Eindimensionaler Bach
Es passiert nicht alle Tage, dass die Deutsche Grammophon einem 15-Jährigen einen Exklusivvertrag anbietet. Ob sich das renommierte Gelb-Label dabei im Falle des kanadischen Pianisten Jan Lisiecki von der Aussage des Geigers Pinchas Zukerman beeinflussen ließ, der urteilte, ein solches Talent gebe es nur zweimal in hundert Jahren? Und auch wenn offen bleibt, wen Zukerman mit dem anderen Jahrhunderttalent wohl gemeint haben mag (vielleicht sich selber?): Zwei von der Kritik durchaus gelobte CDs mit Mozart-Klavierkonzerten und Chopins Etüden hat Lisiecki schon eingespielt und gibt Konzerte auf der ganzen Welt. Nun war der 19-Jährige innerhalb der Meisterpianistenreihe auch erstmals im Stuttgarter Beethovensaal zu Gast.
Ein Begriff, der im Zusammenhang mit Lisieckis Spiel immer wieder genannt wird, ist „Frische“. Und tatsächlich klangen unter seinen Händen die beiden Choralbearbeitungen „Wachet auf, ruft uns die Stimme“ und „Ich ruf zu Dir, Herr Jesu Christ“ von Bach/Busoni fast schon extrovertiert – jedenfalls weit weniger tiefsinnig-verklärt als bei anderen Pianisten. Positiv fiel die plastisch herausgearbeitete Stimmführung auf, wobei sich schon eine Tendenz zu einem recht flachen, wenig tragenden Klavierton zeigte. Dazu kommt Lisieckis Neigung, als Kompensation mangelnder klanglicher Differenzierung Themeneinsätze überdeutlich herauszumeißeln. Bei der folgenden Partita Nr. 2 c-Moll BWV 826 von Bach wurde das noch deutlicher, und man muss gar nicht Piotr Anderszewskis überirdisches Bachspiel vom letzten Meisterpianistenkonzert zum Vergleich heranziehen, um Lisieckis gehämmertes Non-legato eindimensional zu finden. Am besten, weil spannungsvollsten, gelang ihm noch das finale Capriccio, während vor allem die Courante auch jeglichen rhetorischen Gestus vermissen ließ.
Klar ist, dass Lisiecki technisch ein enormes Potential besitzt. Die schnellen Sätze aus Chopins Etüden op. 10 legt er bravourös hin, das Presto aus Mendelssohn-Bartholdys Rondo capriccioso huscht in Rekordtempo vorbei. Aber wo bleibt der mendelssohnsche Elfenspuk in diesem Stück, sein irrlichternder Zauber? Poesie, Kantabilität, Expression nicht nur durch Akzentuierung, sondern mittels Klang und Artikulation – das scheint Lisiecki (noch) kaum zu Gebote zu stehen. So kann er mit Chopins Etüde E-Dur wenig anfangen, die Melodie singt nicht, der Ton ist verhangen und stumpf. Mehr liegt ihm der knurrige Furor des cis-Moll Presto, auch die Revolutionsetude c-Moll rast er donnernd herunter. Imposant – aber auch ein wenig langweilig. Blass blieb auch Lisieckis Plädoyer für das Werk von Ignacy Jan Paderewski, einem einst weltberühmten Chopin-Interpreten: Weder die „Humoresques de concert“ als auch das „Nocturne B-Dur“ erreichen auch nur annähernd die Qualität seines Vorbilds Chopin. (StZ)
Mozart auf Leben und Tod
Sucht man nach Begriffen, um das Spiel der Academy of St. Martin in the Fields zu charakterisieren, dann fallen einem vielleicht zuerst Eleganz und Leichtigkeit ein. Dazu kommt eine distinkte Feinheit, ja – Noblesse des Tons, die das renommierte Kammerorchester sowohl von den historisch orientierten als auch von den allermeisten auf modernen Instrumenten spielenden Kammerorchestern abhebt. All dies sind Attribute, die die Academy unter seinem Gründer und langjährigen Dirigenten Neville Marriner entwickelt und zu ihrem Markenzeichen verfeinert hat. Seit gut drei Jahren ist der amerikanische Geiger Joshua Bell Leiter des Orchesters – und wie das Meisterkonzert im Beethovensaal zeigte, sind unter der Führung des Weltklassegeigers weitere Qualitäten dazugekommen. Konnte früher bei schwächeren Auftritten die Kultiviertheit schon mal in Unverbindlichkeit umschlagen, so war dieser Abend ein Musizieren auf der sprichwörtlichen Stuhlkante, mit einem Joshua Bell, der sowohl als Konzertmeister als auch in der Rolle des Solisten eine geradezu unbändige Musizierlust und Energie verströmte.
