Beiträge im Archiv September 2022

Die Stuttgarter Oper hat die neue Spielzeit mit Schorsch Kameruns „Come together“ eröffnet

19.
Sep.
2022

Es kommt ja eher selten vor, dass Ex-Punker sich im bürgerlichen Kulturbetrieb etablieren können. Schorsch Kamerun, einst Frontmann der Punkband „Die goldenen Zitronen“, ist das trefflich gelungen. Landauf, landab wird er von Theatern als Regisseur verpflichtet, dazu kommen Programme wie die Musiktheaterperformance „All together now!“, die im Juli diesen Jahres am Münchner Residenztheater über die Bühne ging. An der Stuttgarter Staatsoper hat Kamerun zwei Projekte gestaltet, zuletzt im Juli 2021 einen „Nocturne“ betitelten Abend, der gleichzeitig den Abschluss der Spielzeit markierte. Die Eröffnung der neuen Spielzeit hat die Oper nun Kamerun mit einer Produktion anvertraut, die sich – der einem Beatlessong entlehnte Titel „Come together“ weist darauf hin – thematisch an die aus München anlehnt.
Versteht man dieses Motto als Imperativ, so sind ihm am Sonntagabend viele gefolgt. Dass dennoch einige Plätze, ziemlich viele sogar, leer geblieben sind, könnte an der Postcorona-Lethargie liegen. Vielleicht aber auch daran, dass sich Kameruns Modell mittlerweile etwas erschöpft hat. Denn sein dramaturgisches Rezept erscheint einigermaßen simpel: Zunächst überlege man sich einen Titel, der das Ganze dramaturgisch kittet. „Come together“ kann dabei als der kleinste gemeinsame Nenner des Kulturbetriebs gelten, gibt es ohne das Zusammenkommen von Menschen doch keine Veranstaltung. Da auch die örtlichen Kräfte, in diesem Fall die der Staatsoper, einzubinden sind, nehme man einige thematisch passende Opernarien, garniere sie mit Orchestralem und konfrontiere das alles möglichst hart mit Musik aus anderen Genres. Vorzugsweise Rap. Dazu kommt Selbstgesungenes mit der eigenen Band, was den Vorteil hat, dass man auch gleich die neue CD promoten kann. Jetzt fehlt, eine visuelle Ebene ist heute Standard, nur noch ein Videokonzept, in diesem Fall eine Übertragung aus einem verglasten Bühnenkubus, in dem eine Schauspielerin (Annemaaike Bakker) Blüten seziert und Kameruns Texte rezitiert. Fertig ist der Abend.
Musikalisch beginnt der großartig. Schwer atmet und seufzt das Akkordeon (Anne-Maria Hölscher) auf der ins Halbdunkel getauchten Bühne, ehe die Altistin Stine Marie Fischer mit den ersten Worten von Johann Christoph Bachs berühmtem „Lamento“ einsetzt: „Ach, dass ich Wasser gnug hätte in meinem Haupte, und meine Augen Tränenquellen wären…“ Dann tritt das Orchester hinzu und es entsteht, was große Kunst vermag: Verzauberung, Aura, emotionale Berührung.
Im Verlauf des Abends gibt es noch mehrere solch intensiver Momente. Rückenschauererregend die Arie der Sapho aus Charles Gounods gleichnamiger Oper „O ma lyre immortelle“, die Diana Hallers sengender Mezzo regelrecht ins Herz brennt, genauso eindringlich wie Gustav Mahlers Orchesterlied „Ich bin der Welt abhanden gekommen“. „Musik aus Österreich, wunderbar“ kommentierte das der in einem kaftanartigen Gewand und mit Badelatschen an den Füßen von seinem Tischchen am vorderen Bühnenrand aus moderierende Schorsch Kamerun – selbst wenn das Österreichische nun vielleicht doch das am wenigsten Bemerkenswerte an Mahlers Musik ist.
Für Kamerun freilich, das vermittelt er mit Produktionen wie dieser, ist ohnehin alles irgendwie gleich. Ob das nun die schlichten Verse der Rapperin Ebow sind, Charles Ives´ Orchesterstück „The Unanswered Question“ oder sein eigener fistelnder Sprechgesang – alles ist halt Musik. Es gibt keine Hierarchie, und so darf alles mit allem kombiniert werden.
Für einige Zeitgenossen mag diese Freiheit im Umgang mit Genres verlockend klingen, zumal wenn sie, wie im Fall des domestizierten Punkers Kamerun, obendrein mit gesellschaftlich angesagten Attributen wie Diversität und Nachhaltigkeit einhergeht – auch wenn musikalisch sensible Naturen einwenden könnten, dass es vielleicht doch nicht ganz egal ist, ob ein Vokalsolo Sofia Gubaidulinas nach einem Rap gesungen wird oder nicht.
Aber vielleicht geht es ja an diesem Abend auch mehr darum, einfach mal etwas Spaß haben zu dürfen im Opernhaus. Aus voller Kehle mitzusingen beim „Konzert für Publikum und Orchester“ von Nicola Campogrande, sich zu amüsieren über das Duo aus Schwirrholz und Gänsegeierflöte und mal wieder kollektiv optimistisch in die von Krisen bedrohte Zukunft zu blicken. „Crisis, what Crisis?“ fragt Schorsch Kamerun am Ende ins merklich euphorisierte Publikum. Und lobt sich selber: „Wow, das uns das gelungen ist!“Na dann. (STZN)