Richard Strauss´ „Die Frau ohne Schatten“ an der Staatsoper Stuttgart
Wann ist eine Frau eine Frau? Wenn sie Kinder gebären kann? Selbst wenn diese Ansicht innerhalb der aktuellen Geschlechterdiskussion als hoffnungslos anachronistisch gelten dürfte, erscheint sie in Richard Strauss´ Oper „Die Frau ohne Schatten“, die nun an der Staatsoper Stuttgart neu inszeniert worden ist, sogar metaphorisch überhöht. Hier steht für die weibliche Fruchtbarkeit das Symbol des Schattens: die titelgebende Kaiserin, als Tochter des Geisterfürsten Keikobad eine Art Mischwesen, muss diesen Schatten innerhalb von drei Tagen erlangen. Ansonsten wird ihr Gatte, der Kaiser, versteinern.
Strauss und sein Librettist Hugo von Hofmannsthal haben für diese romantische, während des Ersten Weltkriegs entstandene Oper verschiedenste Sphären kombiniert. Man findet, garniert mit diversen Orientalismen, Elemente aus Drama, Märchen und Volkstheater. Dazu bezieht sich Strauss auf Mozarts „Zauberflöte“, was sich auch in der Trennung der Protagonisten in ein hohes und ein niederes Paar zeigt: neben Kaiserin und Kaiser sind das die Färberin und deren Mann Barak.
Der Regisseur David Hermann nun zeigt in seiner Inszenierung die Lebenswelten beider Paare gleichsam als Vorder- und Rückseite unserer modernen Zivilisation. Jo Schramm hat ihm dafür in Stuttgart eine Bühnenkonstruktion gebaut, wie man sie in solch visionärer Wucht lange nicht gesehen hat. Oben, quasi in der Beletage, residiert das Kaiserpaar in einem Ambiente, das an Architektenhäuser oder Museumsfoyers erinnert. Kein Krümel trübt das Bild der edel gestylten, grauen Steinelemente, dezent schimmert die indirekte Beleuchtung. Doch wer bezahlt dafür den Preis? Das erfährt man, wenn in einem fulminanten Szenenwechsel diese Ebene während des ersten Akts nach oben fährt und den Blick auf die Unterwelt freigibt, wo in einer Art Betonbunker das Prekariat ums Überleben kämpft. Die Außenwelt, so scheint es, ist bereits weitgehend zerstört und kontaminiert, sodass die Menschen nur in Schutzkleidung und mit Gasmasken nach draußen können. In dieser Tristesse leben auch der Färber und seine Frau, die von der Amme, einer Bediensteten der Kaiserin, das verlockende Angebot bekommt, gegen Abtretung der Fruchtbarkeit ihr Elend gegen Luxus und Liebesglück zu tauschen.
Doch das Ganze erfährt eine weitere, noch beeindruckendere Volte im dritten Akt. Dann öffnet sich, wie ein zusammengestecktes Schokoladenei, plötzlich der Bunker in zwei Teile und gibt den Blick nach draußen frei in ein totales Schwarz – das man nicht zuletzt deshalb mit Weltraum assoziert, weil hernach ein vielfarbig schillerndes Gestirn herunterfährt – wie eine Mischung aus göttlicher Emanation, magischem Auge und Geist, das der Szene eine verstörende Eindringlichkeit verleiht.
Nicht alles lässt sich eindeutig interpretieren und erklären in dieser insgesamt spektakulären Inszenierung, was man durchaus als Qualität begreifen kann. Dazu zählt auch der in der Mitte des Bunkers sich windende Riesenwurm. Der verschwindet, taucht dann aber am Ende der Oper – wie, das soll hier zugunsten jener, die die Oper besuchen möchten, nicht verraten werden – auf sehr überraschende Weise wieder auf.
Die Wirkung dieser Produktion ist aber auch deshalb so nachhaltig, als die musikalische Umsetzung schlichtweg grandios zu nennen ist. Das beginnt bei den fabelhaften Sängern: dass das Stück so selten gespielt wird, liegt nicht zuletzt daran, dass man für die Hauptrollen mindestens fünf Wagner- und Strauss-gestählte Spitzenkräfte mit belastbaren Stimmbändern benötigt. Und die hat man in Stuttgart. Zwar ist nur die überragende Simone Schneider als Kaiserin aus dem hauseigenen Ensemble, aber mit Benjamin Bruns (Kaiser), Evelyn Herlitzius (Amme), Martin Gantner (Barak) und Iréne Theorin (Färberin) wurde eine Riege an Sängern verpflichtet, die auch höchsten Ansprüchen gerecht wird.
Der Stuttgarter Cornelius Meister schließlich evoziert mit dem Staatsorchester einen Klangrausch, wie man in in solcher Vielfalt kaum je gehört hat. Es ist ein Riesenorchester, das Strauss hier verlangt, angereichert mit exotischem Instrumentarium wie Glasharmonika und chinesischen Gongs, dazu kommt der verdeckt agierende Opern- und Kinderchor, und Meister koordiniert diese Massen auf imponierend souveräne Manier. Mitreißend die fast cineastische Wucht der Klangeruptionen, berührend aber auch das subtile Ausleuchten von Details, die fein gesponnenen kammermusikalischen Passagen samt der berührend intensiven Streichersoli. Am Ende tosender Jubel, nur vereinzelte Buhs für die Regie. (Südkurier)
Es kommt ja eher selten vor, dass Ex-Punker sich im bürgerlichen Kulturbetrieb etablieren können. Schorsch Kamerun, einst Frontmann der Punkband „Die goldenen Zitronen“, ist das trefflich gelungen. Landauf, landab wird er von Theatern als Regisseur verpflichtet, dazu kommen Programme wie die Musiktheaterperformance „All together now!“, die im Juli diesen Jahres am Münchner Residenztheater über die Bühne ging. An der Stuttgarter Staatsoper hat Kamerun zwei Projekte gestaltet, zuletzt im Juli 2021 einen „Nocturne“ betitelten Abend, der gleichzeitig den Abschluss der Spielzeit markierte. Die Eröffnung der neuen Spielzeit hat die Oper nun Kamerun mit einer Produktion anvertraut, die sich – der einem Beatlessong entlehnte Titel „Come together“ weist darauf hin – thematisch an die aus München anlehnt.
Versteht man dieses Motto als Imperativ, so sind ihm am Sonntagabend viele gefolgt. Dass dennoch einige Plätze, ziemlich viele sogar, leer geblieben sind, könnte an der Postcorona-Lethargie liegen. Vielleicht aber auch daran, dass sich Kameruns Modell mittlerweile etwas erschöpft hat. Denn sein dramaturgisches Rezept erscheint einigermaßen simpel: Zunächst überlege man sich einen Titel, der das Ganze dramaturgisch kittet. „Come together“ kann dabei als der kleinste gemeinsame Nenner des Kulturbetriebs gelten, gibt es ohne das Zusammenkommen von Menschen doch keine Veranstaltung. Da auch die örtlichen Kräfte, in diesem Fall die der Staatsoper, einzubinden sind, nehme man einige thematisch passende Opernarien, garniere sie mit Orchestralem und konfrontiere das alles möglichst hart mit Musik aus anderen Genres. Vorzugsweise Rap. Dazu kommt Selbstgesungenes mit der eigenen Band, was den Vorteil hat, dass man auch gleich die neue CD promoten kann. Jetzt fehlt, eine visuelle Ebene ist heute Standard, nur noch ein Videokonzept, in diesem Fall eine Übertragung aus einem verglasten Bühnenkubus, in dem eine Schauspielerin (Annemaaike Bakker) Blüten seziert und Kameruns Texte rezitiert. Fertig ist der Abend.
