Beiträge im Archiv Januar 2019

Die Sängerin Peaches singt in der Neuproduktion von Brechts „Die Sieben Todsünden“

30.
Jan.
2019

Bad Girl des Electroclash

 

„Fuck the pain away“ – so lautet der Titel des populärsten Songs der Sängerin Peaches, die am Samstag in der Rolle der Anna in der Neuinszenierung von Brechts „Die sieben Todsünden“ am Schauspiel Stuttgart zu sehen sein wird. Sogar in einigen Fernsehserien und Filmen wurde der Song verwendet, in der Serie „South Park“ etwa, vor allem aber in der Szene in einem japanischen Stripclub in Sofia Coppolas Film „Lost in Translation“ mit Bill Murray und Scarlett Johannson. Es ist eine coole Dancefloornummer explizit sexuellem Inhalt – der aber, abgesehen vom Songtitel, noch recht harmlos anmutet im Vergleich mit dem, was die 1966 in Kanada als Merrill Beth Nisker geborene Sängerin und Performancekünstlerin später produziert hat.
Wer sich etwa „Rub“, das Video zum Titelsong von Peaches´ letztem, 2015 erschienenen Album auf Youtube anschauen möchte, muss zunächst mit einem Klick eine Art Einverständniserklärung abgeben. Der Inhalt sei „von der YouTube-Community für einige Zielgruppen als unangemessen oder beleidigend eingestuft“ worden, und allgemein „für jüngere oder sensible Zuschauer nicht geeignet“. Das kann man nachvollziehen. Der Clip lässt sich als drastisches Bekenntnis zur sexuellen Libertinage deuten, gespickt mit Orgienszenen, allerhand nackter Haut und Genitalien in Großaufnahme. Gegen Ende schwenkt zur Textzeile „Can’t talk right now / The chicks dick is in my mouth“ gar noch ein Hermaphrodit sein primäres Geschlechtsteil über der knienden Sängerin. Muss man mögen.
Vermutlich ist mit Videos wie diesem die Grenze dessen erreicht, was gerade noch nicht als Pornografie gilt. Viele der über 5000 Kommentare auf Youtube sind negativ – was auch damit zusammenhängen könnte, dass man hier Menschen beim Sex sieht, die ganz und gar nicht der Körpernorm entsprechen. Gestylte Sängerinnen wie Madonna, die ein Image als Sexqueen pflegen, wirken im Vergleich dazu fast aseptisch.
Tatsächlich sind die heterosexuellen Rollenbilder der kommerzialisierten Unterhaltungsbranche ein Graus für Peaches, die ich nach einer Probe in ihrer Garderobe im Schauspielhaus treffe. Sie wirkt ein wenig müde, eine Erkältung macht ihr noch zu schaffen, aber immerhin, die Stimme ist wieder da. Ihr wichtigstes Anliegen, sagt Peaches, sei Selbstbestimmung. „Ich möchte, dass sich die Menschen nicht danach richten, was andere erwarten.“