Nun ist Bell kein ausgewiesener Barockgeiger – doch die Schlüssigkeit seiner Gestaltung, die rhythmische Genauigkeit und atmende Phrasierung in Bachs Violinkonzert a-Moll BWV 1041 waren aller Ehren wert. Dazu kommt der feine, strahlende Klang seiner Huberman Stradivari, der sich perfekt in den Luxussound der Academy fügt – auch in Mozarts Sinfonia concertante Es-Dur KV 364, zu der sich der Bratschist Lawrence Power als weiterer Solist zu Bell gesellte. Dieses Werk lebt vom Dialog der beiden Soloinstrumente, und es war die pure Freude zu verfolgen, wie sich Geige und Bratsche hier die motivischen Bälle zuwarfen, mit spürbarer Lust an der eigenen Virtuosität.
Über Mozarts Sinfonie g-Moll KV 550 hat Nikolas Harnoncourt einmal gesagt, es gehe darin um „Leben und Tod“ – und mit diesem Impetus stürzte sich auch die Academy in ersten Takte dieses Werks, das, Harnoncourts Diktum zum Trotz, von vielen Dirigenten eher in die Rubrik „beschauliche Klassik“ gestellt wird – und auch so dirigiert. Joshua Bell freilich schlug sofort einen Tonfall größter Dringlichkeit an: mit scharfen Akzenten, straffem Tempo und einer dynamischen Palette, die in ihrer Differenziertheit eher an Streichquartette denn an Orchester denken ließ. Fast obsessiv die pochenden Synkopen im Andante, saftig-zupackend das Menuett. Und im finalen Allegro feierte die technische Brillanz des Orchesters regelrechte Triumphe: mit gestochen scharfen Figurationen, energetisch durchpulst und angetrieben von einem Joshua Bell der keine Zweifel daran ließ, dass er entschlossen ist, die ehrwürdige Academy zu neuen Ufern voranzutreiben. (StZ)
Keine Angst vor Höhenlagen
Was für Pianisten Beethovens 32 Sonaten, bedeuten Bachs sechs Solosuiten für Cellisten: eine künstlerische Reifeprüfung. Anders als für Klavier ist aber das Repertoire für Cello solo sehr überschaubar, sodass fast jeder bedeutende Cellist die sechs Suiten im Laufe seiner Karriere ein- (oder mehrmals) aufgenommen hat. Wer sich als junger Cellist dieser Aufgabe stellt, sieht sich also mit einer einschüchternden Fülle exzellenter Aufnahmen von Rostropowitsch bis Queyras konfrontiert. Da heißt es eine eigene Deutung zu finden – und das gelingt dem 26-jährigen deutsch-koreanischen Cellisten Isang Enders ausgezeichnet, der einen sehr persönlichen, überzeugenden Weg jenseits „romantischer“ und “historisch informierter“ Musizierauffassung wählt. Von Enders´ Kenntnis barocker Aufführungspraxis zeugen vor allem die Couranten und Bourrées, die er mit tänzerischem Duktus und differenzierter Artikulation spielt. Doch vor allem für die Préludes findet er sehr individuelle Lösungen, ohne dabei ins Manirierte abzugleiten: so nimmt sein spielerischer und frischer Zugang zum Prélude C-Dur ebenso gefangen wie der natürliche musikalische Fluss im c-Moll-Prélude. Und selbst die gefürchteten Höhenlagen im Eröffnungsstück der letzten Suite in D-Dur (die Bach für ein fünfsaitiges Instrument geschrieben hat) bewältigt Enders imponierend. Fast metaphysisch ist sein Zugang zu den Sarabanden, die er mit größter Versenkung spielt, auratisch verklärt. Nicht zuletzt auch wegen der überragenden Klangqualität ist diese Neueinspielung eine Bereicherung des Repertoires.