Musikalisch beginnt der großartig. Schwer atmet und seufzt das Akkordeon (Anne-Maria Hölscher) auf der ins Halbdunkel getauchten Bühne, ehe die Altistin Stine Marie Fischer mit den ersten Worten von Johann Christoph Bachs berühmtem „Lamento“ einsetzt: „Ach, dass ich Wasser gnug hätte in meinem Haupte, und meine Augen Tränenquellen wären…“ Dann tritt das Orchester hinzu und es entsteht, was große Kunst vermag: Verzauberung, Aura, emotionale Berührung.
Im Verlauf des Abends gibt es noch mehrere solch intensiver Momente. Rückenschauererregend die Arie der Sapho aus Charles Gounods gleichnamiger Oper „O ma lyre immortelle“, die Diana Hallers sengender Mezzo regelrecht ins Herz brennt, genauso eindringlich wie Gustav Mahlers Orchesterlied „Ich bin der Welt abhanden gekommen“. „Musik aus Österreich, wunderbar“ kommentierte das der in einem kaftanartigen Gewand und mit Badelatschen an den Füßen von seinem Tischchen am vorderen Bühnenrand aus moderierende Schorsch Kamerun – selbst wenn das Österreichische nun vielleicht doch das am wenigsten Bemerkenswerte an Mahlers Musik ist.
Für Kamerun freilich, das vermittelt er mit Produktionen wie dieser, ist ohnehin alles irgendwie gleich. Ob das nun die schlichten Verse der Rapperin Ebow sind, Charles Ives´ Orchesterstück „The Unanswered Question“ oder sein eigener fistelnder Sprechgesang – alles ist halt Musik. Es gibt keine Hierarchie, und so darf alles mit allem kombiniert werden.
Für einige Zeitgenossen mag diese Freiheit im Umgang mit Genres verlockend klingen, zumal wenn sie, wie im Fall des domestizierten Punkers Kamerun, obendrein mit gesellschaftlich angesagten Attributen wie Diversität und Nachhaltigkeit einhergeht – auch wenn musikalisch sensible Naturen einwenden könnten, dass es vielleicht doch nicht ganz egal ist, ob ein Vokalsolo Sofia Gubaidulinas nach einem Rap gesungen wird oder nicht.
Aber vielleicht geht es ja an diesem Abend auch mehr darum, einfach mal etwas Spaß haben zu dürfen im Opernhaus. Aus voller Kehle mitzusingen beim „Konzert für Publikum und Orchester“ von Nicola Campogrande, sich zu amüsieren über das Duo aus Schwirrholz und Gänsegeierflöte und mal wieder kollektiv optimistisch in die von Krisen bedrohte Zukunft zu blicken. „Crisis, what Crisis?“ fragt Schorsch Kamerun am Ende ins merklich euphorisierte Publikum. Und lobt sich selber: „Wow, das uns das gelungen ist!“Na dann. (STZN)
Nie war Richard Wagners „Der Ring des Nibelungen“ so aktuell wie heute. Die Ursünde des Menschen in dem vierteiligen Bühnenfestspiel ist der Raub des Rheingolds durch Alberich, ein Vergehen an der Natur, das einen Kampf um Macht und Geld initiiert, dessen Ausgang bekannt ist: am Ende steht der Untergang der bestehenden Ordnung. Glaubt man Klimaforschern, so befinden wir uns heute ebenfalls in einer Art Götterdämmerung. Die der Erde entrissenen und in den Produktionskreislauf eingebrachten Wertstoffe haben zu einer Erhitzung des Planeten geführt, die, falls sie nicht gestoppt wird, das Ende der Zivilisation in einigen Teilen der Welt zumindest denkbar erscheinen lässt.
Auch in dem von Stephan Kimmig inszenierten „Rheingold“, dem ersten Teil einer Gesamtaufführung der Ring-Tetralogie an der Staatsoper Stuttgart, hat die herrschende Klasse sichtlich abgewirtschaftet. Kimmig verzichtet auf den ganzen germanischen Nibelungenkitsch und holt die Götter in die Niederungen der kapitalistischen Ausbeutungsgesellschaft herab. Das Bühnenbild zeigt ein heruntergekommenes Jahrmarktsambiente, Reste einer Manege, ausgestattet mit allerlei Versatzstücken der Zirkuswelt. Darin necken die drei Rheintöchter den Zwerg Alberich. Die drei in Schuluniformen gekleideten Gören, offenbar aus wohlhabenden Verhältnissen stammend, haben ihn wie ein wildes Tier angekettet und halten ihm die vermutlich aus Papas Safe stammenden Goldbarren vor die Nase.
Gott Wotan ist ein derangierter Zirkusdirektor im Paillettenfrack, der, wie seine netzbestrumpfte und dauerqualmende Frau Fricka, schon bessere Zeiten gesehen hat. Dass der Laden noch nicht ganz abgewirtschaftet ist, beweisen die Artistinnen, die an langen Tüchern in gefährlichen Höhen Kunststücke proben, während die Riesen Fasolt und Fafner in gelben Gabelstaplern hereinbrausen und von Wotan den Lohn für den Bau der Burg Walhall einfordern. Die Götter Donner und Froh, beide Angebertypen Marke „neureicher Blender“, flitzen derweil mit ihren Gocarts herum. Sie gehören offenbar zu den Gewinnern des Systems, genauso wie der durch die Macht des Ringes vor Selbstbewusstsein nur so strotzende Alberich, der in den Nibelheimer Produktionsanlagen seine Arbeiter drangsaliert: es sind Kinder, die, wie bei Smartphoneherstellern in Asien, in sterilen Ganzkörperanzügen Platinen löten.
Geld und Macht, das jedenfalls wird klar, sind für den allgemeinen Niedergang verantwortlich. Hoffnung gibt es allenfalls durch die Frauen, speziell den drei Rheintöchtern: die outen sich später als Ökoaktivistinnen und rufen mit einem Transparent, auf dem „Lasst alle Feigheit fahren“ steht, zur Aktivität auf. Unklar bleibt dagegen, warum sich alle am Ende gelbe Regenjacken überziehen? Wegen der Klimakatastrophe?
