Beiträge im Archiv Juni 2021

Über die Geschichte der Tonaufzeichnung

21.
Jun.
2021

22 Mark. Soviel kostete Mitte der 70er Jahre eine Langspielplatte, und das war für einen Heranwachsenden, der im Monat um die 30 Mark Taschengeld bekam, ein ziemlicher Batzen. Der Kauf einer LP war für einen durchschnittlichen Jugendlichen zu dieser Zeit also ein Ereignis, dem in der Regel ein langer Auswahlprozess vorausgegangen war, und so verfolgte man das langsame Wachsen der eigenen Plattensammlung mit umso größerem Stolz. Und da Schallplatten empfindlich waren – schon kleine Kratzer konnten dauerhafte Knackser beim Abspielen verursachen – ging man entsprechend vorsichtig damit um. Eine LP zu verleihen kam einem Vertrauensbeweis gleich. Musik auf Cassetten aufzunehmen war keine wirkliche Alternative. Denn abgesehen davon, dass die Spulerei nervte und die Klangqualität mäßig war, waren Compactcassetten eben keine Originale, sie hatten kein Cover und besaßen keinerlei Sammelwert. Dagegen kam der Abspielvorgang einer LP einem Ritual gleich, das entsprechend zelebriert wurde: erst das vorsichtige Entnehmen der Platte mittels Spreizgriff am Rand und auf dem Label, um auf der Oberfläche keine Abdrücke zu hinterlassen, dann das Auflegen und Zentrieren der Scheibe auf dem Plattenteller, bevor sich der Tonabnehmer in die Rille senkte – das hatte etwas von einer Opfergabe auf dem Altar.

Dass dann tatsächlich Musik den Raum erfüllte, konnte man immer wieder als kleines Wunder empfinden. Und irgendwie war es das ja auch, denn noch bis vor etwa hundert Jahren konnte man Musik nur hören, wenn sie von jemandem gespielt wurde. Wer im 18. oder 19. Jahrhundert nicht in einer großen Stadt wohnte oder Zugang zur Hofkultur hatte und auch nicht selber musizierte, war auf Gastspiele reisender Musikanten angewiesen. Oper war ein exklusives Vergnügen, aber auch eine Sinfonie oder ein Kammermusikstück zu hören war den wenigsten Menschen vergönnt. Für die meisten spielte sich, vom sonntäglichen Gottesdienst abgesehen, das Leben weitgehend ohne Musik ab. Dafür dürfte deren Wirkung umso größer gewesen sein. Johann Wolfgang von Goethe beschreibt in einem Brief an Carl Friedrich Zelter im August 1823, was ein Konzert der Sängerin Anna Milder-Hauptmann in ihm auslöste: „Nun aber doch das eigentlich Wunderbare! Die ungeheure Gewalt der Musik auf mich in diesen Tagen! […] Zu einiger Erklärung sag ich mir: du hast seit zwei Jahren und länger gar keine Musik gehört.“

Jahrelang keine Musik. Wir Dauerbeschallten können uns das nicht mehr vorstellen, ebenso wenig, wie wir die Sensation nachvollziehen können, die die Erfindung der Tonaufzeichnung für die Menschen bedeutete. Es war am 18. Juli 1877, als der Amerikaner Thomas Alva Edison „Hello!“ in eine mit einer Nadelspitze versehene Membran rief und diese gleichzeitig über einen mit Paraffin überzogenen Papierstreifen zog. Als er die Nadel danach erneut über den Papierstreifen bewegte, konnte er leise das zuvor Gesprochene vernehmen. Bis zur Entwicklung von Apparaten, mittels derer man Musik hören konnte, dauerte es zwar noch einige Jahre, aber in den 1920er Jahren waren die sogenannten Grammophone so weit ausgereift, dass man damit auf ihnen sogar Opern und Orchestermusik abspielen konnte. Thomas Mann, der ein großer Fan des Grammophons war – um die 300 Schellackplatten soll er besessen haben – hat dem Apparat in seinem Roman “Der Zauberberg” gar ein eigenes Kapitel mit dem Titel “Fülle des Wohllauts” gewidmet. Darin ist der Protagonist Hans Castorp fasziniert von dem neu angeschafften Gerät, unter anderem hört er Arien aus “Aida” und “Carmen”. Allerdings, dies war das große Manko der Schellackplatte, durften die Stücke nicht länger als drei bis vier Minuten sein. Längere Werke mussten auf mehrere Platten verteilt und zu einem sogenannten “Album” zusammengestellt werden – ein Begriff, der dann auch auf die in den 1950er Jahren eingeführte Vinylplatte übertragen wurde, die mit gut 20 Minuten Spielzeit pro Seite ein ganzes Schellackplattenalbum ersetzen konnte.

