Beiträge im Archiv November 2011

Hans Christian Andersens Märchen „Die Schneekönigin“ in der Stuttgarter Werkhalle

29.
Nov.
2011

Nadja Stübinger

Na, diese Art von Eltern kennt man doch. Gymnasiallehrer ist Gerdas Vater. Zwar schon etwas älter, will er aber immer noch ein toller Sporthecht sein, und knickt doch schon nach zwei Minuten mit dem Knöchel auf dem Basketballfeld um. Beruflich längst unkündbar, hat Papa seinen verbliebenen Ehrgeiz auf die Ausbildung seiner Kinder und aufs Kochen verteilt: „Bachforelle auf Gemüsebett“ soll´s am Abend geben. Der dezent eleganten Mutter im Hosenanzug ist es recht, dass sie nicht kochen muss. So kann sie noch an ihrem Text arbeiten.

Typische, bildungsorientierte Mittelschichtseltern also, wie sie vermutlich das Gros jener Erziehungsberechtigten stellen dürften, die mit ihren Kindern die Neuinszenierung von Hans Christian Andersens Märchen „Die Schneekönigin“ besuchen. Hasko Weber hat das Stück für die Werkhalle in der Türlenstrasse neu bearbeitet und inszeniert, und dass der Regisseur damit dem Publikum nicht nur in dieser Szene quasi den Spiegel vorhält, gehört zum Konzept. Denn Weber hat die Geschichte um den Jungen Kay, den die Schneekönigin in ein fernes kaltes Land entführt und der dann von seiner Freundin Gerda nach einigen abenteuerlichen Stationen wieder kraft ihres reinen Herzens gerettet wird in die Lebenswelt von heutigen Kindern und Jugendlichen versetzt. Dabei hat er sowohl die originalen Schauplätze wie das Personal kräftigen Retuschen unterzogen.

So zeigt das Bühnenbild ein verlassenes Fabrikgelände: Mit einer Pförtnerloge im Hintergrund, einer Reihe von Spinden und einem Anbau mit großen Lüftungslöchern. Davor eine freie Fläche, die auf der Gerda und Kay sich zum Basketballspielen treffen. Dieses Gelände bildet den Hintergrund für all die wundersamen Dinge, die dann im Verlauf des neunzigminütigen Stücks passieren. Obwohl Webers Bühnenadaption radikal aufräumt mit all den zeittypischen Ingredienzen von Andersens Märchen – es gibt hier weder Prinzessinnen noch Räuberbanden – lässt sie gleichwohl Raum für seinen fantastischen Kern, hält die Geschichte in der Schwebe zwischen Traum und Wirklichkeit. Dazu fährt sie ein Arsenal an schrillen Typen auf, wie man sie auch im Theater nicht allzu häufig erleben kann. Etwa Rolf, die Kanalratte: Ein haariger, verdreckter, aber gutmütiger Zottel, der sich von liegengebliebenen Pausenbroten ernährt und Gerda der ersten Hinweis auf den Verbleib des vermissten Kay gibt. Er ist von der Kostümabteilung mit der gleichen Liebe zum Detail ausgestattet worden wie das erbgeile Paar, das seine spinnerte Mutter im Rollstuhl durch die Gegend schiebt: er ein irrer Professor mit Pullunder und Hornbrille, sie eine Prolltussi mit Leopardenleggins – und die vorgeblich debile und gelähmte Mutter erweist sich schließlich als qietschfidele Alte, die ihre missratenen Kinder bloß zum Narren hält und Gerda schließlich weiterhilft. Nicht nur hier entwirft die Regie eine kleine, hoch verdichtete Farce, die mächtig Tempo in die Geschichte bringt und von Groß und Klein gleichermaßen begeistert akklamiert wird – und kriegt am Ende doch wieder die Kurve zurück in den Plot, der ja auch eine Art Entwicklungsroman ist: zwei Kinder schlagen sich mit der Welt herum und finden am Ende heraus, was wirklich wichtig ist im Leben.

In Andersens Märchen sind sie da gar erwachsen geworden, und erwachsener werden sind sie auch in Webers Fassung. Gerda, da sie quasi im Schnelldurchlauf Bekanntschaft gemacht hat mit allerlei wunderlichen Ausgeburten unserer Zeit – neben den erwähnten sind da noch ein durchgeknalltes Hotelierspaar und ein russischer Taxifahrer mit Rentierpullover, der sie schließlich an den Nordpol ins Schloss der Schneekönigin bringt.

