Weniger Jazz war wohl noch nie bei den Stuttgarter Jazz Open als in diesem Jahr – zumindest was die open air-Hauptbühne vor dem Neuen Schloss anbelangt. Standen dort im Vorjahr mit Gregory Porter und Dianne Reeves noch ausgewiesene Jazzinterpreten, so waren diesmal ausschließlich Vertreter der Pop-und Rockszene zu Gast. Ohne Publikumsmagneten lassen sich solche Festivals kaum mehr finanzieren, denn die Erfahrungen der letzten Jahre haben eines gezeigt: auch in seinen domestizierten Erscheinungsformen ist Jazz nach wie vor keine Musik für die Massen.
Trotzdem darf man die Jazz Open Stuttgart immer noch mit Fug und Recht als Jazzfestival bezeichnen, gab es doch auf kleineren Bühnen ein breites Spektrum an „echten“ Jazzkonzerten. Chick Corea spielte mit seinem Quintett gar im Beethovensaal der Liederhalle vor 2100 Hörern, ein Abend, den man freilich mit gemischten Gefühlen verfolgte. Corea hatte hier ein Ensemble von Spitzenkönnern der amerikanischen Jazzszene versammelt, deren technischer Brillanz zum Trotz alles mehr oder weniger gleich klang. Thema, Soli, Thema, das Ganze befeuert von einem enervierenden Dauergroove. Enttäuschend.
Im Gegensatz dazu zeigte das grandiose Konzert von Coreas ehemaligem Bassisten Avishai Cohen im Sparda Eventcenter, welches Niveau die Formation Jazz-Klaviertrio heute erreicht hat. Hier erlebte man Improvisation im Kollektiv, fesselnd und inspiriert, ein Konzert, das auch von der Nähe zu den Musikern lebte. Noch dichter dran ist man im Jazzclub BIX, der für viele seit Jahren das eigentliche Zentrum der Jazz Open darstellt. Auch hier gab es Jazz auf Weltklasseniveau, der sich auch gern mal jenseits des Mainstreams bewegte. Wie das Quartett der französischen Sängerin Cyrille Aimée, das sehr animierend traditionellen Jazz mit Gipsy-Elementen verbindet und diesen mit zu Herzen gehender Spielfreude präsentierte.
Dagegen wirkte selbst der Auftritt des Altstars Van Morrison reichlich saturiert, selbst wenn sich der 70-Jährige stimmlich nach wie vor in sehr guter Verfassung befindet und mit seinen ebenfalls recht betagten Bandkollegen einen so relaxtes wie inspiriertes Konzert hinlegte. Dazu stimmte der Sound, im Gegensatz zum Konzert von Santana: hier nervte lange der breiige und übersteuerte Klang, den die Techniker erst allmählich in den Griff bekamen. Lange war Konzert deshalb kein Vergnügen, obwohl die Band reichlich Druck machte und Meister Carlos seine Gitarre singen ließ wie eh und je. Doch spätestens bei „Black Magic Woman“ und „Oye como va“ tanzten auch die letzten Zuhörer im ausverkauften Schlosshof. Und alles war gut.
(Mannheimer Morgen)
Die Welt ist aus den Fugen
Viele Opernhandlungen entwickeln ihre Dynamik aus dem immergleichen Dreierkonflikt: Tenor liebt Sopran, Bass (oder Bariton) liebt Sopran aber auch und will die Verbindung der hohen Stimmen verhindern. Am Ende kriegt sich das Paar dann doch.
Das gilt auch für Vicenzo Bellinis Oper „I Puritani“, deren Neuinszenierung durch das Regieduo Jossi Wieler und Sergio Morabito nun am Stuttgarter Opernhaus eine zu Recht umjubelte Premiere gefeiert hat. Nun gehört es freilich zum Selbstverständnis vieler Regisseure, solch billigen Happy End-Klischees zu misstrauen – und auch Bellinis letzte Oper gibt solcher Skepis reichlich Nahrung. Dass Elvira (Sopran), die Tochter des puritanischen Gouverneurs Lord Valton, nach der Flucht ihres Geliebten Arturo (Tenor) und den anschließenden Zudringlichkeiten von Seiten Riccardos (Bariton) zunächst den Verstand verliert und ihn dann pünktlich zu Arturos Rückkehr zurückerlangt, zählt ebenso zu den Kruditäten des Librettos wie der Umstand, dass jener Arturo, ein Parteigänger der verfeindeten katholischen Stuarts, bei seinem ersten Auftritt im Kreise der Puritaner mit Glanz und Gloria empfangen wird. Nein, auf der realistischen Ebene ist dem Stück, das zur Zeit des englischen Bürgerkriegs nach der Ermordung Karls I. und dem Sieg Oliver Cromwells über die Katholiken spielt, schwerlich beizukommen. Deshalb haben Wieler und Morabito für ihre dritte Inszenierung einer Bellini-Oper nach „La Somnambula“ und „Norma“ ihr Analysebesteck ausgepackt und aus „I Puritani“ eine Charakterstudie entwickelt, die den Fokus weg von der Rahmenhandlung darauf lenkt, was die Protagonisten im Innersten bewegt.