Bach: Cello Suites. Isang Enders. Berlin Classics. 2 CDs.
Gegen den Strich
So prall gefüllt war der Beethovensaal selten wie beim fünften Abokonzert des Radio-Sinfonieorchesters Stuttgart des SWR unter der Leitung von Roger Norrington. Im Publikum auffallend viele Jüngere, die wohl in erster Linie wegen Patricia Kopatchinskaja gekommen waren. Der 37-jährigen Moldawierin geht der Ruf eines wilden Geigenmädchens voraus, das gern mit Konventionen des saturierten Klassikbetriebs bricht – wozu auch Äußerlichkeiten wie der Umstand zählen, dass sie barfuß auf die Bühne kommt. Doch wichtiger ist ihr Umgang mit Klassikern des Repertoires, die sie gern mal gegen den Strich bürstet: hier war es Beethovens Violinkonzert, das man wohl noch nie so gehört hat wie an diesem Abend.
Es beginnt damit, dass Kopatchinskaja ihre Rolle als Solistin anders zu begreifen scheint als das Gros ihrer Kollegen. Über weite Strecken des ersten Satzes nimmt sie sich zurück, begreift ihre Funktion eher als dezente Kommentatorin dessen, was im Orchester passiert, als dass sie selber die Initiative ergreifen würde. Dazu passt ihr feinnerviger, in der Höhe leicht geschärfter Ton, der dann im Gesang des Larghetto eine brüchige, schillernde Schönheit verströmt. Beethovens Dynamikvorschriften, die Decrescendi ins ppp fordern, löst sie dabei konsequent ein – ein „perdendosi“ verliert sich hier wirklich im Nichts, ätherischer geht’s kaum. Den dritten Satz dagegen geht Kopatchinskaja betont musikantisch an, mit einer Körpersprache, wie man sie von Folkloregeigern kennt. Doch auch das wirkt schlüssig, wie man überhaupt den Eindruck gewinnen kann, dass die Eigenwilligkeiten der Geigerin immer begründet sind. Mit den Kadenzen setzt Kopatchinskaja ihrem in mancherlei Hinsicht irritierenden, gleichwohl niemals langweiligen Beethoven die Krone auf: zu ihrer Bearbeitung der vom Komponisten selbst verfassten Klavierkadenz spinnt sie einige Orchestermusiker zu einem munteren Kammermusizieren ein. Hinreißend auch ihre Zugaben, wobei sie die Sopranpartie bei „Ruhelos“ aus Kurtágs „Kafka Fragmenten“ gleich selbst übernimmt. Und Roger Norrington?
Der lässt der Solistin alle Freiheiten und erweckt den berühmten Stuttgart Sound noch einmal glanzvoll zum Leben: mit Streichern, selbstredend non-vibrato, und unterstützt durch Holzflöte, historische Trompete und harte Paukenschlägel zeigt das Orchester, dass dieser Klang nichts von seiner Legitimation verloren hat. Und das gilt überraschenderweise auch für Sibelius zweite Sinfonie.
Der geläufigen Ansicht, dieses Werk sei „sonnig“ und „lebensbejahend“ setzt Norrington eine Deutung entgegen, die die beunruhigenden Aspekte hinter den weit gespannten Melodiebögen und hymnischen Blechpassagen betont. Wild und irrlichternd das Vivacissimo und von schamanenhafter, zwischen Höllenritt und Apotheose changierender Wucht das Finale. Sehr langer Beifall. (StZ)
Ganz ohne Belehrung geht es nicht
Nathalie Thiede
„Lost in the stars“ lautete der Titel des Neujahrskonzerts der Staatsoper, und zunächst stand das Konzert unter keinem guten Stern. Denn der vorgesehene Dirigent Simon Hewett musste seinen Auftritt noch in der Silvesternacht absagen, war er doch (zum dritten Mal) Vater geworden und wollte – durchaus verständlich – Frau und Kinder nicht alleine lassen. Verloren war man bei der Staatsoper dennoch nicht, war doch die Hauskorrepetitorin Kristina Sibenik bereit, für Hewett einzuspringen, dazu übernahm der Dramaturg Patrick Hahn, der auch das Programm konzipiert hatte, die ursprünglich ebenfalls Hewett zugedachte Rolle des Moderators.
