Kantorei kam mit dem hohen Anspruch der Partitur gut zurecht.
(Stuttgarter Zeitung)
Schön traurig
Hille Perl Foto: Uwe Arens
Es dürfte einige Besucher des Konzerts von Hille Perl am Freitag abend in der Stuttgarter Marienkirche geben, die nun erwartungsvoll die Sendung des Konzertmitschnitts in SWR2 am 12. November herbeisehnen: jene nämlich, die das Pech hatten, nicht in den vordersten Reihen zu sitzen. Denn die extreme Akustik der Kirche führt weiter hinten – wo die Direktschallanteile immer mehr abnehmen – dazu, dass die Musik in einem Klangbrei untergeht. Die in der Pause zu vernehmenden Publikumsproteste jedenfalls sollte die Veranstalter beim Wahl zukünftiger Auftrittsorte vorsichtig werden lassen. Wer freilich vorne saß, der konnte, nicht zuletzt aufgrund einer in diesem Bereich geradezu erlesenen Klangakustik, ein rundum beglückendes Konzert erleben.
Hille Perl darf in Deutschland ja als Wegbereiterin der Gambe gelte: eines Instruments, das lange im Schatten seines Nachfolgers, des Cellos stand, und fast nur in Alte-Musik-Kreisen bekannt war. Dabei besitzt der Klang des Instruments mit seinem fahlen, wehmütig-verhangenen Timbre einen besonderen Reiz, der vor allem im Ensemble zur Geltung kommt: in Perls „Sirius Viols“ waren es, neben Theorbe, Truhenorgel und Violine, gleich drei der bundierten Streichinstrumente, eines davon gespielt von Hille Perls Tochter Marthe.
Im Wasserkontext des Musikfests lag bei diesem Konzert der Fokus auf den Tränen, jener Körperflüssigkeit, deren Verströmen gerade Barockkomponisten mit ihrer Kunst der Textausdeutung auf vielfältigste Weise in Töne gesetzt haben. Ja, man kann Johann Christoph Bachs Lamento „Ach, dass ich Wassers gnug hätte“ Franz Tunders „An Wasserflüssen Babylon“ oder Matthias Weckmanns „Wie liegt die Stadt so wüste“ geradezu als Beleg für die These nehmen, dass die schönste, berührende Musik eigentlich immer – zumindest ein wenig – traurig ist.
Nun waren die Sopranistin Nele Gramß und der Bass Harry van der Kamp auch Solisten, die sich ideal in das Instrumentalensemble einfügten. Gramß verzichtete mit ihrem glutvollen Sopran weitgehend auf Vibrato und suchte Ausdruck in der Konzentration des Klangs, in nach innen gerichteten Emphase. Van der Kamp bewies sich als Meister des rhetorisch differenzierten, jeder Nuance des Textes nachspürenden Singen- Johann Christoph Bachs „Wie bist denn, O Gott, in Zorn auf mich entbrannt“ gestaltete er als aufwühlende Zwiesprache mit dem Schöpfer.
Als Höhepunkt des Konzerts wird aber Matthias Weckmanns „Wie liegt die Stadt so wüste“ in Erinnerung bleiben. Ein erschütterndes, auf Jeremias Klageliedern beruhendes geistliches Konzert, in dem viele Mittel gebündelt sind, über die Komponisten jener Zeit verfügten: quälende Chromatik, kühne Rückungen und affektgeladenen Melismen zeichnen ein eindringliches Bild des Unglücks, das den singend Berichtenden widerfahren ist. (Stuttgarter Zeitung)
Der Klang der Lagune
Die Dramaturgie von Konzertprogrammen ist eine heikle Angelegenheit: stehen Stücke doch immer in einem Kontext und reagieren aufeinander – die Hör(und Spiel-)erfahrung des einen beeinflusst das folgende Werk, ob man will oder nicht. Leicht macht es sich da, wer – wie viele – schlicht eine chronologische Abfolge wählt. Dabei kann es ungleich interessanter sein, einen roten Faden innerhalb divergenter Werke zu suchen und die dabei entstehenden Spannungen zu integrieren, wie es nun der Pianist Florian Uhlig bei seinem Recital im Mozartsaal versucht hat. Allein sieben Werke spielte Uhlig allein in der ersten Hälfte quasi en suite, wobei der Verzahnungsgrad durchaus differierte – mal setzte Uhlig kleine Abklingpausen dazwischen, mal schloss das eine Stück attacca ans nächste an. Der Pianist begann sein mit „Tod in Venedig“ überschriebenes Programm mit zwei Stücken des Venedigliebhabers Franz Liszt, bei denen Uhlig noch merklich die richtige Einstimmung für die direkte und trockene Mozartsaalakustik suchte – unausgewogen, hart und wenig sanglich erschien hier noch sein Anschlag. Doch schon mit Tan Duns naturalistisch inspirierter Intervallstudie „Traces“ fand Uhlig allmählich zu seinem Spiel, und in seiner Einrichtung von Mahlers „Adagietto“ aus der fünften Sinfonie (das hier instrumental bedingt eher ein Andante war) hatte alles Form und Substanz, begann der Klavierklang zu leuchten. Uhligs improvisatorische, indisch gefärbte Eigenkomposition „Ravi-Shankar – Venezia“ mündete in die Akkordketten von Liszts „R.W. – Venezia“, und mit Chopins duftig-flirrend gespielter „Barcarolle Fis-Dur“ schloss die erste Hälfte dort, wo sie begonnen hatte: in den Kanälen der Lagunenstadt.