Es ist ein gänzlich unmythisches „Rheingold“, das da in Stuttgart zu sehen ist. Vieles in der Inszenierung wirkt reichlich plakativ, manches auch schlicht platt, daran ändert auch die im Hintergrund installierte Videowand nicht viel, auf der in einer Art surrealistischen Verfremdung mittels Traum- und Fantasiesequenzen unbewusste Anteile der Protagonisten beleuchtet werden sollen.
Ganz stark ist auf jeden Fall die Ensembleleistung. Nicht nur ist jede Figur prägnant charakterisiert, auch sängerisch gibt es keinerlei Schwachpunkte. Aus dem formidablen Ensemble ragt der ungemein präsente Alberich von Leigh Melrose heraus, der sogar auf einer drehenden Messerwurfscheibe nichts von an stimmlicher Kraft verliert. Großartig auch Matthias Klink als ränkeschmiedender, verschlagener Loge.
Das Grundproblem dieser Inszenierung freilich ist der Widerspruch zwischen Szene und Musik. Der Stuttgarter GMD Cornelius Meister nämlich liefert zwar am Pult des Staatsorchesters einen weiteren Beweis seiner Kompetenz als Wagnerdirigent, indem er einerseits die Partitur detailgenau ausleuchtet, andererseits die Dramatik Pathos der wagnerschen Musik mit geradezu überbordender Klangpracht zum Ausdruck bringt. Beginnend mit dem aus dunklem Urgrund hervorzüngelden Es-Dur-Beginn hält er so den Spannungsbogen bis zum blechgesättigten Ende. Sein emotional aufgeladenes Musizieren findet aber kaum Entsprechungen auf der Bühne, wo die Regie ja weitestgehend aufgeräumt hat mit all den großen Gefühlen, dem mythischen Pathos der Wagner-Tradition, was immer wieder zu merkwürdigen Divergenzen führt.
Auch das Publikum reagiert am Ende gespalten. Den Ovationen für Ensemble und Orchester folgt eine Buhorgie für die Regie, wie man sie in Stuttgart lange nicht erlebt hat.
Vom Ende der Zivilisation
Endzeitvisionen haben derzeit Konjunktur. Die Tatsache, dass ein mutierter Virus unsere Welt derart erschüttern kann, offenbart drastisch die Fragilität unserer Zivilisation, die nicht allein durch den Klimawandel und die latente Gefahr eines Atomkriegs bedroht scheint. Dabei ist das Thema keineswegs neu: In seinem Film „12 Monkeys“ hatte Terry Gilliam 1995 das Szenario einer durch einen tödlichen Virus fast ausgerotteten Menschheit durchgespielt, und schon 1976 hatte die Schriftstellerin Elfriede Jelinek in ihrer Erzählung „Die Bienenkönige“ eine finstere Dystopie vom Ende der Welt durch eine Atomkatastrophe entworfen. Nun hat die Staatsoper Stuttgart Jelineks Text mit Gustav Mahlers „Das Lied von der Erde“ zu einem Abend zusammengespannt, der einen als Zuschauer zumindest bewegt, wenn nicht gar erschüttert zurücklässt.
Im April dieses Jahres, also schon unter Coronabedingungen, erläuterte der Intendant Viktor Schoner zu Beginn, sei das Programm konzipiert worden. Und anders als bei der ersten Premiere der Spielzeit, Leoncavallos „Cavalleria rusticana“, sind hier keinerlei durch das Einhalten von Abstandsregeln bedingte Defizite zu bemerken. Dabei erscheint die Kombination beider Werke durchaus riskant. Denn während Jelineks Text eine pessimistische, in der Beschreibung seiner charakterlichen Defizite gnadenlose Abrechnung mit der Spezies Mensch ist, lässt sich Gustav Mahlers Liederzyklus als subjektive, von Trauer grundierte Abschiednahme eines empfindsamen Menschen von einer Welt hören, deren Schönheit noch einmal wehmütig beschworen wird.
Auf der Opernbühne in Stuttgart sieht man zunächst einmal eine Art Industrieruine, einen runden Schlund mit hohen Wänden und einer drehbaren Achse in der Mitte. Das eigentlich für die wegen Corona abgesagte Produktion von Richard Strauss´ „Die Frau ohne Schatten“ gedachte Bühnenbild könnte der Kühlturm eines havarierten Atomkraftwerks sein – was insofern nahe läge, als in Jelineks Text ein nuklearer GAU die Menschheit bis auf einige wenige überlebende Wissenschaftler, die „Bienenkönige“, ausgerottet hat. Diese setzen die wenigen verbliebenen Frauen nach Gutdünken ein: Sofern fruchtbar als Gebärmaschinen, ansonsten zum persönlichen Lustgewinn. Am Ende werden sie aber selber massakriert, nachdem sich die Frauen mit den versklavten Männern verbündet haben. „So wie ich es sehe“, heißt es im Text, „hatten sich Wesen, die auf Grund ihres Geschlechtes benachteiligt waren, mit Wesen, die auf Grund ihrer Arbeitsbedingungen benachteiligt waren, zu einem handlungsfähigen Gesamtkörper zusammengeschlossen. Das entspricht einer reifen sozialen Leistung.“ Feministisch grundierte Gesellschaftskritik, die von der großartigen Schauspielerin Katja Bürkle als extraterrestrischer, das Desaster kühl analysierende Wissenschaftlerin mit einer zynischen Distanziertheit vorgetragen wird, die schaudern lässt.
Dramaturgisch brillant umgesetzt ist in Stuttgart der heikle Anschluss an Mahlers Liederzyklus. Schon vorher hatte Cornelius Meister mit dem klein besetzten Staatsorchester – man spielt Schönbergs Kammerfassung – immer wieder Fragmente aus dem „Lied von der Erde“ anklingen lassen. Nachdem sich aus dem verwaist scheinenden Turm dann überraschenderweise vier in Plastiklumpen gekleidete Überlebende nach oben geschleppt haben, setzt unvermittelt das „Trinklied vom Jammer der Erde“ ein. „Wenn der Kummer naht/Liegen wüst die Gaerten der Seele/Welkt hin und stirbt die Freude, der Gesang“ heißt es darin, und diese Zeilen entfalten in dem Endzeitszenario der Bühne eine enorme Wirkung, zumal die Partitur von den vier abwechselnd agierenden Sängern (Simone Schneider, Evelyn Herlitzius, Thomas Blondelle, Martin Gantner) und dem Staatsorchester so brillant wie emphatisch in Klang gesetzt wird. Welchen Effekt die Bühne auf die Wirkung der Musik hat, wird in nostalgisch zurückblickenden Sätzen wie „Von der Schönheit“ noch deutlicher: von der milden Hoffnung, die sich konzertant heraushören lässt, bleibt im Endzeit-Framing der Bühne nur noch eine bizarre Phantasmagorie.