Nun ist das Neujahrskonzert eine schöne Tradition, selbst wenn man sich an der Oper gerade mit dem Leichteren oft schwer tut. Liegt es an aufklärerischen Grundhaltung des Hauses, dass ein so champagnerleicht prickelnder, beschwingter Abend wie das Neujahrskonzert von 2011 mit dem Sängerehepaar Natalie Karl und Matthias Klink eine Ausnahme geblieben ist? Stattdessen erinnert man sich eher ungern an Konzerte wie das von 2013, als Lothar Zagrosek unter anderem Messiaen dirigierte. Und auch im letzten Jahr musste es zu Bernstein und Gershwin noch Beethovens Große Fuge sein.
In diesem Jahr nun war man einerseits erwartungsfroh, standen doch Stücke von Kurt Weill auf dem Programm, der während seiner Zeit in den USA am Broadway große Erfolge feierte und Lieder wie den „September Song“ komponierte, die zu Jazzklassikern avancierten. Andererseits konnte man ob des Umstands, dass zu dem Abend eine Einführungsveranstaltung (!) angesetzt wurde, wieder nachdenklich werden – ganz ohne Belehrung geht es in der Oper offenbar nicht. Doch auch wer diese Einführung verpasste, bekam von Patrick Hahn auf durchaus charmante Weise zwischen den Stücken einiges über Geschichte und Hintergrund der Stücke mitgeteilt – was vielleicht lehrreich war, aber verhinderte, dass der Abend eine eigene Dynamik entwickelte.
Stattdessen gab es gut vorgekaute Häppchen. Motti Kastón begann mit „Berlin im Licht“ und war spürbar unsicher, mit welcher Haltung er das nun singen sollte – opernhaft? Chansonmäßig? – zumal das Orchester zu Beginn rhythmisch noch reichlich hüftsteif agierte. Doch dann kamen mit Nathalie Thiede und Hanna Plass zwei Mitglieder vom benachbarten Schauspielensemble auf die Bühne, um das Eifersuchtsduett aus der (dort aktuell auf dem Programm stehenden) Brechtschen „Dreigroschenoper“ zu singen. Und man begann zu ahnen, wie dieser frühe Neujahrsabend hätte gelingen können.
Denn auch wenn die Schauspielerinnen stimmlich limitiert sind, so brachten sie doch etwas auf die Bühne, was das Publikum sofort spürte und mit befreitem Applaus quittierte: Theaterhaltung und körperliche Präsenz. Hinreißend Nathalie Thiedes „Lost in the stars“, schüchtern ans Mikrofon geschmiegt und mit einem Blick, der Wände durchdrang. Nun könnte man natürlich fragen, ob es im Ensemble der Staatsoper niemanden gibt, der Musicals singen kann. Wie auch immer: diese drei Schauspielladies (später kam noch Caroline Junghanns dazu) retteten diesen gut gemeinten Abend, der noch viel besser hätte sein können, wenn ein Regisseur das Song-Potpourri mittels eines dramaturgischen Fadens verbunden hätte. Das Largo für Orchester aus Weills 2. Sinfonie wäre dann ebenso verzichtbar gewesen wie die beiden von Ashley David Prewett prima gesungenen Walt Whitman-Songs in Kunstliedmanier. Zum guten Ende jedenfalls brachte das Sängerensemble das Publikum mit Weills „Youkali“und dem „Bilbao Song“ doch noch in die rechte Neujahrsfeierlaune. Einigermaßen zumindest. (StZ)