Die Erfindung der Langspielplatte, die sich mit 33 statt wie bisher mit 78 Umdrehungen pro Minute bewegte, kam einer Revolution gleich. Endlich war es möglich, ganze Sinfoniesätze am Stück zu hören, Jazzmusiker konnten ihre Soli auch auf Tonträgern in der gewünschten Länge entwickeln. Im Bereich der Pop- und Rockmusik beeinflusste die Spielzeit einer Langspielplattenseite den Prozess der Komposition, vor allem Artrockbands wie Genesis oder Yes orientierten sich in ihren Stücken an dem 20-Minuten-Limit. Bei Alben, die aus kürzeren Tracks zusammensetzt waren, galt es, die Dramaturgie im Blick zu haben: Das Weiße Album der Beatles oder auch Pink Floyds “The Dark Side of the Moon” sind Gesamtkunstwerke unter den Bedingungen des LP-Formats. Wurde bei der Produktion von Schellackplatten die Musik noch direkt und ohne Korrekturmöglichkeit direkt in die Matrize geschnitten, so bildeten bei Stereolangspielplatten in der Regel Tonbänder das Ausgangsmaterial. Die Schnitttechnik ermöglichte es dabei, Teile eines Musikstücks bei der Aufnahme so oft zu wiederholen, bis diese fehlerlos vorlagen und am Ende das komplette Werk aus vielen kleinen Schnipseln zusammenzusetzen. Ein Patchwork – das man aber, sofern der Tonmeister sein Handwerk versteht, beim Hören nicht als solches wahrnimmt. Diese Methode hatte aber einen Nebeneffekt: Konnte man bei Aufnahmen der Schellackära noch hie und da Unsauberkeiten der Musiker hören, so etablierte sich vor allem bei Einspielungen klassischer Musik eine Perfektionsästhetik, die mit dazu führte, dass man von den Musikern auch im Konzert erwartete, dass sie ohne Fehler spielten.

Eine Symphonie konnte man auch mit einer Langspielplatte kaum ohne Unterbrechung hören. Meistens musste man spätestens nach dem zweiten Satz aufstehen und die Platte wenden, und so waren die Erfindung der digitalen Musikaufzeichnung und die Einführung der CD vor allem für Hörer klassischer Musik ein Segen – zumal es nun auch keine Störgeräusche mehr wie Knacksen oder Rauschen gab, die bis dahin etwa das Hören leiser Klaviermusik mitunter stark beeinträchtigen konnten. Mit der digitalen Speicherung von Musik schritt aber auch die Entmaterialisierung des Tonträgers fort, die heute im Streaming ihre Vollendung gefunden hat. Noch die mechanischen Grammophone mit den aufgesetzten Schalltrichtern hatten für sich reklamiert, eine Art Ersatzmusikinstrument zu sein: “Cremona” war der Markenname eines renommierten Herstellers, nach der italienischen Stadt, aus der Geigenbauer wie Stradivari und Guarneri stammten. Auch die sich drehende Vinylschallplatte besaß trotz elektrischer Verstärkung eine physische Präsenz. Dagegen verschwindet die CD in der Lade des Players, wird ungreifbar wie die Daten von USB-Sticks oder Festplatten.