Doch vor allem Kay hat dazugelernt.

Der würde so gerne – wie viele Jugendliche heutzutage – ein singender Superstar werden: mit kreischenden Fans, Ruhm und ganz viel Geld. Dafür würde er alles tun, sogar seine Seele verkaufen. Und indem er der Schneekönigin folgt, die verspricht, aus ihm einen Star zu machen, sofern er nur „cool“ genug ist, erliegt er schließlich genau jener Verführung, der heutige Jugendliche durch Formate wie „Deutschland sucht den Superstar“ dauernd ausgesetzt sind. So moralinsauer das nun klingen mag, so fantasievoll und selbstironisch ist das in der Werkhalle in Szene gesetzt. Nadja Stübinger spielt die Schneekönigin als eine Art vollends zu Eis gewordene Heidi Klum, eine mephistophelisch grinsende Karrierecoachin, die gegen Ende die Kinder im Publikum “Na, ward ihr auch alle schön böse?“ fragt. Und man kann ja die Faszination gut nachvollziehen, wenn Kay im Glitzeranzug im Rampenlicht seinen Song schmettert, begleitet von der exzellenten dreiköpfigen Combo „The frozen snowdogs“, die für die musikalische Begleitung des Abends zuständig ist. Schließlich gibt es ja auch noch eine Tanzbegleitung, und es darf als echter Regiecoup gelten, hierfür einen so spektakulären Breakdancer wie Sebastian Petrascu verpflichtet zu haben. Der wird zum einen schlüssig in den Plot integriert, bietet aber vor allem für die jüngeren im Publikum immer wieder Anlass für staunende Ahs und Ohs, wenn er wieder mal einen Einhandstand oder eine andere hochartistische Einlage gemacht hat.

Dass sie sich auf verschiedenen Ebenen rezipieren lässt, ist ohnehin eine der stärksten Qualitäten dieser am Ende mit Riesenbegeisterung aufgenommenen Inszenierung. Es ist wirklich für jeden etwas dabei: Jüngere Kinder staunen über die fantasievollen Kostüme und bekommen die Grundzüge der Handlung doch gut mit, die Älteren können sich nicht zuletzt an den liebevollen Details ergötzen, mit denen Hasko Weber die Szenerie intellektuell angereichert hat. Jascha, der russische Taxifahrer etwa, trinkt nicht nur gerne ein Gläschen Wodka, sondern übt sich auch im Obertongesang – was man aber nur mitbekommt, wenn man gut aufpasst.

Was aber jeder mitbekommt, sind der Schwung und die Leidenschaft, mit der hier das gesamte Ensemble bei der Sache ist. Michel Brandt (Kay) und Eléna Weiß (Gerda), beides Schauspielstudenten, fügen sich perfekt in das restliche Ensemble ein, bei dem Sabine Bräuning, Christian Schmidt, Anja Lechle und Bernhard Baier in jeweils drei verschiedene Rollen schlüpfen.

Gerdas warmes Herz lässt am Ende dann sogar die eisige Schneekönigin schmelzen. Und irgendwie herzerwärmt macht man sich nach diesem Stück auch auf den Heimweg. (Stuttgarter Zeitung)

Restaurantkritik Van in S-Vaihingen

26.
Nov.
2011

Nachtrag

Nachdem ich nun einige Zeit nicht mehr im Van war und auf diversen Foren negative Einschätzungen gelesen habe, habe ich vor einigen Tagen dem Van mal wieder einen Besuch abgestattet, der leider bestätigte, dass das einst so ausgezeichnete Restaurant stark nachgelassen hat. Ich bestellte 2 typische Thai-Gerichte. Die Suppe mit Kokosmilch und Hühnerfleisch war  leicht versalzen war und aromatisch unausgewogen, als hätt hier niemand abgeschmeckt, das Thai-Curry dagegen ließ die Aromenvielfalt, die solche Currys ansonsten haben, komplett vermissen – es schmeckte fast wie beim Standardchinesen. Dazu funktioniert im Lokal offenbar der Abzug nicht: am nächsten Tag musste ich sämtliche Klamotten wegen des Fettgeruchs in die Waschmaschine geben. Sehr schade! Dabei ist das so eine schöne Lokalität. Rappelt Euch, Van! (13.12.2012)

