Beiträge im Archiv Oktober 2022

Als bliebe die Welt stehen

31.
Okt.
2022

Gaetano Donizettis „L´elisir d´amore“ an der Staatsoper Stuttgart

Ob der Glaube wirklich Berge versetzen kann? In der Heilkunst kann die Überzeugung des Patienten, dass ein verschriebenes Medikament wirkt, erwiesenermaßen zur Genesung beitragen, selbst wenn es sich bei den Pillen bloß um Zuckerkügelchen handelt. Auf diesen sogenannten Placeboeffekt setzt in Gaetano Donizettis Oper „L´elisir d´amore“ auch der Quacksalber Dulcamara, als er dem armen Bauern Nemorino einen Wundertrank verkauft, auf dass dieser endlich die Liebe seiner ersehnten Adina gewinne – was Nemorino, obwohl es sich bei dem Elixier schlicht um Bordeaux handelt, am Ende tatsächlich gelingt.

In Anika Rutkovskys Neuinszenierung des Werks an der Staatsoper Stuttgart nun bewirkt der Glaube an die Möglichkeit von Veränderung noch weitaus mehr: euphorisiert durch das Charisma des wie ein Guru auftretenden Dulcamara beginnen die geknechteten Lohnarbeiter damit, neue Lebensperspektiven für sich zu entwerfen, indem sie ihre normierte Arbeitskluft gegen individuelle Kleidung tauschen  und damit neue Rollen erproben. So wie das Leben war, muss es nicht bleiben. Szenisch entspricht dieser inneren Befreiung die sukzessive Belebung des Bühnenraums durch Pflanzenwachstum. Entsprechend der weitgehenden Industrialisierung der globalen Landwirtschaft hat die Regie das Bauernvolk nämlich in eine Art Labor verlegt, wo merkwürdige, kokosnussartige Früchte gezüchtet werden (Bühne: Uta Gruber-Ballehr). Dies geschieht zunächst in einem quasi sterilen Ambiente, das sich nach dem Auftauchen Dulcamaras dann peu à peu in ein üppig wucherndes Gewächshaus verwandelt, aus dem im zweiten Akt sogar Urwaldgeräusche dringen. Das domestizierte Organische, so kommt es wieder zu seinem Recht. Und selbst im Herzen der zwar aufreizend koketten, doch emotional unterkühlten Laborchefin Adina beginnt sich mit der Zeit etwas zu regen: Dass sich Nemorino, um die Kosten für den Liebestrank aufzubringen, sogar für das Militär verpflichtet hat, lässt schließlich den Damm ihrer gestauten Gefühle brechen. Für das große Duett im Finale findet die Regie ein kongeniales Bild: während Nemorino und Adina ihre Liebe beschwören, bewegen sich die Personen um sie herum quasi in Zeitlupe. Als bliebe die Welt aus Sicht der Liebenden plötzlich stehen.
Noch wichtiger für den durchschlagenden Erfolg am Stuttgarter Premierenabend als das stimmige Regiekonzept waren freilich andere Faktoren. Dazu zählt, dass die Regie den Buffo-Charakter des von Donizetti als „Melodramma“ bezeichneten Stücks ernst genommen hat. Denn diese Oper ist prall gefüllt mit Witz und ironischen Verweisen – und es gibt einiges zu lachen an diesem Abend. Die Komik des Auftritt des großmäuligen Sergeanten Belcore samt Tschingderassa-Militärmarsch etwa wird unterstrichen durch die lächerliche Kostümierung der Soldaten mit kurzen Hosen und weißen Helmen. Für eine andere Art von Witz sorgt der Komponist höchstselbst: Das Pathos der berühmten Romanze Nemorinos „Una furtiva lagrima“ unterminiert Donizetti mit einer näselnden Introduktion des Fagotts in unbequem hoher Lage.
Womit wir bei der musikalischen Umsetzung wären, und die ist über weite Strecken großartig. Das liegt in erster Linie am sehr homogenen Sängerensemble, aus dem der junge Tenor Kai Kluge herausragt. Das Stuttgarter Ensemblemitglied war bisher vor allem in Mozart-Rollen zu hören, beweist aber als Nemorino seine lyrische Exzellenz auch im italienischen Fach. Eine Stimme, die wunderbar auf dem Atem sitzt und dabei zu jener irisierenden Strahlkraft fähig ist, wie man sie bei manchen großen Tenören bewundert. Allein wegen ihm würde sich der Besuch lohnen. Aber da ist ja noch der grandiose Giulio Mastrototaro als Dulcamara, der seine Wortkaskaden in atemberauberender muttersprachlicher Gewandtheit herunterrattert, und auch Björn Bürger als Belcore überzeugt mit profunder baritonaler Eloquenz. Claudia Muschio (Adina) ist ein koloraturensicheres Goldkehlchen, dem es nur in der Mittellage manchmal etwas an Wärme fehlt. Michele Spotti schließlich am Dirigentenpult des Staatsorchesters kitzelt aus diesem den passenden italienischen Klang: schnell, direkt und trocken, mit peitschenden Akzenten und dennoch der richtigen Phrasierungseleganz in den vielen elegischen Kavatinen und Arien. Allenfalls in den großen Ensembleszenen wackelt es noch hie und da. Aber das sollte sich in den kommenden Aufführungen justieren lassen.

Vorsicht: Mikroaggressionen!