Wenn Mahlers „Lied von der Erde“ eine Auseinandersetzung mit der Vergänglichkeit ist – Mahler stand bei der Komposition unter dem Einfluss gleich mehrerer Schicksalsschläge -, so bezieht diese von Ingo Gerlach konzipierte und von David Hermann als Regisseur umgesetzte Produktion den Einfluss mit ein, den der Mensch auf den Fortbestand der Zivilisation hat, ohne dabei in irgendeiner Weise belehrend zu wirken. Im letzten Satz „Der Abschied“ gelingt ein Schlussbild von verstörender Rätselhaftigkeit. Hier tritt die Wissenschaftlerin des ersten Teils in einem Raumanzug noch einmal herein, während von der Bühnendecke ein riesiges, schillernd pulsierendes Facettenauge erst herabsinkt und zu den Schlussworten „Ewig, ewig….“ wieder hebt. Auch wenn der Mensch verschwindet – die Erde wird überdauern.
Mord aus verletzter Ehre
„Wenn Du geschwiegen hättest, wäre ich jetzt nicht entehrt“. Diese Worte spricht der Graf Malaspina in Salvatore Sciarrinos Oper „Luci mie traditrici“ zu seinem Diener, nachdem der ihm vom Techtelmechtel seiner Gattin mit einem fremden Gast berichtet hat. Großes Unglück, so prophezeit der Graf, werde aus dieser Information entstehen. Und so kommt es auch: am Ende ersticht der Graf seine Frau wie er zuvor deren Liebhaber erdolcht hat.
Sciarrinos Plot beruht auf einer wahren Geschichte. Carlo Gesualdo, der Fürst von Venosa, heute vor allem bekannt als Komponist hoch expressiver Madrigale, ermordete im Jahr 1590 seine Frau und deren Liebhaber – weil er fürchtete, seine Ehre zu verlieren. Ein Thema, das bis heute aktuell ist. Laut einer Untersuchung der Vereinten Nationen passieren weltweit jährlich etwa 5.000 sogenannte Ehrenmorde, davon allein 300 in der Türkei. Die Dunkelziffer dürfte, da viele Taten vertuscht werden, deutlich höher liegen. Als das Land mit der höchsten Ehrenmordrate gilt Pakistan, aber auch in Deutschland werden jährlich zwischen 30 und 50 Menschen, fast ausschließlich Frauen, umgebracht, weil sie gegen einen moralischen Codex verstoßen oder sich schlicht anders verhalten haben, als es ihr Mann oder ihre Familien von ihnen erwartet haben.
Brauchte der Fürst von Venosa schon allein aufgrund seiner privilegierten Stellung keine Konsequenzen zu fürchten, so waren und sind Ehrenmorde in manchen Kulturen durchaus legitimiert. Dazu gehörte auch die bäuerliche Gesellschaft im 19. Jahrhunderts in Sizilien, wo Pietro Mascagnis Einakter „Cavalleria rusticana“ spielt. Den hat die Staatsoper Stuttgart nun als erste Neuproduktion der Saison mit Sciarrinos Kammeroper zu einem Doppelabend zusammengespannt, der das Thema Ehebruch, Eifersucht und Mord epochenübergreifend in den Mittelpunkt stellt.
Wenn es bei Sciarrino die Ehefrau ist, die wegen eines erotischen Fehltritts ihr Leben verliert, so ist es in Mascagnis Oper der Fuhrmann Alfio, der Turrido, den Liebhaber seiner Frau Lola ersticht: zwar hat Turridu schon dem Bauernmädchen Santuzza die Ehe versprochen, doch nach seiner Rückkehr aus dem Militärdienst kann er den Avancen Lolas, mit der er vor Alfio verbandelt war, nicht widerstehen.
Doch auch wenn die Werke Sciarrinos und Mascagnis um dasselbe Thema kreisen, so liegen künstlerisch Welten dazwischen. Die „Cavalleria rusticana“ ist die vielleicht effektvollste Verismo-Oper überhaupt, eine emphatische Feier der Melodie, in der die Emotionen Funken schlagen und das Blut in Wallung gerät. Allerdings benötigt man dazu neben verismotauglichen Sängern auch eine entsprechend klangmächtige Orchesterbesetzung. Doch die lässt sich derzeit aus Corona-Gründen nicht realisieren, weswegen man in Stuttgart eine von Sebastian Schwab extra angefertigte Version für Kammerorchester spielt. So wurden die im Graben mit Abstand platzierten Streicher auf ein Quintett eingedampft, dazu kommt eine hinter der Bühne versteckte Banda und der im dritten Zuschauerrang verteilte Chor. GMD Cornelius Meister hatte so alle Hände voll zu tun, die verschiedenen Gruppen zusammenzuhalten, was ihm auch meistens gelang. Von einer adäquaten klanglichen Realisierung war das Ganze aber dennoch weit entfernt, was umsomehr schade war, als man mit Eva-Maria Westbroek für die Rolle der Santuzza eine Sopranistin von Format zur Verfügung hat, die sowohl vokale Durchlagskraft als auch dramatische Schärfung mitbringt.
Die Regisseurin Barbara Frey hat beide Opern in derselben, von Martin Zehetgruber gebauten Bühne inszeniert, einem stylish-schäbigen Hinterhofszenario mit graffitiverschmierten Wänden und einer riesigen, seitwärts gekippten und drehbaren Treppe, auf deren Hinterseite sich Farne ranken. Doch wenn bei Mascagni die Abstandsregeln für Sänger – 6 Meter müssen es in Ausstoßrichtung sein – zu mitunter merkwürdigen Konstellationen führen, so erscheint diese räumliche Distanz in Sciarrinos Kammeroper „Luci mie traditrici“ wie ein äußerliches Sinnbild für die emotionale Entfremdung zwischen Graf (Christian Miedl) und Gräfin (Rachael Wilson) , die sich im finalen Mord vollendet. Künstlerisch erscheint diese Inszenierung also durchaus gelungen. Dass einige Zuschauer im coronabedingt luftig besetzten Opernhaus dennoch vorzeitig das Weite suchten, dürfte eher an Sciarrinos musikalischem Vokabular liegen. Je nach Gusto kann man sein Abtasten der Ränder zwischen Ton und Geräusch, das manchmal an der Hörbarkeitsgrenze sich bewegende Flirren, Schaben und Fauchen hochspannend oder eben auch enervierend langweilig finden. An der Kompatibilität dieser beiden Werke – Coronabeschränkungen hin oder her – darf man jedenfalls Zweifel anmelden.
Iron Mozart
Gegen 19 Uhr lugt schon wieder die Sonne durch die Wolken über dem Cannstatter Wasen. Der Regen hat sich verzogen, zum Glück. Denn nicht nur können prasselnde Tropfen auf dem Autodach das Hörvergnügen empfindlich beeinträchtigen, auch die Liegestühle vor der Bühne, aufgestellt, um auch nichtmotorisierten Opernfreunden den Besuch zu ermöglichen, hätten im Niederschlagsfall deutlich an Attraktivität verloren. Mozarts „Die Zauberflöte“ist die zweite Produktion der Staatsoper Stuttgart auf dem Kulturwasen. Mit Strawinskys „Geschichte vom Soldaten“ hatte man, nach drei Monaten coronabedingter Zwangspause, Anfang Juni den ersten Versuch gestartet, im Autokinomodus Oper zu machen. Im Vergleich dazu ist diesmal der Wasen deutlich besser mit Autos gefüllt, was wohl vor allem daran liegen dürfte, dass „Die Zauberflöte“ statistisch immer noch als die beliebteste Oper überhaupt gilt.