Wenn aber nicht alles täuscht, ist auch die CD ein aussterbendes Medium. 2018 übertrafen die Umsätze mit Musikstreaming zum ersten Mal die des CD-Verkaufs. Dieser Trend dürfte sich fortsetzen. Die meisten Jugendlichen besitzen gar keinen CD-Spieler mehr, warum auch? Mit einem Smartphone kann man, ein Datennetz vorausgesetzt, zu jeder Zeit und an jedem Ort auf die Musikauswahl zugreifen, die von Streamingdiensten wie Spotify oder Qobuz angeboten wird. Damit hat sich das Musikhören weitgehend von allem materiellen Ballast emanzipiert, und vielleicht wird es ja bald möglich sein, sich einen Chip direkt ins Hörzentrum implantieren zu lassen. Immerhin hat der Klassikstreamingdienst Idagio unlängst eine App für die Apple Watch vorgestellt, mit der man Zugriff auf ein Angebot hat, das weitaus größer ist als das jedes Plattenladens. Daraus kann man sich selbst Stücke aussuchen, kuratierte Playlisten vorschlagen lassen oder gleich die “Moods”-Funktion nutzen, die Musik passend zur jeweiligen Stimmung spielt. “Erregt” oder lieber “Entspannt”? “Spritzig” oder “Melancholisch”? So wird klassische Musik zum Wohlfühlsoundtrack, zum jederzeit abrufbaren Wellnessangebot. Gleichwohl sind die Möglichkeiten, die das Streaming für ambitionierte Musikhörer bietet, enorm. Angenommen, man möchte verschiedene Einspielungen von Beethovens Streichquartett op. 132 vergleichen, so bekommt man bei Idagio binnen Sekunden 43 Aufnahmen vorgeschlagen, die man sofort abspielen kann. Dagegen ist ein analoger Konzertbesuch mit allerlei Unwägbarkeiten verbunden. Abgesehen von der Anfahrt und dem Erwerb einer Karte weiß man weder, ob die Musiker einen guten Tag haben, noch, ob der Sitznachbar unter chronischem Husten leidet. Man kann während des Konzerts auch nicht die Pausentaste drücken, um auf die Toilette zu gehen oder sich ein Glas Wein zu holen. Doch auch wenn in der Liveatmosphäre, dem Bewusstsein, etwas Unwiederholbarem beizuwohnen, für viele noch eine Qualität liegt, die keine Musikkonserve ersetzen kann, sind Auswirkungen der unbegrenzten Verfügbarkeit von Musik auf die musikalische Kultur schon erkennbar. Der Besucherschwund bei vielen klassischen Konzertreihen dürfte sich dadurch weiter verstärken. Dafür gewinnt das Event, ähnlich wie in der Popmusik, auch bei Konzerten klassischer Musik an Bedeutung, wovon dann vor allem jene Musiker profitieren, die sich griffig vermarkten lassen.

Selbst wenn es irgendwann gar keine physischen Tonträger mehr geben sollte, dürften das CD-Format wie auch der Begriff Album virtuell bestehen bleiben – einfach deshalb, weil auch Streamingdienste Formen brauchen, mit denen sich musikalische Werke listen lassen. Und auch wenn dem Streaming die Zukunft gehört, das langlebigste Medium überhaupt wird wohl die Langspielplatte sein. Genauer gesagt: zwei Langspielplatten. An Bord der 1977 gestarteten Raumsonden Voyager 1 und Voyager 2, die derzeit am Rande unseres Sonnensystems in den interstellaren Raum eintreten, befinden sind auch zwei vergoldete Kupferschallplatten mit diversen Geräuschen und Musikstücken – unter anderem von Chuck Berry, Louis Armstrong, Mozart und Beethoven. Über 500 Millionen Jahre sollen diese überdauern. Sollten sie bis dahin von Außerirdischen gefunden werden, kann man nur hoffen, dass sich diese noch im Analogzeitalter befinden: ein Plattenspieler ist nicht mit an Bord. (StZ, Brücke zur Welt)

Blick in die Zukunft

09.
Jun.
2021

Blick in die Zukunft

Die Neuen Vocalsolisten Stuttgart erhalten einen Silbernen Löwen der Biennale di Venezia 2021

