Beiträge im Archiv Oktober 2021

Öffentliche Entblößung

28.
Okt.
2021

Oliver Pocher trat im Stuttgarter Beethovensaal auf

Sich über andere lustig zu machen, zählt sozusagen zu den Kernkompetenzen von Comedians. Das gilt in besonderem Maße für Oliver Pocher, der am Mittwochabend im Stuttgarter Beethovensaal seine wegen Corona ausgefallenen Auftritte in der Porsche-Arena und den Wagenhallen nachgeholt hat und sich dabei wieder einmal seine bevorzugte Zielgruppe vorknöpfte. Dazu zählt in erster Linie der Schlagersänger und Verschwörungstheoretiker Michael Wendler, mit dem Pocher ein nachgerade symbiotisches, auf gegenseitige Popularitätssteigerung angelegtes Verhältnis pflegt: Wendlers zugegeben grenzdebile YouTube-Filmchen bilden für Pocher dabei ebenso leicht verwertbare Vorlagen wie der Videomüll, mit dem sogenannte Influencerinnen oder andere publicitygeile Möchtegern-Stars täglich die (a)sozialen Medien fluten. Vieles davon ist, gewürzt durch Pochers Kommentare, dann in der Tat sehr lustig anzusehen.

Ob man freilich die Art und Weise, mit der Pocher zuvor eine junge Frau aus dem Publikum auf der Bühne, ja, entblößt hat, lustig finden muss, ist eine ganz andere Frage – ganz abgesehen davon, wie diese das, von der Situation merklich überfordert, selber empfunden hat. Auf die Frage ins Publikum, wer Tinder hätte, hatte sie die Hand gehoben und wurde dann von Pocher auf die Bühne gebeten. Allerdings hatte sie wohl kaum damit gerechnet, danach ihr Smartphone abgenommen und dessen Inhalt auf die große Leinwand im Saal projiziert zu bekommen. Erst nahm Pocher den Startbildschirm unter die Lupe und ging, die Einträge launig kommentierend („Du bist bei der Jungen Union!“), die Apps durch, um sich endlich durch das Tinderprofil der Frau zu klicken. Nicht nur deren eigene Profilbilder, sondern auch jene der ihr vorgeschlagenen Männer wurden dann zur allgemeinen Betrachtung freigegeben. Zuvor schon meinte Pocher, dass er es besonders lustig fände, wenn einer davon im Publikum sitzen würde – am besten mit seiner Freundin. Persönlichkeitsrechte, Datenschutz? Man kann da schon ins Grübeln kommen, zumal die Chance recht hoch sein dürfte, dass sich Bekannte der auf diese Weise geouteten Männer auch im Publikum befunden haben. Die Demütigung ging aber noch weiter, denn Pocher verfasste an „Jürgen“ aus den Tinder-Vorschlägungen ohne Einwilligung der Frau auf deren Smartphone eine Nachricht. „Hätte Bock, an Dir zu würgen“. Immerhin, am Ende bekam sie ein T-Shirt.

Und es war gut

25.
Okt.
2021

Die Bachakademie eröffnet die Saison mit Haydns „Die Schöpfung“

Joseph Haydn dürfte seinen Spaß gehabt haben, bei der Komposition seines Oratoriums „Die Schöpfung“ die Tierwelt musikalisch darzustellen. Mal tat er das lautmalerisch, wie beim Vogelgesang oder Löwengebrüll, mal symbolisch, wenn etwa tiefe Streicher das am Boden kriechende Gewürm darstellen. Grundsätzlich aber auf ganz ähnliche Weise wie die Komponisten des Barock, und wenn auch einige Arien, etwa des Erzengel Gabriels „Nun beut die Flur“ mit ihrem wiegenden Siciliano-Rhythmus, fast bachisch daherkommen, so weist anderes in die Zukunft: die gleißende Klangentfaltung beim Scheiden von Tag und Nacht lässt schon fast an Strauss´ „Also sprach Zarathustra“ denken.
Dass dies nun in solcher Plastizität erlebbar wurde, verdankt sich einer Aufführung von Haydns Geniestreich durch die Gaechinger Cantorey unter Hans-Christoph Rademann im Beethovensaal, die in ihrer rhetorischen Differenziertheit und dramaturgischen Stringenz als vorbildlich gelten kann.
Rademann forderte viel von seinen Musikern. Verve und Tempo etwa in der Fuge „Denn er hat Himmel und Erde…“, doch zeigte der Chor keinerlei Schwächen, glänzte mit mustergültiger Diktion, farblich ebenso differenziert wie das Orchester, das selbst im Pianissimobereich immer die Klangbalance wahrte. Klug ausgewählt waren auch die Solisten. Die Sopranistin Katharina Konradi war weit mehr als nur ein Ersatz für die erkrankte Dorothee Mields, sie sang ebenso makellos und souverän wie der Tenor Julian Habermann und der Bass Tobias Berndt.
Mag sein, dass die fast körperlich zu spürende Musizierlust der Beteiligten auch dem Umstand geschuldet war, dass der Saal nach langen, coronabedingten Einschränkungen, fast voll besetzt war. Vielleicht trug auch das neu erworbene, ausnehmend fein klingende Cembalo zur Motivation bei. Ein beglückender Abend war diese „Schöpfung“, mit der die Bachakademie auch an ihre eigene Gründung vor 40 Jahren erinnerte, auf jeden Fall. Gott, so man ihn fragen könnte, würde vermutlich sagen: Ich sah, dass es gut war.