Um diese sowohl autokino- als auch coronatauglich zu machen, waren einige Eingriffe nötig. Pausen sind auf dem Kulturwasen nicht erlaubt, und so hatte man die im Original drei Stunden dauernde Oper auf knapp die Hälfte zusammengestrichen. Das musizierende Personal wurde auf das Notwendigste reduziert: sieben Sänger, dazu ein Pianist (bravourös: Thomas Guggeis), der den Orchesterpart übernimmt und gleichzeitig die Bühne koordiniert. Auch das Bühnenbild wurde unterm Diktat der Abstandsregeln entwickelt. Gerade beim Singen werden, wie man weiß, verstärkt Aerosole freigesetzt, und so spielt die Oper in einer Art zweistöckigem Wohnheim mit nach vorne geöffneten, gegeneinander durch semitransparente Folien getrennten Zimmern. Kommunizieren können die Sänger also nur indirekt, Ortswechsel sind gar nicht möglich. Das ist ein bisschen so, als spielten die Sänger die Oper quasi-konzertant nach, was die Imaginationsfähigkeit der Zuschauer auf eine gehörige Probe stellt. Dass die Handlung im ersten Akt vom Reich der Königin der Nacht in Sarastros Palast wechselt, bekommt nur mit, wer den Opernplot kennt. Im zweiten Akt mit den Prüfungen Taminos, Paminas Selbstmordabsichten und vor allem dem schon im Original schwer verständlichen Finale mit dem unvermittelten Happy End wird es erst recht verwirrend.
Das weiß auch die Regisseurin Rebecca Bienek, die versucht hat, den in ihren Buden festsitzenden Protagonisten dafür ein möglichst scharfes Profil zu verleihen und daraus dramaturgische Funken zu schlagen. Es sind allesamt Chargen, schräge Vögel: Monostatos (Heinz Göhrig) ist hier mal kein Mohr, sondern ein Biedermann im Vertreteranzug (Kostüme: Astrid Eisenberger), Sarastro (Michael Nagl) ein blondierter Lackaffe mit Goldkettchen. Der leicht abgerissene Papageno (Johannes Kammler) passt pefekt zu seiner Papagena (Aoife Gibney). Pamina (Josefin Feiler) wurde als angepunkte Göre mit löchriger Strumpfhose ausgestattet, die die meiste Zeit auf ihrem Bett lümmelt, während sie sich mit ihrer Mutter, der hysterisch-mondänen Königin der Nacht (Beate Ritter), via Smartphone unterhält. Dass Tamino ein Prinz ist, vermittelt sich durch die Kronenmotive seiner Tapete, sein musikalischer Geschmack ist eher von der härteren Sorte: „Iron Mozart“ steht auf seinem T-Shirt. Kleine, selbstreferentielle Scherze dieser Art gibt es einige in dieser Produktion, die man angesichts der widrigen Umstände als insgesamt doch sehr gelungen bezeichnen kann. Die Kürzungen sind, wenn man von einigen Holprigkeiten im zweiten Akt absieht, geschickt gemacht, die Kameraregie – man verfolgt ja das Geschehen auf einem riesigen LED-Bildschirm neben der Bühne – ist hochprofessionell.
Doch vor allem ist da ja noch: Mozarts geniale Musik. Die bekannten Arien, von „Dies Bildnis ist bezaubernd schön“ bis zur Rachearie der Königin der Nacht, man hört sie alle an diesem Abend. Und sie werden, das vermittelt sich selbst über das Autoradio, auch überwiegend großartig gesungen, wobei dann doch Kai Kluge als Tamino zu erwähnen wäre: ein Mozarttenor der feinsten Sorte, dessen Timbre etwas an den großen Fritz Wunderlich erinnert.
Und so verfliegen die knapp 90 Minuten flugs und unterhaltsam an diesem vom Publikum am Ende minutenlang gefeierten Abend. Das Verlangen nach richtiger Oper aber wurde dann doch eher geweckt, als dass es hätte gestillt werden können.
Wenn die Kultur coronabedingt Pause macht, dann bleiben auch dem Opernfan nur CDs oder DVDs. Wann die Häuser wieder öffnen weiß keiner. Doch die Staatsoper Stuttgart bietet, wie viele andere Opernhäuser auch, zur Überbrückung Mitschnitte aktueller Produktionen zum Streamen an. Mozarts „Le nozze di Figaro“ machte den Anfang, seit Freitag letzter Woche nun kann man bis zum 27. März Prokofjews „Die Liebe zu drei Orangen“ streamen. Aber wie ist das, Oper online? Wie fühlt es sich an, eine Aufführung vor dem Rechner oder dem Fernseher zu erleben? Wir machen den Selbstversuch.
Dass zum analogen Opernbesuch nicht nur die Aufführung selbst, sondern auch die damit verbundenen Vorbereitungen gehören, ist das erste, was einem als digitaler Konsument bewusst wird. Viele Entscheidungen sind plötzlich obsolet geworden: Was ziehe ich an? Wann gehen wir los? Wer hat das Opernglas eingepackt? Zuhause kann man sich kleiden, wie man will. Wir stellen uns sogar ein Glas Wein neben den Rechner auf den Tisch. Bis dahin unterscheidet sich der Onlinekonsum von Hochkultur nicht groß von einem Fernsehabend. Ob das so bleibt?
Auf der Webseite der Staatsoper ist der Link zum Streamen nicht zu übersehen. „Oper trotz Corona“ steht da in großen roten Lettern, darunter ist der Startbildschirm zum Aktivieren des Youtubelinks. Die Verbindung steht schnell. Das Orchester stimmt ein, die Kamera richtet sich erst mal auf die große, reich verzierte Deckenrosette im Littmannbau. Interessant, denkt man, so genau hat man sich die eigentlich noch nie angeschaut. Perspektivenwechsel. Die Kamera schwenkt nach unten, man schaut aus der Bühnenperspektive auf die voll besetzen Ränge. Offensichtlich ist das Haus ausverkauft. Blende auf die Bühne, ein Blick wie aus der ersten Loge. Als der Dirigent kommt, blickt man von oben in den Orchestergraben. Das Bild ist etwas grisselig, aber mit dem Einstellungsbutton ändern wir die Auflösung von 720p auf 1080p – deutlich schärfer! Die Bildschirmpixel sind nun zwar verschwunden, aber nachdem sich der Bühnenvorhang gehoben hat, sind auf dem knallbunten Bühnenbild plötzlich wieder welche da. Nanu. Was ist denn da los?
