Marc-André Hamelin in der Meisterpianistenreihe

25.
Jan.
2011

 

Die meisten Pianisten dürften sich glücklich schätzen, sie könnten mit zehn Fingern so gut spielen wie dieser Marc-André Hamelin mit fünf. Hätte man es nicht gesehen, wäre man kaum auf die Idee gekommen, dass dessen erste Zugabe, eine selbst geschriebene Etude nach einem Wiegenlied Tschaikowskys, allein mit der linken Hand gespielt wurde, derart vollständig erschien die musikalische Faktur: ein kantables Thema, begleitet von einem weit ausgreifenden akkordischen Satz, klanglich perfekt abgetönt. Unfassbar.

Dass viele den Franko-Kanadier für den besten Pianisten unserer Zeit halten, liegt allerdings nicht allein an dessen zirzensischen technischen Fähigkeiten. Denn Hamelin ist eben auch ein blitzgescheiter, hochsensibler Musiker, der sein immenses Talent immer in den Dienst einer musikalischen Idee stellt. Das Auftaktstück etwa, Haydns Sonate e-Moll Hob. XVI:34, fasste er als Spielmusik auf: aus einer klassischen Distanz heraus beleuchtete er das Stück von allen Seiten, klopfte es ab auf metrische Verschiebungen und spielte mit allen denkbaren Artikulationsarten zwischen Staccato und Legato. Vor allem das gedankenverlorene Adagio verströmte dabei eine fast rokokohaft verspielte Grazie, wozu auch die celestahaft funkelnden Töne beitrugen, die er dem Fazioliflügel entlockte. Künstlich, aber nicht kühl.

Hatte Hamelin den Flügel hier dynamisch im Zaum gehalten, so zeigte er in Schumanns Carnaval op. 9 eine geradezu orchestrale Fülle. Das Stück ist eine tönende Weltbühne, auf der Schumann neben den Figuren der Comedia dell´arte auch musikalische Protagonisten der Zeit wie Paganini oder Chopin auftreten lässt. Die blitzartigen Verwandlungen in diesem Maskenspiel erfordern pianistische Charakterisierungskunst, gleichermaßen kühlen Kopf und heißes Herz. Über beides verfügt Hamelin: Brillanz und Intimität, Pathos und Naivität stellt er dicht an dicht und spannt einen großen Bogen über die tönenden Skizzen, begreift sie als Kapitel einer Erzählung.

Das Werk des in Berlin geborenen jüdischen Komponisten Stefan Wolpe, der vor den Nazis in die USA emigrieren musste, ist bis heute in Deutschland wenig bekannt. So erscheint Hamelins Interpretation von dessen Passacaglia op. 23 wie eine Rehabilitation: großartige Musik von expressionistischer Kraft ist das, die derart fulminant gespielt einen regelrechten Sog entwickeln kann. Eine pianistische Exaltation, nach der Faurés Barcarole Nr. 3 Ges-Dur wie eine Traumvision wirkte: eine Skizze aus den Kanälen Venedigs, das Schillern des Wassers gedämpft durch einen Gazeschleier aus Nebel.

Mit Franz Liszts Opernparaphrase „Réminiscences de Norma“ bewies Hamelin schließlich noch einmal seine Führungsrolle unter den Tastenvirtuosen unserer Zeit: bezwingender, souveräner, leichthändiger meistert diese Höchstschwierigkeiten zurzeit keiner. Jubel und stehende Ovationen im gut besetzten Beethovensaal.(Stuttgarter Zeitung)

 

 

 

 

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