 

Van. Schön sitzen und sehr gut essen: In dem Asia-Lokal unweit des Vaihinger Zentrums kann man beides

Asia-Lokal? Sind das nicht jene gastronomischen Schnellabfertigungsbetriebe, bei denen zwischen Thailand und China oft nicht mehr als eine Würzmischung liegt? Nicht im Fall des Restaurants Van in Stuttgart-Vaihingen. Denn Tuan Van, der das im Mai neu eröffnete Lokal nicht nur betreibt, sondern auch in der Küche verantwortlich ist, hat die spezifischen Zubereitungsarten der Gerichte aus Thailand, China, Kambodscha, Vietnam und Indonesien von der Pike auf gelernt. Dass sich der hohe Anspruch des gebürtigen Vietnamesen aber nicht nur auf die Qualität des Essens beschränkt, merkt man gleich Betreten des Lokals. Dessen Gestaltung ist von fast japanisch anmutender Ästhetik: schwarze Holztische und weiß gekalkte Wände, einzelne Elemente aus Bambusrohr, dazu Orchideen und eine dezente indirekte Beleuchtung – alles ist mit viel Liebe zum Detail gestaltet und fernab von jeglichem Asiakitsch.

Angesichts des reichhaltigen Angebots auf der Karte fällt die Auswahl schwer. Wir beginnen mit drei Vorspeisen: einer klassischen thailändische Suppe mit Hühnerfleisch (3,20 Euro), vegetarischen Herbstrollen (2,50 Euro) und Bo Luc Lac, einer vietnamesischen Spezialität: ein Salat aus mariniertem Rindfleisch (6,90) Euro), bei dem der angegebene Feldsalat allerdings – etwas unpassend – durch große Kopfsalatblätter ersetzt wurde. Ansonsten gibt es aber nichts auszusetzen. Dezent scharf und fein abgestimmt die Suppe, tadellos die kleinen Röllchen mit einem feinen, süß-sauren Dip, das Rindfleisch mürbe und bis in die Fasern von Gewürzaromen durchzogen.

Noch besser aber wird es bei den Hauptgerichten. Bekanntlich ist speziell die Thaiküche ja eine Schnellküche, bei der die Gerichte weitgehend standardisiert sind. Umso mehr kommt es auf die Ingredienzen und deren Zubereitung an, und da zahlt es sich aus, dass der Koch seine Currypasten selber stampft und nur frische Zutaten verwendet. Eine wahre Aromenexplosion ist die Ente mit Kokosmilch, Thai-Auberginen, Limettenblättern und Gemüse in Panang-Soße (12,90 Euro): die Röstaromen der knusprigen Kruste bilden einen wunderbaren Kontrast zu der fruchtig-frischen Soße, deren Schärfe von der Kokosmilch nur wenig gedämpft wird. Auch das Hühnerbrustfilet mit Kokosmilch, Süßkartoffeln und gelbem Curry (8,90 Euro) lebt vom Kontrast zwischen Süße und Schärfe, das Gemüse ist dazu auf den Punkt gegart. Die Nachtischauswahl beschränkt sich auf Klassiker wie gebackene Bananen mit Honig und Sesam (2,90 Euro) – wer´s mag. Ungewöhnlich ist dafür die kleine, feine Weinauswahl mit Empfehlungen, welcher Tropfen zu welchen Gerichten passt. Angesichts der moderaten Preise und des erlesenen Ambientes ist das Van ein echter Tipp.

Restaurant Van Katzenbachstrasse 46, 70563 Stuttgart-Vaihingen.

Tel. 70 72 72 92. Täglich geöffnet von 11 bis 15 und 17 bis 23 Uhr. Mittagsmenüs.