Dass sie einen Silbernen Löwen der Biennale Venedig verliehen bekommen, damit hätten sie überhaupt nicht gerechnet, sagt Andreas Fischer. Der Bass ist Gründungsmitglied der Neuen Vocalsolisten, einem in Stuttgart ansässigen Spezialensemble für neue Vokalmusik, wie es in dieser Form wahrscheinlich kein zweites auf der Welt gibt. Klar, sagt Fischer, stolz seien sie schon gewesen, als sie davon erfahren haben, über „inoffizielle Kanäle“, einige Wochen vor der offiziellen Bekanntgabe. Allerdings sei dann so langsam die Frage ins Bewusstseineingesickert, wofür man diesen Preis überhaupt erhalten würde. Für das Lebenswerk? Nun, da sei man, obwohl man ja kein ganz junges Ensemble sei, erst mal ein bisschen irritiert gewesen. „Das klingt so nach Rückschau. Und für uns ist das ja gar keine Perspektive. Wir blicken in die Zukunft, das Ensemble erneuert sich ständig.“
Und es führt ständig neue Werke auf. Um die 30 Uraufführungen singen sie jedes Jahr. Im Coronajahr waren es weniger, in anderen können es aber auch mal doppelt so viele sein, mit manchmal mehr, manchmal weniger vokaltechnischen Widerständen, die es zu überwinden gilt. Was denn das Adjektiv „neu“ im Namen des Ensembles dabei heute noch bedeutet? Gibt es das überhaupt noch, neue Klänge? Das wisse er nicht, sagt Fischer. Klänge, die noch nicht da waren, kenne er ja auch nicht. Zwar hätten sie über die Jahre in ihrer Arbeit eine Art Kanon der Klangmöglichkeiten entwickelt, die von Komponisten, speziell was die Verwendung von Geräuschen und quasi-instrumentalen Techniken anbelangt, auch eingesetzt werden. Andererseits seien die Ausdrucksmöglichkeiten der menschlichen Stimme immens. „Ich habe nicht den Eindruck, dass wir da bereits am Ende sind.“
Gegründet wurden die Neuen Vocalsolisten 1984 von dem Dirigenten Manfred Schreier. Man führte Werke zeitgenössischer Komponisten wie Helmut Lachenmann oder Brian Ferneyhough auf, 12- bis 16-stimmig, je nach Erfordernis. Im Jahr 2000 dann aber wagte man den radikalen Bruch. Das Ensemble wurde auf sieben solistische Stimmen vom Bass bis zum Sopran einschließlich eines Countertenors reduziert und arbeitet seitdem ohne Dirigenten. „Demokratisch“, wie Andreas Fischer sagt.
Am Vorabend der Preisverleihung am 20. September 2021 im Palast Ca‘ Giustinian in Venedig werden die Neuen Vocalsolisten zwei Werke uraufführen, eines des US-amerikanischen Komponisten George Lewis und eines des Russen Sergej Newski. Ob sie die schon geprobt hätten? Fischer lacht: es gebe sie noch gar nicht! Zwar hätten sie von Newskis Werk schon mal ein paar Partiturseiten erhalten, um einen Eindruck zu bekommen. Aber es sei häufig so in der neuen Musik, dass man die Stücke quasi mit heißer Nadel vorbereiten müsse, weil die Partituren erst kurz vor der Aufführung eintreffen. Arbeiten unter Zeitdruck, das seien sie gewohnt – was nicht heiße, das man es liebe. Anders als Instrumentaliten müsse man sich als Sänger in die Stimme eines neuen Werks erst mal „reinsingen“, die Pitches finden. Und das sei ein mühsamer Prozess.
Und wo lernt man das, die Möglichkeiten vokaler Tonerzeugung zwischen Gesang und Performance, manchmal auch unter Zuhilfenahme von Rasseln, Tröten oder Maultrommeln derart auszureizen, wie das die Neuen Vocalsolisten machen? Zu seiner Zeit, sagt Fischer, hätte man solcherart Vokaltechniken noch nicht in der Ausbildung vermittelt bekommen. Heute gebe es an den meisten Musikhochschulen Abteilungen für neue Musik, auch die Mitglieder der Vocalsolisten halten regelmäßig Workshops für junge Sänger ab.
Damit sie dieses Niveau halten, ist freilich Disziplin angesagt. Täglich außer montags, wenn die meisten Mitglieder unterrichten, ist Probe angesagt, von 10 bis 18 Uhr. Wenn man über eine so lange Zeit zusammen ist, kann es schon auch mal krachen. Konflikte gebe es, sagt Fischer, Meinungsverschiedenheiten, klar. Aber man kenne sich eben sehr gut und könne so die empfindlichen Stellen der anderen gut umschiffen. Anders gehe es nicht: „Sonst kämen wir nie auf einen grünen Zweig.“

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