23.
Okt.
2022

Matthias Deutschmann im Renitenztheater

Was jetzt noch Ironie ist, könnte bald Realität werden. Er müsse, so der Kabarettist Matthias Deutschmann im Renitenztheater, vorab eine Triggerwarnung aussprechen: Sein Programm „Mephisto Consulting“ enthalte Mikroaggressionen! Sollten ihm überdies im Laufe des Abends Rastalocken wachsen, könne er für daraus resultierende seelische Verletzungen keine Haftung übernehmen. Selbst Schachspielen sei mittlerweile ein Problem: Weiß beginnt – das gehe doch auch nicht mehr. Und mit schwarz zu spielen – ist das nicht kulturelle Aneignung?
Identitätspolitik und Gendersprache („Minderheiten mit Sternen zu markieren, ist das nicht merkwürdig?“) ist aber nur eines der Felder, auf denen das Urgestein des deutschen Kabaretts seine meist treffsicheren Pointen landen lässt. Sowohl geografisch wie historisch misst Deutschmanns satirischer Rundumschlag dabei weite Distanzen aus. In England herrsche ja seit dem Tod der Queen Chaos, doch was halte uns in Deutschland zusammen? Die Rundfunkgebühr! Und der SWR? Der sei eine Pensionskasse mit Sendelizenz. Das mag man hier ebenso ungern hören wie die Berliner den Vorwurf, sie könnten durch die Wiederholung der Wahl die Koalition im Bund platzen lassen. Man wisse ja, was passiert, wenn die Ampel kaputt ist: „Dann gilt: rechts vor links“.
Und auch wenn Deutschmann, der sich zwischendurch immer wieder, im Übrigen sehr gekonnt, ans Cello setzt, die schnelle Pointe nicht verschmäht (“Alle Silben, die Oettinger verschluckt hat, würgt Kretschmann wieder aus…“), so ist er am brillantesten, wenn er sich den großen Themen widmet. Wie der Frage, warum die Spezies Homo sapiens so erfolgreich ist („Die Geilheit ist die Hintergrundstrahlung der Evolution“) oder jener, welcher der vielen Götter wohl letzlich gewinnen wird. Wobei – die Höllen, hier rekurriert er auf den Titel seines Programms, hätten ihn ja schon immer mehr interessiert als die Himmel. Die evangelische Hölle sei dabei vermutlich angenehmer als die katholische: sie werde nämlich nicht geheizt.

Bruce Liu spielte in der Meisterpianistenreihe

19.
Okt.
2022

Passiert auch nicht allzuoft, dass sich ein Großteil des Publikums am Ende erhebt, um dem Pianisten stehend zu applaudieren – doch so, wie Bruce Liu mit der Klavierfantasie Franz Liszts über Mozarts „Don Giovanni“ am Ende seines offiziellen Programms die Zuhörer fast in einen Taumel gespielt hatte, blieb vielen kaum anderes übrig, als hernach begeistert aufzuspringen. Es war der erste Klavierabend der Meisterpianistenreihe, mit dem der Gewinner des letztjährigen Chopin-Wettbewerbs gleich ein dickes Ausrufezeichen setzte. Chopin war auch die erste Hälfte des Programms gewidmet. Das Rondo à la Mazur op. 5 ist ein selten zu hörendes Stück, eher leichtgewichtig in seiner spielerischen Verarbeitung des Mazurkenrhythmus, aber schon mit jenen typischen melodischen Galanterien durchsetzt, die auch viele von Chopins späteren Werken prägen. Schon hier zeigte sich Lius Gespür für das rechte Maß: alles ist agogisch durchgestaltet, aber niemals auch nur die Grenze des Sentimentalen streifend – ebensowenig wie bei den Variationen über „Là ci darem la mano“ op. 2, einem hochvirtuosen, dezent salonesken Showpiece des jungen Chopin, das Liu die Gelegenheit gab, seine hyperpräzise Klaviertechnik ins rechte Licht zu rücken. Dass die Töne des leichthändig hingeworfenen Skalenwerks dabei eher perlmutt schimmerten als silbrig glänzten, war auch dem Klangcharakter des Fazioliflügels zu verdanken: der mag nicht ganz so dynamisch klingen wie die Konkurrenz von Steinway, ermöglicht dem sensiblen Pianisten aber subtilste klangliche Abschattierungen. Und so ließ Liu die fünf Sätze von Maurice Ravels „Miroirs“ in fast orchestral anmutender Klangpracht entstehen, dabei wie ein Maler die Farbschichten in- und übereinanderlegend – ein Meisterstück musikalischer Charakterisierungskunst und zweifellos der Höhepunkt des Abends. Für die Ovationen bedankte sich der sichtlich gerührte Liu mit vier Zugaben: zweimal Rameau, einmal Chopin, und am Ende, zauberisch leicht, Liszts berühmte La campanella-Etüde. STZ

„Eclipse“ mit Hilary Hahn

03.
Okt.
2022

Es gibt viele tolle Geiger. Und es gibt Hilary Hahn. 1997, mit 18 Jahren, brachte sie ihre erste CD mit Sonaten und Partiten Bachs auf den Markt, damals verblüffte ihre Vereinigung von geigerischer Perfektion, Ernsthaftigkeit und Unmittelbarkeit des Ausdrucks: Hilary Hahn musizierte, als ginge es dabei um alles – was, nimmt man es genau, ja auch stimmt. Und diese Haltung zeigt sie auch auf ihrer neuen CD, deren Titel „Eclipse“ als Metapher für Hahns Wiedereintritt ins Licht der Kunst nach jahrelanger coronabedingter Verdunkelung zu verstehen ist. Und als hätte sich da enorm viel aufgestaut an musikalischem Ausdrucksbedürfnis, zeigt sie in jedem der drei Werke eine durch Stilbewusstsein und Sensibilität geadelte Hingabe, die einen beim Hören fast befangen machen kann. Zum Niederknien schön bei Dvorák, blitzend virtuos bei Ginastera und in Sarasates Carmen-Fantasie – ach, hören Sie selbst!