(Stuttgarter Zeitung)

 

Celso Antunes dirigierte Orffs Carmina burana im Beethovensaal

25.
Nov.
2011

Es dürfte wohl kaum ein Musikstück geben, das derart instrumentalisiert worden ist wie „O Fortuna“ aus Carls Orffs Carmina burana. Ob Werbung oder Film, immer wenn´s schickalhaft oder bedeutungsvoll klingen soll, lässt man die Glücksgöttin ihr chormächtiges Rad drehen. Das spricht nicht gegen das Stück, im Gegenteil. Carl Orff wusste eben ganz genau, wie sich die erwünschten Wirkungen musikalisch evozieren ließen – was auch für die anderen Sätze der Carmina burana gilt. Heute würde man solche Musik wohl als „retro“ bezeichnen – doch für Orff war die Rückwendung auf archaische Ausdrucksmittel wie Diatonik, Ostinati und Strophenlied zwangsläufige Folge seiner Suche nach unverstelltem, nach den magisch-kultischen Wurzeln unserer Kultur suchenden Ausdruck. Dass es dabei inhaltlich vor allem um diesseitige Freuden wie Essen, Trinken und Liebe – man könnte auch sagen: Sex – geht, dürfte mit dazu beigetragen haben, dass das Werk von christlicher Seite nicht immer gänzlich vorbehaltlos aufgenommen wurde, zumal Orffs Musik gerade die geschlechtlichen Freuden in ein ausgesprochenen sinnliches klangliches Gewand gekleidet hat.

Respekt also, dass die Bachakademie den Dauerbrenner neben Belá Bartóks Cantata profana „Die Zauberhirsche“ nun einem Akademiekonzert im Beethovensaal aufgeführt hat – der leider nicht sehr gut gefüllt war, was insofern schade ist, da man das Stück derart hochklassig nicht allzuoft erleben kann.

Denn der brasilianische Dirigent Celso Antunes hatte die Deutsche Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz, die Gächinger Kantorei und drei superbe Solisten zu einem Ensemble zusammengeführt, das all jene Qualitäten aufwies, die man für eine wirkungsmächtige Aufführung braucht: rhythmische Prägnanz und Klangbewusstsein, vor allem aber ein Gespür für die spezifischen Tonfälle dieser Musik, die mitunter völlig unvermittelt ihre Register ändert. Das gelang Antunes vorbildlich, wobei er mit Robin Johannsen (Sopran), Martin Schalita (Tenor) und vor allem Daniel Schmutzhard (Bariton) auch drei Solisten hatte, die die die ihnen anvertrauten Texte inhaltlich mit Leben füllten.

Hinreißend die Heldenpose des Baritons im „Estuans Interius“, ein einziger Ausruf von Glück die Soprankoloratur, mit der sich das Mädchen im „Dulcissime“ ihrem Geliebten ergibt. Und auch die tenoralen Sterbenslaute des verbrannten Schwans hat man derart gequält kaum einmal gehört. (Stuttgarter Zeitung)

Über Kinderliedermacher

19.
Nov.
2011

Eigentlich sind die Zeiten vorbei, in denen man Kindern irgendwelchen Schund vorsetzte: heute sollen auch sie gute Bücher lesen, gute Kunst betrachten und im Fernsehen gute Sendungen sehen. Nur die Kindermusik ist zum Teil immer noch lausig.

Nicht dass es keine gute Musik für Kinder geben würde. Man findet sie in Klassik und Jazz, von Mozart, Bartók oder Peter Schindler, und auch nicht alles, was im Populärbereich so für die Kleinen produziert wird, ist ganz schlecht. Aber das Gros der sogenannten Kindermusik, wie man sie in CD-Wühlregalen finden kann, ist dafür umso gruseliger. Und völlig unverständlich ist, warum manches von dem Mist sogar in ambitioniert gemachten Kindersendungen zu hören ist. Vielleicht liegt es ja an der Geschäftstüchtigkeit jener merkwürdigen Spezies der „Kinderliedermacher“. Dabei handelt es sich meist um Männer mittleren Alters, die bunte Hemden und Hosen tragen, sich mit „Ich bin der Rolf!“ oder einem anderen Vornamen vorstellen und nach Kräften bemühen, sich in Wortwahl und Habitus nicht allzusehr von den Kindern zu unterscheiden. Aus der Perspektive der Kleinen betrachtet könnten die zu dem Schluss kommen, dass Musiker Menschen sind, die nicht erwachsen werden wollen. Und selbst wenn sie in der Schule lernen, dass man etwas gut beherrschen sollte, um damit Geld zu verdienen, so gilt das für Kinderliedermacher offenbar nicht. Denn die können in der Regel weder richtig singen noch komponieren. Allenfalls beherrschen sie ein paar Akkorde auf der Gitarre, mit denen sie ihr Selbstgereimtes begleiten. Wenn es ganz schlimm kommt, ist das Ganze noch Playback und mit einem jener computergesampelten Arrangements versehen, die beim Publikum in Volksmusiksendungen den Mitklatschimpuls auslösen. Haben unsere Kinder das verdient?