Das hat sie auch selbst nicht getan. „The Shit“ heißt ihre erste wilde Punkband, ab 2000 nennt sie sich dann, nach einer archetypischen afrikanischen Frauenfigur in einem Song von Nina Simone, „Peaches“ und avanciert nach ihrem Umzug nach Berlin zu einem Star des sogenannten Electroclash, einer Musikrichtung, die die rebellische Haltung des Punk mit elektronischer Musik zusammenbringt. Sie beginnt, eigene Sounds zu produzieren und ihre offensiven Liveshows, bei denen sie schon mal im rosa Latexhöschen auf die Bühne kommt, ziehen ein immer größer werdendes Publikum an. Peaches erwirbt sich ein Bad Girl-Image, tritt im Vorprogramm von Björk auf, Karl Lagerfeld macht eine Fotoserie mit ihr. Für ihr zweites Album „Fatherfucker“ geht sie gar mit Iggy Pop ins Studio.
2012 dann singt sie im Berliner Hebbel am Ufer Theater, genannt HAU, die Titelrolle in Monteverdis Oper „Orfeo“, nachdem sie dort schon zwei Jahre zuvor eine One-Woman-Version der Rockoper Jesus Christ Superstar auf die Bühne gebracht hatte. Die Kritiken zu Orfeo sind gemischt. Eleonore Büning von der FAZ lobt sie als die „mit Abstand beste, weil wahrste und herzergreifendste Opernproduktion, die in dieser Saison in der Hauptstadt zu erleben war“. Andere sind skeptischer, attestieren ihr stimmliche Beschränktheit.
Eigentlich hätte damals die Regisseurin Anna-Sophie Mahler den Orfeo in Berlin inszenieren sollen. Dazu kam es nicht, doch nun hat Mahler die Gelegenheit genützt und Peaches als Co-Regisseurin und Darstellerin für die Stuttgarter Neuproduktion von „Die sieben Todsünden“ verpflichtet. In dem Stück, einer Koproduktion von Schauspiel, Ballett und Oper, muss die Protagonistin Anna, die in Stuttgart neben Peaches von weiteren drei Darstellern verkörpert wird, durch sieben amerikanische Städte ziehen, um Geld für ein Eigenheim in Louisiana zusammenzukratzen. Dabei definiert, als Beleg von Max Webers These von der innerweltlichen Askese als Bedingung des Kapitalismus, der Drang nach Profit, was in welcher Situation als Sünde und was als Tugend gilt. Die „Todsünden“ sind Versuchungen, deren Befriedigung aufgeschoben werden muss, und für Peaches ist vor allem das patriarchalische System dafür verantwortlich. Sie nennt es „Male toxicity“ – eine vergiftete, ungesunde Form von Männlichkeit, die vor allem in den USA dominiert. „Alles wird unterdrückt“, sagt sie. „In diesem System kommt immer zuerst der Mann. So kann keine bessere Welt entstehen.“ Wie bewertet sie die sogenannten „Todsünden“ in Brechts Stück? Sie zögert ein wenig. Nun, für Faulheit müsse es Platz im Leben geben. Stolz sollte jeder in sich tragen, Zorn könne berechtigt sein, solange er nicht in Gewalt umschlage. Völlerei? Müsse manchmal sein. Und Neid, das sei in Brechts Stück Annas Neid auf diejenigen, die Sünden begehen dürften. Die einzige wirkliche Sünde, sie nennt sie „bourgeois“, ist für Peaches Habsucht – was angesichts ihrer systemkritischen Ansichten ebenso wenig verwundert wie dass sie Unzucht für ein elementares Bedürfnis hält. Frauen, sagt sie, sollten dabei nicht mehr nur Objekt, sondern Subjekt sein. Dabei gehe es gar nicht auschließlich um Sex, sondern dass sich Menschen in ihrer Haut wohlfühlten. „Ich sage niemandem: Du muss Orgien feiern“.

