Beiträge im Archiv Mai 2019

Das Staatsorchester Stuttgart unter Daniele Rustioni mit Elisabeth Brauß

26.
Mai.
2019

Man nehme: einen charismatischen Dirigenten, eine hochbegabte junge Pianistin, ein tipptopp präpariertes Orchester sowie eine schlüssige Programmdramaturgie – und herauskommt ein Sinfoniekonzert, das man in seiner Wirkung als beglückend bezeichnen darf. So geschehen beim 6. Sinfoniekonzert des Staatsorchesters am Sonntagmorgen im Beethovensaal mit dem Dirigenten Daniele Rustioni und der Pianistin Elisabeth Brauß. Der 36-jährige Rustioni hat seine Qualitäten schon bei Gastdirigaten am Stuttgarter Opernhaus und einem Sinfoniekonzert gezeigt: eine ansteckende Musizierfreude vor allem, verbunden mit eleganter Dirigiertechnik und eminentem Klangempfinden. Mit Jean Sibelius´ zweiter Sinfonie bewies er nun, dass er auch in der Lage ist, einen Spannungsbogen über ein groß angelegtes Werk wie diese populäre Sinfonie des finnischen Nationalkomponisten zu wölben. Deren am Ende mit Ovationen gefeierte Aufführung kann als Musterbeispiel eines von Emphase wie Partiturkenntnis getragenen Musizierens gelten, das weder das heroische Pathos des Werks noch seinen Reichtum an motivischen Entwickungen und klanglichen Texturen unterschlägt.
Begonnen hatte das Konzert mit György Ligetis in all ihren Verästelungen luzide ausgeleuchteten Orchesterstudie „Lontano“, die wiederum die Hörnerven sensibilisierte für Edvard Griegs a-Moll Klavierkonzert mit Elisabeth Brauß als Solistin. Die 24-Jährige gilt als eine der vielversprechendsten jungen Pianistinnen – nicht nur weil sie technisch bereits praktisch alles kann: die manuellen Herausforderungen des melodiensatten, hochromantischen Konzerts bewältigt sie souverän, ja fast lässig – fulminant hingelegt nicht nur die Kadenz. Aber vor allem besitzt sie ein poetisches Empfinden für die lyrischen Zwischentöne von Griegs Musik, ihren folkloristisch geprägten Zauber, die sie mit enormer Klangdelikatesse umsetzt. Das Publikum wollte sie so erst nach einer Zugabe – Robert Schumanns „Von fremden Ländern und Menschen“ – von der Bühne lassen.

 

Das Collegium Vocale Gent mit Philippe Herreweghe in Ludwigsburg

12.
Mai.
2019

Schönheit des Leidens

Das Publikum, so schrieb Claudio Monteverdi 1638 im Vorwort zu seinem achten und letzten Madrigalbuch, habe bei dessen Aufführung geweint, so sehr sei es vom Affekt des Mitleidens bewegt gewesen. Einen derartigen Gesang habe es zuvor noch nie gehört. Und selbst wenn heutige Zeitgenossen vermutlich etwas abgestumpfter sind als die Menschen des Frühbarock, so dürfte das Konzert des Collegium Vocale Gent in derEvangelischen Stadtkirche im Rahmen der Ludwigsburger Schlossfestspiele doch bei einigen Besuchern ähnlich intensive Reaktionen ausgelöst haben. Nein, berührender und ans Herz gehender kann Musik kaum sein als in diesen Madrigalen, anhand derer sich der stilistische Wandel von der Vokalpolyphonie der Renaissance zu einem am Wortausdruckaus orientierten Deklamationsstil beispielhaft ablesen lässt.
Meist handeln die Madrigaltexte von Leidenden, von Göttern und Nymphen, unglücklichen Hirten und vergeblich Liebenden – und was Leid bedeutet, wusste Monteverdi, dessen Frau 1607 starb; nur ein Jahr später folgte ihr die hoch begabte Sängerin Caterina Martinelli, die er in sein Haus aufgenommen hatte, mit erst 17 Jahren ins Grab.
Der überwältigende Eindruck dieses am Ende mit Ovationen im Stehen bejubelten Konzerts verdankte sich vor allem der Qualität von Herreweghes handverlesenem Ensemble, das in seiner klanglichen Differenziertheit vielleicht einzigartig auf der Welt ist. Herreweghe hat es nicht mit typischen „weißen“ Chorstimmen, sondern mit Charakterstimmen besetzt, die auch solistische Aufgaben übernehmen können. Das war an diesem Abend vor allem die Sopranistin Kristen Witmer mit einer hinreißenden Darstellung des „Lamento della Ninfa“: plastisch wie in einer Opernszene wird hier Klage der Nymphe beschrieben, die über einem absteigenden Lamentobass den Liebesgott Amor anruft, weil ihr Geliebter sie verlassen hat und dabei drei Hirten immer tiefer in ihr Leid hineinzieht. Manche Konzerte sind wie ein Geschenk. Dies war eines davon.