Ganz einfach: der Regisseur Axel Ranisch hat sich als Setting für die skurrile Handlung um einen traurigen Prinzen, der sich nach einem Lachanfall auf die Suche nach drei Orangen macht, die sich dann als drei Prinzessinen herausstellen, ein Computerspiel im Look der achtziger Jahre ausgedacht. „Orange Desert III“ heißt das Abenteuergame, das ein Junge da spielt. Doch das gerät im Verlauf der Handlung außer Kontrolle. Reale und virtuelle Welten vermischen sich, alle Ebenen geraten durcheinander, am Ende muss der Papa am Joystick die Sache wieder unter Kontrolle bringen. Es ist eine wunderbare Inszenierung, die den artifiziellen Charakter der Oper fantasievoll auf die Spitze treibt, seit ihrer Premiere im Dezember 2018 ist sie ein Highlight im Stuttgarter Repertoire.
Die Bildmächtigkeit des Originals freilich kann der Computerbildschirm nicht ersetzen, es bleibt, vor allem in der Totalen, Oper im Bonsaiformat. Dafür sind in den Nahaufnahmen Details zu erkennen, die sogar im Parkett kaum zu sehen sind, etwa, dass in der Krone des Königs eine Flüssigkeit schwappt. Die Textverständlichkeit allerdings ist besser als im Opernhaus. Die Tonmischung hat die Sänger gegenüber dem Orchester herausgehoben, dazu kommt die lesefreundliche Einblendung der Texte am unteren Bildrand.
Was den Klang anbelangt, so muss man bei einer üblichen PC-Ausstattung mit 2 Aktivlautsprechern massive Abstriche machen. Vor allem in den Tutti – und es wird richtig laut in dieser Oper – dröhnt und klirrt es. Zwar gewöhnt man sich im Lauf der Zeit etwas daran, doch nach dem ersten Akt wechseln wir die Hardware und rufen die Seite der Staatsoper auf dem Smart-TV auf. 55 Zoll, messerscharfes OLED-Bild. Dazu schließen wir einen hochwertigen Kopfhörer an. Und selbst wenn die 1080p Auflösung hier wieder vergleichsweise grobkörnig wirkt, wird man doch sofort in das Geschehen auf Bühne hineingezogen. Keine Nebengeräusche stören mehr, ja, das digitale Surrogat gewinnt derart an Suggestionskraft, dass man sogar das Weinglas vergisst.
Eine richtige Opernaufführung, so das Resumee, kann so ein Digitalangebot nicht ersetzen. Abhängig von der technischen Ausstattung aber kann man ihr immerhin etwas nahekommen. Und einen, gerade für Schwaben wichtigen Vorteil hat die Konserve ja auf jeden Fall: sie koschded nix.
Nabel, Nase, Anus
Dass Tradition, wie es so schön heißt, nicht die Bewahrung der Asche, sondern die Weitergabe des Feuers sein sollte, hätte Hans Zender sicher unterschrieben. Der im letzten Jahr verstorbene Komponist, der auch als Dirigent tätig war, wusste um die Abnutzungserscheinungen, die ein Werk im Laufe seiner Rezeptionsgeschichte erfährt. Abgeschliffen durch den Konzertbetrieb wird, was einst revolutionär war, früher oder später im Kanon der sogenannten Meisterwerke eingefriedet. Gerade dem Kunstlied hat diese Domestizierung ganz besonders zugesetzt. „Zwei Herren im Frack, Steinway, ein meist sehr großer Saal“, beschrieb Hans Zender die Ausgangssituation für seine 1993 uraufgeführte „komponierte Interpretation“ von Schuberts „Winterreise“. Die hatte an der Staatsoper Stuttgart nun in einer durch Videoprojektionen des niederländischen Künstlers Aernout Mik erweiterten Aufführung Premiere.
Ein Opernhaus kann insofern für das Werk der passende Ort sein, als Zender in der Partitur festgelegt hat, dass sich einige der 25 Musiker im Raum bewegen müssen. Dadurch erhält jede Aufführung eine szenische Komponente, verstärkt noch durch den Einsatz von allerhand Perkussionsinstrumentarium samt einer veritablen Windmaschine, wie sie schon in der Barockoper verwendet wurde. Die Aufsplittung des Klaviersatzes in einen Orchestersatz bildet die Grundlage für die vielfältigen Methoden, mit denen Zender versucht hat, die ursprüngliche Brisanz des Liederzyklus nach Texten von Wilhelm Müller wieder herzustellen. Gleich im Vorspiel zum ersten Lied „Gute Nacht“ wird das Grundthema des Wanderns etabliert: zum gleichmäßigen Klopfen („wie Schritte“) der Trommel treten trockene, durch Schlagen mit dem Bogen gespielte Streicherklänge, die klirrende Winterkälte evozieren. Dann wirft die Klarinette ein Motiv in den Raum, das vom Orchester aufgenommen wird, und allmählich formt sich die Melodie des Liedthemas heraus, „Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus…“, jene berühmten Zeilen, die als Motto der „Winterreise“ gelten können. Und als dann der Tenor Matthias Klink, der sich während des Orchestervorspiels langsam von hinten genähert hat, mit diesen Worten zu singen anhebt, wird jedem sofort klar, dass hier kein üblicher Liederabend zu erwarten ist, sondern eine existenzielle Auseinandersetzung mit jener Verzweiflung ansteht, die ein Mensch angesichts einer als abweisend erfahrenen Welt empfinden kann. Die im letzten Jahr verstorbene Pianistin Dina Ugorskaja schrieb über Schubert: „Die Zeit scheint in dieser Musik manchmal ganz stehen zu bleiben. Der Schmerz, das Unerträgliche, die Abgründe und die Ausweglosigkeit überwältigen uns.“ Genau um diese Ausweglosigkeit kreisen die Lieder der „Winterreise“, denen sich Matthias Klink mit totaler körperlicher Hingabe widmet. Meilenweit entfernt von allem bloßen Schöngesang taucht er er ein in die Psyche des Wanderburschen, lässt mit seiner Stimme die Brüche und Verletzungen spüren, die der Hoffnungslose auf seinem Weg durch die Winterlandschaft erleidet und wird dabei getragen von dem von Stefan Schreiber umsichtig geleiteten Instrumentalensemble.
Das setzt Zenders Intentionen genau in Klang, wobei dessen kompositorische Überschreibung die historische Perspektive von der Romantik gleichermaßen in beide Richtungen ausweitet. Mit dem Einsatz von Akkordeon und Gitarre lässt Zender das Wirtshaus und den Tanzboden als ästhetischen Resonanzraum anklingen, doch daneben tritt kompositorisch Avanciertes. Am eindrücklichsten im letzten Lied, dem „Leiermann“, wo die Musik dem Todeswunsch des Wanderers, seiner physischen Auflösung, mit dem Verlust der metrischen und tonalen Ordnung entspricht – polytonale, clusterartige Klangbänder ziehen dem Protagonisten den Boden unter den Füßen weg. Dabei ist Zenders Werk in seiner stilistischen Vielschichtigkeit autonom: Musik und Text stehen in einer engen Beziehung, und allein die vielfältigen Verflechtungen mitzubekommen, erfordert die volle Aufmerksamkeit des Hörers. Die Etablierung einer zusätzlichen visuellen Ebene ist deshalb ein fragwürdiges Unterfangen. Wenn sie gewagt wird, erfordert sie eine tragfähige ästhetische Idee.
