Das New York Philharmonic Orchestra mit Werken von Mahler in Baden-Baden

17.
Mai.
2011

Missverständnis

Gustav Mahler hielt nicht viel von Dirigenten. Außer Willem Mengelberg und Bruno Walter gab es kaum welche, die er schätzte, und noch weniger, denen er die Aufführung seiner Werke zutraute. Aus diesem Misstrauen gründet sich auch die Ausführlichkeit, mit der Mahler seine Partituren mit Ausführungshinweisen versah: Wo sich andere Komponisten mit allgemeinen Tempo- und Charakterisierungsangaben begnügten, versuchte er, das Gewünschte möglichst genau zu beschreiben. Was allerdings dann auch nicht viel nützt, wenn ein Dirigent Mahlers Musik grundsätzlich missversteht, wie nun am Freitag abend im Baden-Badener Festspielhaus Alan Gilbert beim Konzert der von ihm geleiteten New Yorker Philharmoniker. Dabei hat gerade dieses Orchester eine besondere Beziehung zu Mahler: war es doch das letzte, dem Mahler als Chefdirigent vorstand wie auch jenes, das die Mahler-Renaissance im 20. Jahrhundert einleitete – mit seinem Chefdirigenten Leonard Bernstein machte es sich als erstes daran, alle Sinfonien auf Schallplatte einzuspielen. Eine stolze Tradition also, die auch zuletzt Lorin Maazel, Gilberts Vorgänger als Chefdirigent, mit seinen Einspielungen weitergeführt hat.

Nun hat Gilbert, der das Orchester seit 2009 leitet, durchaus einiges mit Maazel gemeinsam. Sein Dirigierstil ist von ähnlicher Präzision und Eleganz, und klanglich vermag auch er Verblüffendes aus diesem Luxusklangkörper herauszukitzeln. Allein, das reichte an diesem Abend nicht. Denn Mahlers fünfte Sinfonie ist eben kein spätromantischer Schinken, kein hollywoodesker Gefühlssoundtrack, dem mit Positivismus irgendwie beizukommen wäre. Die Musik klang an diesem Abend nach allem Möglichen – Mussorgsky, Tschaikowsky – aber nicht nach Mahler. Gilbert, der auf dem Podium nach Kräften schuftete, scheint nichts zu ahnen von den Untiefen dieser Musik, ihrem gebrochenen, auch in den strahlendsten Blechbläserausbrüchen immer gefährdeten Tonfall, ihrer Doppelbödigkeit, in der sich Weltschmerz und Verzweiflung mit Erlösungsfantasien verschränken. Gilbert suchte sein Heil in äußerlichem Aufpolieren, jede Phrase wurde mit Goldlack überzogen – und verfehlte so den Urgrund von Mahlers Musik völlig. Nicht nur der einleitende Trauermarsch blieb ein Sammelsurium diffus expressiver Stellen bar jeder immanenten Entwicklung, das Adagietto verkam zum sentimentalen Rührstück.

Dabei hatte der Abend verheißungsvoll begonnen. Der Bariton Thomas Hampson sang Mahlers Kindertotenlieder mit der gebotenen, gezügelten Emotionalität, stimmlich ungeheuer präsent und weitgehend makellos, was Diktion und Textverständlichkeit anbelangt. Ein in seiner Intensität tief berührender Vortrag, zu dem Alan Gilbert und das Orchester ideale Begleiter waren – rhythmisch flexibel und gerade in leisen Passagen mit unglaublicher Klangkultur zeigte sich nachdrücklich, über welch großartiges Potential dieses Orchester verfügt.

(Stuttgarter Zeitung)

Ein Kommentar vorhanden

  • Helga Spriestersbach
    20. Mai 2011 10:52

    Hallo Herr Armbruster, vielen Dank für diesen Eintrag in Ihrem Blog. Sie sprechen mir aus der Seele, und ich bin froh, wenigsten einen Menschen gefunden zu haben, der sich vom großen Namen und der langen Mahler-Tradition der New Yorker nicht hat blenden lassen. Das war aus meiner Sicht Mahler „light“ in einer Art Musical-Version! Ganz furchtbar

    Beste Grüße
    Helga Spriestersbach

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