Andrea Bocelli in der Hanns-Martin-Schleyerhalle

12.
Jan.
2019

 

Na gut, Liedgesang ist nicht so sein Ding. In Beethovens „Ich liebe Dich“ nuschelt und knödelt sich Andrea Bocelli mit brüchiger Stimme so ein bisschen durch, es geht ihm da wie José Carreras, dessen lyrischer Tenor in fortgeschrittenem Alter ebenfalls nur noch durch gehörigen Kraftaufwand zu tragfähigen Tönen in der Lage war. Das fällt an diesem Abend aber insofern wenig ins Gewicht, als Bocelli beim Rest seines Programms ausreichend Gelegenheit hat, Spitzentöne mit jener tenoralen Grandezza zu stemmen, die das Publikum so liebt. Das galt vor allem für die erste Programmhälfte, in der er, unterstützt vom grundsolide spielenden Südwestdeutschen Kammerorchester Pforzheim und dem Bachchor Stuttgart, Opernklassiker von Verdi, Gounod, Leoncavallo und Puccini singt. Die Duette mit der kubanischen Sopranistin Maria Aleida hinterlassen dabei den stärksten Eindruck – sehr innig „O Soave Fanciulla“ aus Puccinis „La Bohème“, stürmisch die „Nuit d´hymeneé“ aus Gounods „Romeo et Juliette“. Um den fehlenden szenischen Kontext etwas abzufangen, werden dazu auf einer Leinwand im Hintergrund Projektionen gezeigt – Szenen aus Operninszenierungen, aber auch Animationen, wie zur Cabaletta des Manrico „Di quella pira l’orrendo foco“ aus Verdis „La Trovatore“, wo vor einer finsteren Burg bedrohlich die Flammen züngeln.
Jenen, die den Opernplot nicht gut kennen, hilft das nicht wirklich weiter, aber das ist nach der Pause anders, wenn es bei Ausflügen in Folklore, Musical und Weltmusik vor allem darum geht, die Stimmung der Lieder visuell zu unterstützen. So sieht man zum leidenschaftlich geschmetterten „O Sole mio“ Bilder der Amalfiküste mit azurblau schimmerndem Meer und zu Rodrigos „En Aranjuez con tu amor“ Aufnahmen der Alhambra. Ilaria Dello Bidia hat mit „Over the Rainbow“ einen ganz starken Auftritt, und erst gegen Ende der zweiten Hälfte richtet Bocelli dann einige Worte an das Publikum, vor allem um den Auftritt seines Sohns Matteo anzukündigen. Der, so Bocelli, habe ihm gesagt dass er ebenfalls Sänger werden wolle, und so hat der Papa für sein aktuelles Album „Si“ mit ihm „Fall on me“ aufgenommen, ein Song, der das Potential des gut aussehenden Sohnemanns nicht überfordert und am Ende sehr beklatscht wird. Mit „Canto della terra“ einem Bocelliklassiker, biegt der Abend dann auf die Zielgerade ein. Drei Zugaben, darunter auch der Superhit „Time to say Goodbye“. Draußen wartet der Schneegriesel.

Die Academy of St. Martin-in-the-Fields

10.
Jan.
2019

Blasser Auftritt

Am Londoner Trafalgar Square steht die Kirche St. Martin-in-the-Fields, ein freundlich-heller Bau mit einem charakteristischen Turm über der säulengesäumten Vorhalle, der vor allem durch das nach ihm benannte Orchester berühmt wurde. Neville Marriner hatte es 1958 gegründet, und dass sich sein Ruf rasch in alle Welt verbreitete, hatte mit seiner für damalige Verhältnisse revolutionären Interpretation von Barockmusik zu tun: auf modernen Instrumenten, aber mit schlankem Klang und differenzierter Artikulation setzte vor allem seine Spielkultur lange Zeit Maßstäbe.
An das Spiel ohne Dirigent ist das Orchester, das die Konzertmeisterin Iona Brown häufig vom ersten Pult geleitet hat, lange gewöhnt. Und der Geiger Joshua Bell, der das Orchester seit 2011 leitet, hat bei zahlreichen Konzerten bewiesen, dass dies auch bei klassisch-romantischer Musik funktionieren kann. Umso überraschender der zwiespältige Eindruck, den das Konzert der Academy in der Meisterkonzertreihe der SKS Russ nun hinterlassen hat.
Eigentlich kommt der feine Klang eines Kammerorchesters Prokofjews im Haydn-Stil komponierter „Symphonie classique“ entgegen. Wie immer gab Joshua Bell vom ersten Pult aus gelegentliche Impulse, die aber an diesem Abend weder zu homogenem Spiel und schon gar nicht zu stringenten Interpretationen führten. Vom Gestus her musizierte das Orchester wie immer auf der sprichwörtlichen Stuhlkante, mit forschem Zugriff, artikulatorisch manchmal fast überpointiert. Doch unsaubere Einsätze und verschmierte Streicherfigurationen waren nicht zu überhören, auch nicht in Saint-Saens´ drittem Violinkonzert, wo man sich zu Bells dominantem Solospiel einen orchestralen Gegenpart gewünscht hätte, der über bloßes Begleiten hinausgegangen wäre. Insgesamt fehlte es an diesem Abend sowohl an gestalterischer Struktur wie an klanglicher Finesse – auch Barbers berühmtes „Adagio“ und Bizets erster Sinfonie kamen reichlich anämisch daher. Das ist man von diesem Orchester eigentlich nicht gewohnt.