Nach der Pause löste sich Uhlig aus dem Wasser- und Venedigkontext. Einer Mini-Tetralogie von Stücken Liszts, u.a. mit den synästhetisch inspirierten, die Tonalität schon fast sprengenden „Nuages gris“, die Uhligs herausragendes Klang- und Stilbewusstsein bewiesen, folgte dann Jörg Widmanns Sonate „Fleurs du mal“: ein Solitär der neueren Klavierliteratur. Baudelaires Gedichtband war dem Komponisten Inspiration für ein ebenso formal streng angelegtes wie emotionale Grenzen sprengendes Stück, dessen farbliche Valeurs und strukturelle Dichte Uhlig in pianistisch bravouröser Manier offenlegte. Wer will, konnte darin sogar das Wasserthema wiederfinden: Eiskristalle und tosende Strudel, fern lag das nicht. (Stuttgarter Zeitung)
Spiel mit dem Nachhall
Tropfsteinhöhle, Kathedrale, Kulisse für einen Science-fiction-Endzeitfilm: Solcherart Assoziationen schießen einem durch den Kopf, wenn man die Treppe zu der riesigen Säulenhalle des Wasserspeichers Rohr hinabsteigt – wobei es ja ein rein technisches Gebäude ist, in dem sich dieser Eindruck äußerster Unwirklichkeit vermittelt: dient es doch allein dazu, das Bodenseetrinkwasser zwischenzuspeichern und je nach Bedarf an die Stuttgarter Haushalte weiterzuleiten. Allein die Dimensionen der Säulenhalle sind eindrucksvoll, 100 Millionen Liter Wasser kann sie fassen, das allerdings für die beiden Konzerte im Rahmen des Musikfestes vorsorglich abgelassen wurde. So zeugten nur noch minimale Pfützen und feuchte Wände von dem eigentlichen Zweck des Raums, dessen Temperaturen aufgrund der Verdunstungskälte ganzjährig im unteren einstelligen Bereich liegen. Warm anziehen lautete also die Devise für die Besucher, die in zwei Schichten das Konzert der Neuen Vocalsolisten Stuttgart besuchen wollten – aufgrund der großen Nachfrage war ein Zusatztermin angesetzt worden, wobei das große Publikumsinteresse nicht zuletzt damit zusammenhängen dürfte, dass man als Normalsterblicher diesen Ort sonst wohl nicht besuchen könnte. Denn natürlich sind hier die Hygienevorschriften hoch – man stelle sich vor, ein Keim gelänge in das Trinkwasser. So war es mit dicken Jacken und Socken allein nicht getan, vor Betreten des Speichers mussten die Besucher noch weiße Schutzjacken und Überzieher für die Schuhe anlegen, außerdem wurden die Hände sterilisiert. Dazu gab es noch eine kleine Einweisung von seiten Christine Fischers, der Intendantin von Musik der Jahrhunderte, die darauf hinwies, dass das gewohnte Gehen (Sitzplätze gab es nicht) aufgrund der Schuhmanschetten Geräusche verursachen kann – weshalb man sich auf eine Art fortbewegen solle, wie man es man es etwa beim Stapfen durch hohen Schnee zu tun pflegt: Beine hoch und Fuß flach aufgesetzt.