Der niederländische Künstler Aernout Mik, den die Staatsoper mit dern Inszenierung beauftragt hat, beschäftigt sich in seiner Arbeit vor allem mit den Auswirkungen, die das Internet und die sozialen Netzwerke auf das Selbstverständnis des modernen Menschen haben. So zeigt er neben Videosequenzen, die sich am Text festhalten – Schnee, wenn es um den Winter geht, ein Flüchtlingsheim, wenn es im Lied „Die Wetterfahne“ heißt „…sie pfiff den armen Flüchtling aus“ – vor allem Phänomene der Massenkultur: Gelbwestenproteste, Verkehrsstaus, Shopping Malls, alles getreu seiner (schwer belegbaren) Ansicht, es gehe in Zenders Werk um den „Einzelnen in der Masse“. In Müllers Texten jedenfalls geht es vor allem um Einsamkeit und Obdachlosigkeit, ein Thema, das leider für viele auch in unserer Zeit bittere Realität ist. Vielleicht hätte man ja das aufgreifen können, anstatt, wie Mik es gegen Ende der Aufführung tut, den Körper in den Fokus zu nehmen. Dessen Individualität, so Miks These, begänne sich durch das permanente Changieren zwischen realer und virtueller Welt im digitalen Raum aufzulösen, und wohl deshalb nimmt er Matthias Klink am Ende durch Kameras in den Fokus und lässt dessen Haut bis in die kleinste Falte auf die Leinwand projizieren. Das kulminiert im Lied „Die Nebensonnen“, wo man neben Klinks Nasenloch je einen – immerhin anonymen – Nabel und Anus quasi als Ersatzgestirn prangen sieht, um dann in letzteren endoskopisch einzutauchen. Fraglich nur, ob solch tiefe Einblicke auch tiefe Einsichten mit sich bringen. Viele im Publikum scheinen nicht dieser Meinung gewesen zu sein: neben den Ovationen für Matthias Klink musste das Regieteam einen Buhsturm über sich ergehen lassen, wie man ihn in Stuttgart lange nicht erlebt hat.
„Das Vergangene ist nicht tot: es ist nicht einmal vergangen. Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd.“ Dieses Zitat aus Christa Wolfs Buch „Kindheitsmuster“ stellt der Dramaturg Miron Hakenbeck an den Anfang seines Programmheftbeitrags zum Opernprojekt „BORIS“, das nun an der Stuttgarter Staatsoper Premiere hatte – und trifft damit genau den Kern dieser Inszenierung, die in ihrer hybriden Vielschichtigkeit und ihrem Einsatz an theatralen Mitteln weit über das hinausgeht, was auch an großen Opernbühnen üblich ist.
Der Abend verbindet zwei Werke: die Urfassung von Modest Mussorgskis Oper „Boris Godunow“ und ein Auftragswerk der Staatsoper, das Sergej Newski nach Texten aus dem Buch „Secondhand-Zeit. Leben auf den Trümmern des Sozialismus“ von Swetlana Alexijewitsch komponiert hat. In diesen Texten lässt die Nobelpreisträgerin jene Traumatisierten zu Wort kommen, deren Schicksal durch Krieg, Verfolgung und Zusammenbruch gesellschaftlicher Systeme geprägt wurde: Gulag-Opfer, Soldatinnen der Roten Armee, Überlebende der Massenerschießungen im 2. Weltkrieg. „Wir müssen“, so Swetlana Alexijewitsch, „darüber reden, was mit uns passiert ist“. Dabei erscheint der Zeitpunkt dieser Aufführung insofern klug gewählt, als im Zusammenhang mit dem Gedenktag zur Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz am 27. Januar sich wieder Stimmen mit dem Tenor zu Wort gemeldet haben, dass es doch nun allmählich genug sei mit dem Erinnern und Gedenken. Man solle sich, zumal man persönlich ja keine Schuld trage, doch auf die Gegenwart konzentrieren und die Vergangenheit hinter sich lassen. Dass aber genau das nicht geht, sondern im Gegenteil das Vergangene unsere Gegenwart dominiert, zeigt dieser Opernabend auf ästhetisch bezwingende Weise.
Dazu hat Sergej Newski in einer Art Montagetechnik in Mussorgskis Oper über den Zaren Boris Godunow, der am Ende von seiner Vergangenheit eingeholt wird – er ließ einst den rechtmäßigen Thronfolger ermorden, um selbst an die Macht zu kommen – Intermezzi eingearbeitet. In denen kommen die Protagonisten aus Alexijewitschs Texten, unter anderen ein Partisane, ein Obdachloser und die Mutter eines Selbstmörders, zu Wort. Erleichtert wird diese Vorgehensweise dadurch, dass auch Mussorgskis Oper nicht linear, sondern schlaglichtartig in szenischen Tableaus erzählt wird, allerdings geraten damit schon die Zeitebenen – Boris Godunow spielt im 16. Jahrhundert – ziemlich durcheinander. Freilich ist diese Vermischung das Grundprinzip dieser Inszenierung, bei der Regisseur Paul-Georg Dittrich mit den historischen Zeiten auch deren Bilder, Personen und Motive über- und ineinanderblendet. So zeigt gleich das erste Bild – zuvor wurden auch dem geschlossenen Vorhang Szenen ölverschmierter Seevögel projiziert – eine dystopische Zukunftsvision. Vor einem Bunker, auf dem sich meterdick die Schlacke einer vermutlich im Untergang befindlichen Zivilisation abgelagert hat, wartet das in ebenfalls (öl?)verschmierte Ganzkörperanzüge gekleidete Volk auf die Inthronisierung des neuen Herrschers und Heilsbringers. Der Bunker entpuppt sich dann im weiteren Verlauf als drehbares Multifunktionselement, das auf jeder Seite ein anderes Bühnenbild offenbart. Doch damit nicht genug – auf der Bunkerdecke wurde noch eine umlaufende Videoleinwand gesetzt, die der ohnehin schon sehr diversen Szenerie noch eine weitere Bildebene zufügt.
So wird die Oper zu einer Art Totaltheater, bei dem die russische Geschichte mit all ihren Emblemen von Ikonen über Babuschkas, Sowjetpropaganda und Volkstrachten zeitstrudelartig mit Bilder des heutigen Moskau, Werbeplakaten und Wolkenkratzern verwirbelt wird. Bei der Sitzung der Bojaren tragen einige der Teilnehmer Pappmasken mit den Konterfeis russischer Herrscher von Lenin bis Putin, und während der Intermezzi werden auch noch die Seitenlogen bespielt.