Warum wir den Griechen Milliarden zahlen

13.
Nov.
2011

Die bisher schlagendste Antwort auf diese Frage lieferte Michael Mittermeier.  Die Lösung ist der Ouzo, den man beim Griechen immer nach dem Essen bekommt. Anders als wir immer gedacht haben, war der nie umsonst!

Das NDR Sinfonieorchester mit Thomas Hengelbrock beim Meisterkonzert

09.
Nov.
2011

Beethoven als klingendes Drama

Nicht eben alltäglich, dass neben Musikern der RS O Stuttgart auch dessen Manager sowie der ehemalige Chefdirigent Roger Norrington das Konzert eines Konkurrenzorchesters besuchen. Doch zum einen zählt das NDR Sinfonieorchester zu den renommiertesten Funkorchestern in Deutschland, zum anderen hat dort im September eben jener Dirigent seinen Dienst angetreten, den man nach Norringtons Abgang auch in Stuttgart gerne verpflichtet hätte: Thomas Hengelbrock. Mit seiner Erfahrung in historischer Aufführungspraxis hätte er Norringtons Arbeit weiterführen und gleichzeitig – da er keinerlei stilistische Scheuklappen besitzt – das Repertoire erweitern können. Das Bedauern, ihn nicht bekommen zu haben – Hengelbrock hatte den Hamburgern zum Zeitpunkt der Anfrage schon zugesagt – dürfte nach dem beeindruckenden Konzert im Beethovensaal nun nicht geringer geworden sein.

Für die erkrankte Geigerin Lisa Batiashvili sprang die Pianistin Alice Sara Ott mit Maurice Ravels Klavierkonzert G-Dur ein, einem der wohl schönsten Schöpfungen dieser Gattung. Das es gleichwohl selten in Konzerten zu hören ist, liegt nicht zuletzt an den Tücken der Partitur, die Solisten wie Orchester einiges abverlangt. Technische Perfektion sowieso, vor allem aber das Bewusstsein für die Doppelbödigkeit dieser Musik, in der der Ravel unterschiedliche Idiome zu einer schillernden Traummusik amalgamiert hat: Jazzanklänge und mozartsche Anmut, Saties kühle Noblesse und metrische Verwerfungen, die an Strawinsky denken lassen. Und das muss dann alles ganz mühelos und leicht klingen – eben so, wie es Alice Sara Ott und das blendend spielende NDR-Orchester hier vorgeführt haben. Mag man sich auch das Adagio Assai noch zeitenthobener, verklärter vorstellen können: rhythmisch pointierter und klanglich geschärfter als in den Ecksätzen geht es kaum.

Das hatte schon großes Format, und doch gab es nach der Pause mit Beethovens dritter Sinfonie, der Eroica, noch eine Steigerung. Unüberschaubar ist die Interpretationsgeschichte dieser Musik, zu der nicht zuletzt Roger Norrington wichtige Aspekte beigesteuert hat. Aber hat man diese Sinfonie je schon derart organisch und detailreich durchgestaltet gehört wie hier? Mit deiner derartigen Flexibilität in den Tempi, klanglich so akribisch ausgehört? Hengelbrock versuchte weder Temporekorde zu brechen noch auf Teufel komm raus einen Alte-Musik-Klang zu evozieren, stattdessen nutzte er das Klangpotential dieses wunderbaren Orchesters, um Beethovens Musik als klingendes Drama zu erzählen. Mit einem farbigen, sehnig-schlanken Klang, in dem der fabelhafte Pauker die rhythmischen Wegmarken setzte und einer traumhaften Hörnergruppe, die auch im zugegeben Brahms-Satz Akzente setzte. In Hamburg könnte etwas Großes entstehen.

Kit Armstrong spielte in der Meisterpianistenreihe

09.
Nov.
2011

Kit Armstrong

Selbst wenn man strenge Maßstäbe anlegt, so war Kit Armstrong wohl das, was man gemeinhin als Wunderkind bezeichnet: mit neun Monaten soll der in Los Angeles als Sohn einer taiwanesischen Bankerin aufgewachsene begonnen haben zu sprechen, mit zwei Jahren beherrschte er die Grundrechenarten. Mit fünf begann er Klavier zu spielen, mit sieben kam er an die Chapman University und schrieb seine erste Sinfonie. An der Royal Academy of Music in London traf er den Pianistenguru Alfred Brendel, der den jungen Mann unter seine Fittiche nahm. Brendel war von Armstrongs Talent derart angetan, dass sich der sonst nicht zu Übertreibungen Neigende verkündete, Armstrong sei „die größte Begabung, der ich in meinem ganzen Leben begegnet bin“. Wie sieht so eine Extrembegabung aus?