 

 

 

 

 

Mit Schostakowitschs 13. Sinfonie wurden die Ludwigsburger Schlossfestspiele eröffnet

10.
Mai.
2019

Hoffnung auf bessere Zeiten

Thomas Wördehoff wäre nicht Thomas Wördehoff, wenn er nicht auch zur Eröffnung seiner letzten Saison als Intendant der Ludwigsburger Schlossfestspiele seinem Credo treu geblieben wäre: Musik, davon hat er sein Publikum im Laufe der vergangenen neun Jahre überzeugt, dient nicht (allein) der Unterhaltung und (noch weniger) der Repräsentation, sondern kann uns neben ästhetischem Wohlgefallen Erkenntnisse über uns und unsere Welt vermitteln. Und für wenige Werke gilt dies mehr als für die von Dmitri Schostakowitsch: er, der gesagt hat, dass Kunst nicht der Schönheit, sondern der Wahrheit zu dienen habe, hat mit der 13. Sinfonie „Babi Jar“ nach Gedichten des 2017 verstorbenen Dichters Jewgenj Jewtuschenko eines der eindringlichsten Orchesterwerke der gesamten Literatur geschaffen. Der erste Teil thematisiert den globalen Antisemitismus anlässlich des Massakers von Babi Jar, bei dem die deutsche Wehrmacht im Jahr 1942 innerhalb von 36 Stunden über 33 000 Juden erschossen hat, die anderen vier Sätze beleuchten das (Über-)Leben in der Sowjetunion: die zersetzende Angst der Bevölkerung im Stalinismus, die Schostakowitsch selbst erlitten hat, die Tapferkeit der russischen Frauen, die subversive Kraft des Humors.

Dass das Werk selten aufgeführt wird, hängt auch mit den besetzungstechnischen Anforderungen zusammen: neben einem groß besetzten Orchester braucht man einen stimmstarken Männerchor und einen Basssolisten, der die vokalen Anforderungen des Soloparts zu stemmen weiß – und all dies war bei der Aufführung im Ludwigsburger Forum in idealer Weise gegeben. Die jungen Herren des finnischen Chors Ylioppilaskunnan Laulajat, die das Konzert mit einigen nordischen a cappella-Chorwerken eröffnet hatten, bildeten zusammen mit dem fabelhaften Bass René Pape den vokalen Gegenpart zum beherzt aufspielenden Orchester der Schlossfestspiele. Es ist immer wieder erstaunlich, wie es Pietari Inkinen gelingt, die Musiker des projektweise arbeitenden Orchesters zu einem Ensemble zusammenzuschweißen. Die drastisch-grellen, an Mahler gemahnenden Zuspitzungen von Schostakowitschs Orchestersatz realisierte das Orchester ebenso schlüssig wie die fragilen Passagen: Beklemmend der Beginn des vierten Satzes „Angst“ mit dem chromatischen Umherirren der Solotuba, entrückt das zarte, von Celesta und Glöckchen bekränzte Ende des Werks, das zumindest Hoffnung macht auf eine bessere Zukunft der Menschheit. Am Ende Ovationen.

 

George Aperghis „Rotkäppchen“ am JOIN im Nord

04.
Mai.
2019

Das Märchen vom „Rotkäppchen“ kennt wohl jedes Kind. „Großmutter, warum hast Du so große Zähne?“ fragt es seine (vermeintliche) Oma, nachdem es sich zum Wolf ins Bett gelegt hat. Was folgt ist bekannt, doch geht es ja am Ende gut aus – allerdings nur in der Fassung der Gebrüder Grimm, wo dem Wolf der Bauch aufgeschitten wird, aus dem dann Kind nebst Omi wieder putzmunter herauskrabbeln. In der Urfassung des Märchens von Charles Perrault freilich bleiben beide verspeist, denn Perrault sollte die Geschichte zur Abschreckung dienen, als Erziehungsmärchen: wer die Weisungen seiner Eltern mißachtet, so seine Moral von der Geschichte, kann leicht einem Bösewicht zum Opfer fallen.
Diese Urfassung hat auch der Komponist George Aperghis für seine Musiktheaterversion von „Rotkäppchen“ verwendet, die nun in der Jungen Oper JOIN im Nord Premiere hatte. Sechs Musiker (Olga Wien und Markus Hein, Klavier, Andrea Nagy und Adam Ambarzumjan, Klarinetten, Mark Lorenz Kysela, Saxophon sowie Lisa Kuhnert, Violine) sind daran beteiligt, die allesamt auch szenische Aufgaben haben und diese Doppelfunktion bewundernswert souverän ausfüllen. Denn allein die Musik von des Griechen Aperghis, der stark von musikalischen Querdenken wie John Cage und Maurizio Kagel beeinflusst wurde, ist alles andere als simpel. Tonale Strukturen, Kindermusik gar sucht man hier vergebens, dafür hört man das gängige atonale Klangvokabular neuer Musik einschließlich erweiterter Spieltechniken – die hier freilich unterhaltsam eingesetzt werden, wenn sich etwa zwei Bassklarinetten zuprusten. Was die dramaturgischen Mittel betrifft (Regie: Elena Tzavara und Guillaume Hulot), so könnte man das Stück als Vorbereitungskurs für Kinder zur Rezeption performativer zeitgenössischer Theaterformen sehen. Die Geschichte wird nicht linear erzählt, sondern Bausteine des Perraultschen Text werden mehrfach in verschiedenen Konstellationen wiederholt, wobei die Akteure immer wieder die Rollen tauschen. Die Grenzen zwischen Musizieren und Bühnenaktion sind dabei weitgehend aufgelöst, und dieser nichtillusionistischen Grundhaltung entsprechen auch die Kostüme: ein bärtiger Brillenträger wird da zum Rotkäppchen, indem er sich ein rotes Tuch über den Kopf wickelt, der Wolf trägt ein silbern glitzerndes Cape wie aus einer Fernsehshow. Das soll wohl Verführung symbolisieren.
Das ist alles gut durchdacht und konsequent umgesetzt. Was dem Stück aber schmerzlich fehlt – und was Kinderstücke – ab sechs Jahren soll dieses geeignet sein – dann doch haben sollten, sind Spannung und Witz. Zwar gibt es ein paar halbwegs lustige Szenen, an denen dann auch dankbar gelacht wird. Insgesamt aber überwiegt der Eindruck, dass sich hier Erwachsene etwas ausgedacht haben, was Kindern gefälligst gefallen soll. Vielleicht hätte man die vorher fragen sollen.