Fast ausgeschlossen, das alles beim ersten Hören und Sehen mitbekommen und einordnen zu können, zumal auch Newskis in seiner ambitionierten Vertonung von Alexijewitschs Texten mit Vorliebe mehrere Sänger parallel agieren lässt. Die Überforderung wird hier zum Prinzip, und so kann man auch die lautstarken Buhs innerhalb des vehementen Schlussapplauses nachvollziehen. Auf der anderen Seite: einen ähnlich bildstarken und inhaltlich vielschichtig verzahnten Opernabend lange nicht gesehen. Und gerade vor dem Hintergrund manch spartanisch reduzierter Inszenierungen erscheint es durchaus legitim, auch mal die Mittel des Theaters bis an die Grenzen auszureizen, zumal musikalisch keine Wünsche offen bleiben. „Boris Godunow“ ist eine Choroper, und der Stuttgarter Staatsopernchor spielt und singt in den Massenszenen fulminant, dazu sind auch die zahlreichen Solopartien exzellent besetzt. Erwähnenswert Matthias Klink als Schuiski und Goran Juric als Pimen, nachgerade einen Triumph feiert der junge polnische Bass Adam Palka in der Titelrolle. Titus Engel führt das Staatsorchester souverän durch die Partitur. Wer mutig ist, sollte sich das ansehen. Die vorherige Lektüre des Programmhefts oder der Besuch einer Einführung ist allerdings angeraten.
Da kann man nur lesbisch werden
„Le nozze di Figaro“ war zur Zeit seiner Entstehung ein höchst brisanter Stoff. Denn die Vorlage zum Libretto von Mozarts Opera buffa, Beaumarchais´ Komödie „La folle journeé ou Le mariage de Figaro“ hatte die Zensur von Kaiser Joseph II. in Wien erst kurz zuvor verbieten lassen. Erst nach der Beteuerung von Mozarts Librettisten Lorenzo da Ponte, alles wegzulassen, „was gegen den Anstand und die guten Sitten verstößt“, gab der Kaiser seine Einwilligung. Dennoch blieb einiges übrig an provokantem Inhalt, vor allem was die Charakterisierung des Grafen Almaviva anbelangt, einem Schwerenöter, der zwar das Privileg des „Rechts der ersten Nacht“ abgeschafft hat, im speziellen Fall der Zofe Susanna, die sein Freund Figaro heiraten will, aber gern nochmal darauf zurückgreifen würde. So spielt das Stück in einer Übergangszeit: vom Zeitalter des Feudalismus mit den Privilegien des Adels zur Epoche des Bürgertums, wo die Liebe zur einzig wahren Legitimation der Ehe avancierte.
Aber was bedeutet überhaupt Liebe? Welche Rolle spielt dabei das Begehren, und was wird, wenn man dem Begehren Raum gibt, am Ende mit den Beziehungen der Menschen?
Mozart selbst hat diese Frage in der Oper, wo am Ende die Paare zu einem mehr behaupteten als beglaubigten „lieto fine“, einem glücklichen Ende, zusammenfinden, offengelassen. Wie auch später in „Cosi fan tutte“ kann, was an amourösen Verwicklungen passiert ist, nicht einfach durch die Etablierung geordneter Verhältnisse ungeschehen gemacht werden.
Die Regisseurin Christiane Pohle, die Mozarts „Figaro“ nun am Opernhaus Stuttgart neu inszeniert hat, zweifelt nicht nur das Glücksversprechen der bürgerlichen Ehe an, sondern stellt die Identitäten der Protagonisten selbst in Zweifel. In welche Richtung das geht, deutet sich schon bei der Lektüre des im Programmbuch abgedruckten Interviews an. Nicht nur ist der Text konsequent mit Gendersternchen durchsetzt, die auch Artikel (der*m Partner*in) einschließen, dazu kommen auch Begriffe wie „heteronormative Paarbeziehung“. Was männlich und was weiblich ist, so lautet die These der „Queer“-Bewegung, bestimmt nicht die Biologie, sondern die Gesellschaft – und tatsächlich bietet im „Figaro“ die Figur des Pagen Cherubino dafür einen schlüssigen Anknüpfungspunkt: eine Frau, die einen Mann spielt, der sich in eine Frau verkleidet und von beiden Geschlechtern begehrt wird. Die mit solcherart Hosenrollen einhergehende Pikanterie dürfte schon zu Mozarts Zeiten in erlauchten Kreisen Entzücken ausgelöst haben.
In Stuttgart freilich ist von solch erotischen Ambivalenzen wenig zu spüren. Das liegt weniger daran, dass Cherubino mit der körperlich wenig androgynen, dafür umso stimmgewaltigeren Diana Haller besetzt wurde, sondern daran, dass das von weiblicher Seite aus durchaus glaubhaft vermittelte erotische Begehren auf männlicher Seite keinen Widerpart findet. Egal, ob Almaviva, Figaro oder Basilio: die Männer sind hier allesamt Pantoffelhelden, zahnlose Tiger. Graf Almaviva erscheint bei seinem ersten Auftritt im blassblauen Pyjama und rückt der Tür, hinter der er Cherubino vermutet, mit dem Akkuschrauber zuleibe. Figaro trägt die peinlichsten bunten Oberhemden, die man sich vorstellen kann. Erotik? Fehlanzeige. Und so ist es kein Wunder, dass die Gräfin sich zum Jubelfinale von ihrem Gatten abwendet und stattdessen die blonde Schönheit umarmt, die vom rechten Bühnenrand hereinschwebt. Angesichts solcher Männer kann man ja nur lesbisch werden.
Damit zieht die Regie aber auch gleich dem ganzen Stück den dramaturgischen Zahn, zumal die szenische Grundidee, die Handlung in einer demokratischen IKEA-Schlafzimmerwelt mit aufgebauten Bett/Nachttisch/Fernseher-Ensembles spielen zu lassen, die im Stück ursprünglich angelegte, sich aus der erotischen Durchmischung innerhalb einer Ständegesellschaft ergebende Spannung auflöst. Egal, ob Graf oder Gärtner, hier hausen alle gleich in einer uniformen Wohnwelt. Woher bezieht der Graf aber dann überhaupt seine Autorität?
So zieht sich das Stück über vier Stunden szenisch dahin. Kissenschlachten und Versteckspiele bringen etwas Auflockerung, doch lohnend wird dieser Abend allein durch die Musik. Denn nicht nur die Sänger sind durchweg fabelhaft – allen voran Johannes Kammler als Almaviva, Michael Nagl als Figaro und Esther Dierkes als Susanna. Auch Roland Kluttig dirigiert mit dem Staatsorchester einen packenden Mozart, rhythmisch pointiert und klanglich dezent geschärft. Den Ovationen für das Ensemble folgten Buhs für die Regie, wie man sie in dieser Vehemenz in Stuttgart auch nicht alle Tage erlebt. Jedenfalls vermittelte dieser Abend einen kleinen Vorgeschmack darauf, was Operninszenierungen unter feministischen Vorzeichen bedeuten können. Man mag sich gar nicht vorstellen, wenn es erst den richtigen Machos des Opernrepertoires an den Kragen geht. Zieht euch warm an, Tenöre!