Wenn Kit Armstrong in seinem schwarzen Anzug zum Flügel schreitet – etwas steif, die Hände eng an die Oberschenkel geheftet – dann wirkt er eher wie ein Konfirmand denn wie ein Klaviershootingstar: auf fünfzehn könnte man ihn schätzen, dabei ist er schon neunzehn Jahre alt. Für sein Debut im Stuttgarter Beethovensaal hat sich Armstrong ein so anspruchsvolles wie stringentes Programm ausgesucht: zwei Werke von Johann Sebastian Bach umrahmten in jeder Programmhälfte zwei von Franz Liszt.

Dass Bach zu Armstrongs Lieblingskomponisten zählt, kann nicht verwundern wenn man weiß, dass Mathematik die zweite große Leidenschaft der Amerikaners ist. Und tatsächlich besticht Armstrongs Bachspiel durch eine luzide Offenlegung der polyfonen Strukturen, eine Plastizität des Stimmverlaufs, wie sie sich nur durch perfekte Kontrolle der Anschlagstechnik erreichen lässt. Fast grenzenlos erscheint in den beiden Präludien und Fugen B-Dur und b-Moll aus dem Wohltemperierten Klavier II Armstrongs artikulatorisches Spektrum: die Musik fließt in entspanntem Duktus dahin, und obwohl Armstrong durchaus Pedal einsetzt, wirkt jede Stimme völlig autonom. Auch in der lisztschen Bearbeitung der Fantasie & Fuge g-Moll BWV 542 kann man staunen über Armstrongs stupende Beherrschung der Form: jede Phrase erscheint eingebettet in eine übergeordnete Struktur, und die Intensität, mit der Armstrong auch reine Zweistimmigkeit wie in den Vier Duetten BWV 802-801 von innen heraus zum Sprechen bringt, lässt an große Bachspieler wie Murray Perahia denken – oder auch an Till Fellner, der übrigens – wohl kein Zufall – auch ein Brendelschüler ist.

Wie aber sieht es aus mit der Musik Franz Liszts, die, neben Formbeherrschung auch ein gerüttelt Maß an poetischer Imaginationsfähigkeit und pianistischer Entfesselung verlangt? Letzteres ist vielleicht das einzige, was Armstrong (noch) nicht zu Gebote steht. Anders als etwa beim jungen Jewgeni Kissin wirkt sein Musizieren immer emotional kontrolliert: außer einem leichten Zucken der Unterlippe zeigt er keine Regung, und wo Kissin sich, wie in der zehnten „Étude d´execution transcendante“ in einen regelrechten Rausch spielt, da bleibt Armstrongs Expressivität gezähmt. Dafür findet er für die zarten Dreiklangsmotive am Beginn von „Les Cloches de Genève“ aus den Années de Pélerinage feinste Pianissimoschattierungen, und beim Flirren der Wasserfontänen in „Les Jeux d´eau á l Villa d´Este“ kitzelt er schillernde Farben aus dem Steinway. Doch nachdrücklicher bleibt sein Bach in Erinnerung: Welche Klangräume er in Bachs Chromatischer Fantasie und Fuge d-Moll eröffnet, mit welch großer Geste er den improvisatorischen Charakter der Fantasie vorführt und dann mit abgeklärter Ruhe die Fuge entwickelt, das hat unzweifelhaft Format.
(Stuttgarter Zeitung)

Nigel Kennedy spielt im Stuttgarter Beethovensaal Vivaldi

03.
Nov.
2011

Irgendwie gaga

Mal ehrlich, ist das witzig? Der Titel „Air“ aus seiner Four Elements Suite, so scherzt Nigel Kennedy, komme von den schönen Haaren seiner Backgroundsängerinnen, also ein Wortspiel mit „Air“ und „Hair“. Dabei guckt er so keck, als hätte ein Neunjähriger vor seinen Erziehungsberechtigten eben irgendeinen verbotenen Fäkalausdruck fallen lassen. An einer anderen Stelle meint Kennedy, er sei ja für die Menschenrechte, weshalb sein Bratscher auch zusammen mit den anderen Musikern zu Abend essen dürfe. Der Angesprochene lacht gequält und muss sich auch noch pflichtschuldig erheben, um dem auf seine Kosten gemachten Witzchen seines Chefs die Reverenz zu erweisen.