Im Zentrum steht dabei Elvira, die von dem Stuttgarter Koloraturenwunder Ana Durlovski überwältigend gesungen und gespielt wird: als eine emotional unreife, in ihren Phantasmagorien gefangene Frau, die Heftchen liest und von jenem Märchenprinzen träumt, der in Arturo dann (Bühnen-)gestalt annimmt – großartig dessen Auftritt in roten Samtpluderhosen, degenschwingend wie ein Musketier in einer Hollywoodverfilmung. Nicht nur hier gelingt der Regie ein bildkräftiger, überraschende Einblicke ermöglichender Perspektivenwechsel, indem Bühnen- und Innenwelt symbolkräftig überblendet werden. Nachhaltig verstörend ist auch der Auftritt von Elviras Onkel Giorgio: eine im Stil des 19. Jahrhunderts gekleidete, aus dem zeitlichen Kontext fallende Figur, die wie ein Varietékünstler eine Handpuppe aus ihrem Requisitenkoffer zieht – ein alter ego Sigmund Freuds?
Ins Unterbewusste zielt jedenfalls vieles in dieser grundklugen Inszenierung: das Puppenhaus, in das sich Elvira im zweiten Akt zurückzieht, nachdem sie von Riccardo betatscht (sollte man sagen: missbraucht?) wurde. Die abgeschlagenen Köpfe der Heiligenfiguren, die sie Arturo nach dessen Rückkehr vor die Füße wirft. Der stolpert wie blind darüber – will oder kann er die Realität nicht sehen? Nicht alles lässt sich da zweifelsfrei deuten, aber dass die Welt gründlich aus den Fugen ist, wird auch in Anna Viebrocks kongenialem Bühnenraum sichtbar, wo sich die Wände im zweiten Akt fast unmerklich zu verschieben beginnen. In den finalen Jubel über die Freilassung der Gefangenen kann das „hohe Paar“ Elvira und Arturo jedenfalls nicht einstimmen: am Ende bleiben sie isoliert, ja: zerstört zurück. Das Happy End fällt aus.
Zum Abschluss der Saison ist der Stuttgarter Oper noch einmal eine überragende Produktion gelungen, die das Niveau der Regie auch musikalisch hält. Bis auf Edgardo Rocha, der die mörderische hoch liegende Partie des Arturo fulminant meistert, sind alle Rollen aus dem Ensemble besetzt. Ana Durlovski (Elvira) festigt ihren Ruf als grandiose Darstellerin neurotischer Frauenfiguren, Diana Haller meistert die Partie der Enrichetta bravourös. Die Männerstimmen, vor allem Adam Palka als bassbeweglicher Giorgio und Gezim Myshketa als ruppig-viriler Riccardo stehen dem nicht nach, und auch der Dirigent Giuliano Carella trifft mit dem prächtig disponierten Staatsorchester den Charakter von Bellinis melodiensatter, immer aufs Gefühl zielenden Musik ideal. (Südkurier)
Aufführungen am 11., 14.,17.,27. Juli
Nicht bloß femme fatale
Schon wieder „Carmen“, mögen da manche meckern, und dann noch dieses peinliche Coverfoto, auf dem Ksenija Sidorova als laszive femme fatale posiert. Doch gemach: denn die Ohrwürmer aus Bizets Erfolgsoper, die die lettische Akkordeonistin auf ihrer ersten CD für die Deutsche Grammophon teils mit Orchester (dem Borusan Istanbul Philharmonic), teils mit dem neunköpfigen Ensemble „Nuevo Mundo“ aufgenommen hat, sind so geschmackvoll und interessant arrangiert wie glänzend gespielt. Man hört das, sozusagen, einfach gern. Sidorova ist nicht nur eine ausgewiesene Virtuosin mit beträchtlicher Bühnenausstrahlung, die schon mit Größen wie Sting und Rolando Villazon aufgetreten ist, sie hat auch musikalisch wenig Berührungsängste. Dazu sieht sie aus wie ein Model, was ebenfalls nicht schaden kann, wenn es darum geht, auch größere Hallen zu füllen. Ja, es erscheint gar durchaus möglich, dass Sidorova mit dem oft als Volksinstrument belächelten Akkordeon gelingen könnte, was David Garrett mit der Geige geglückt ist. Die Chancen dafür sind nicht schlecht.
Ksenija Sidorova. Carmen.
Deutsche Grammophon/Universal 4795224.