Dass die Mahnung angebracht war, zeigte sich dann rasch. Denn sofort nach Konzertbeginn setzten sich Teile des Publikums in Bewegung, die sensationelle Nachhallakustik des Raums an unterschiedlichen Orten zu erkunden – was ein Geschlurfe hervorbrachte, das eine eigenständige, wenngleich unerwünschte Geräuschschicht zum Gesang der Neuen Vocalsolisten beisteuerte. Viele übten sich allerdings auch im korrekten Stapfgang – und es bedarf nur wenig humoristischer Fantasie, um angesichts der in Schutzkleidung Umherstolzierenden entweder an eine Übung für den atomaren Ernstfall oder an eine Szene aus einer geschlossenen Abteilung denken zu müssen.
Aber natürlich galt´s hier vor allem der Kunst, und es gibt sicherlich nur wenige Werke, denen die Akustik der Säulenhalle besser entgegenkommt als Salvatore Sciarrinos 12 Madrigali, die die Neuen Vocalsolisten Stuttgart 2008 bei den Salzburger Festspielen uraufgeführt und auch auf CD aufgenommen haben. Der Komponist hat sich dafür einen Raum mit großem Hallanteil gewünscht, und einen mit einem längeren Nachhall als den Rohrer Wasserspeicher dürfte schwer zu finden sein. Für die Interpreten heißt das aber auch, dass sie auf diesen Hall reagieren, mit ihm spielen müssen: und das taten die Neuen Vocalsolisten mit der gestenreichen wie reduzierten Musik Sciarrinos auf faszinierende Weise. Die auf Haikus des japanischen Dichters Matsuo Bash komponierten Madrigale bestechen durch ihre verletzliche Schönheit, in der jedes Detail kostbar erscheint: mit feinsten Linien, die an japanische Tuschezeichnungen erinnern, Glissandischwüngen und mikrotonalen Schwebungen, die die im Kreis aufgestellten Sänger quasi im Dialog mit den zurückgeworfenen Raumresonanzen realisierten. Auch wenn man sich gewünscht hätte, die Musik ohne Ablenkung im Sitzen genießen und sich dabei ganz den Klängen und Hallphänomenen widmen zu können– als außergewöhnliche sinnliche Erfahrung wird dieses Konzert in Erinnerung bleiben. (Stuttgarter Zeitung)
Die neuen Flat-TVs können ein noch so gutes Bild haben. An ihrem Image in bestimmten Schichten ändert das nichts.
Vielleicht ist ja jener Marshall McLuhan, der diese Tage hundert Jahre alt geworden wäre, auch ein bisschen daran schuld. Sein berühmtes Motto „Das Medium ist die Botschaft“ trägt nämlich schon den Keim für das grottenschlechte Image in sich, das der Fernsehapparat im allgemeinen unter kultur- und bildungsbeflissenen Menschen besitzt. „So, habt ihr jetzt auch einen Hartz-4-Altar!“ frotzelte unlängst ein promovierter Bekannter, als er den neuerworbenen HDTV-40-Zöller in unserem Wohnzimmer bemerkte. Nun mag es ja durchaus stimmen, dass Bildschirmdiagonale und Bildungsgrad bei einigen Bevölkerungsschichten in einem umgekehrten Verhältnis stehen. Ein befreundetes Lehrerehepaar pflegte seinen betagten Mini-Schwarzweißfernseher im Bücherschrank zu verstecken und nur bei Wahlsendungen verschämt in Betrieb zu nehmen. Dabei schauten sie beide gerne Filme – aber nur im Kino. Nun könnte man durchaus verstehen, wenn Cineasten für das grobkörnige Geflimmer der alten Röhrenkisten nicht viel Begeisterung aufgebracht haben – doch ich fürchte, darum geht es nicht. Denn obwohl heutige hochauflösende TV-Geräte Kinoqualität nicht mehr viel nachstehen, hat sich am Image des Fernsehers selbst nicht viel geändert. Ich dagegen finde, man sollte einfach zwischen Hard- und Software unterscheiden: Niemand würde eine Hifi-Anlage dafür verantwortlich machen, dass es massenweise Schund gibt, der sich darauf abspielen lässt, doch dem armen Fernseher wirft man genau das vor. Wie ungerecht! Dabei schauen wir doch nur Arte und 3Sat!
(Stuttgarter Zeitung, Wochenendbeilage)