Es sind aber nicht nur solche unterirdischen Scherze, die im Verlauf dieses Abends im schwach besetzten Stuttgarter Beethovensaal den Eindruck verfestigen, dass dieser Nigel Kennedy seiner pubertären Phase noch nicht so richtig entwachsen ist. Während seine Mitmusiker – das sogenannte Orchestra of Life – in feinster Abendgarderobe auftreten, trägt Kennedy eine Falten werfende Nietenhose, dazu Springerstiefel und eine viel zu große, glänzende Jacke, in der der mittlerweile knapp 55-Jährige zusammen mit seiner Punkertolle aussieht wie ein britischer Unterschichtler aus sozial prekärem Milieu. Wenn ein Stück zu Ende ist, verbeugt sich Kennedy nicht, sondern reckt entweder wiederholt den gestreckten Daumen ins Publikum oder macht eine Bewegung, als würde er sich Schweiß von der Stirn wischen. Irgendwie ist der Mann ein bisschen gaga.

Aber vielleicht ist das aber alles bloß ein geschickt inszeniertes Image: denn seit seinem Megaerfolg aus den späten 80ern mit Vivaldis 4 Jahreszeiten, dem bis heute meistverkauften Klassikalbum überhaupt, trägt Kennedy das Markenzeichen des Enfant terrible, das die steife Klassikszene mal so richtig aufmischt. In der Praxis sieht das dann so aus, dass er während Vivaldis „Frühling“ einmal im Chor mit seinern Musikern „O yeah“, und kurze Zeit später „O Shit!“ ruft. Oder bei besonders rhythmischen Stellen mit seinen Stiefeln auf den Boden tritt, dass die Bretter des Liederhallenpodiums wackeln. Nun hat Kennedy für seine aktuelle Tournee Vivaldis Erfolgsstück noch einmal neu bearbeitet: neben der Streicherbesetzung spielt nun auch eine kleine Band mit Perkussion, E-Gitarre, Keyboards und Trompete mit, ein vierstimmiger Backgroundchor trällert Vokalisen – wobei sich die Sängerinnen über den Zeitpunkt ihrer Einsätze nicht immer einig zu sein scheinen. Zwischen die einzelnen Sätze hat Kennedy eigene Stücke von äußerst schlichter Faktur eingefügt, die sich problemlos als Fahrstuhlmusik einsetzen ließen. Das gilt allerdings nicht für die Stellen, an denen Kennedy seine Violine gegen die Elektrogeige tauscht.

Was Rockgitarristen anbelangt, so gibt es ja vor allem zwei schlechte Angewohnheiten, mit denen sie das Publikum nerven können: zum einen die Neigung zum selbstverliebten Dauernudeln, zum anderen das Rumspielen mit Effektgeräten. Nun ist Kennedy zwar ein Geiger, aber in der Ausprägung, mit der er beiden genannten Leidenschaften frönt, scheint er im Geiste eher ein Hardrockgitarrist zu sein – zumal er offenbar deren musikalisches Weltbild teilt: für Kennedy gibt es entweder schnelle Stücke – die man dann so fetzig wie möglich spielt – oder Balladen, bei denen es dann „romantisch“ zugehen darf. So macht er Vivaldi platt, und so funktionieren auch die Sätze seiner selbst komponierten „Four Elements“ Suite, mit denen er nach der Pause bis weit nach 23 Uhr das Publikum beschallt. Das Werk klingt wie eine Resteverwertung aus Barock, Rock, Filmmusik und Ethnopop: zuckersüße Melodien über gut abgehangenen Akkordfolgen, endlos wiederholte Leerformeln, in Artrockmanier aufgedonnert, dazwischen klezmert, hendrixt und orientelt es ein bisschen. Ein schwer verdaulicher Stilmix. Und musikalisch so antiquiert, dass der gute alte Vivaldi daneben wie ein Revoluzzer wirkt. (Stuttgarter Zeitung)