Musikfest 2011 Die Neuen Vocalsolisten singen im Wasserspeicher Rohr

14.
Sep.
2011

Spiel mit dem Nachhall

Tropfsteinhöhle, Kathedrale, Kulisse für einen Science-fiction-Endzeitfilm: Solcherart Assoziationen schießen einem durch den Kopf, wenn man die Treppe zu der riesigen Säulenhalle des Wasserspeichers Rohr hinabsteigt – wobei es ja ein rein technisches Gebäude ist, in dem sich dieser Eindruck äußerster Unwirklichkeit vermittelt: dient es doch allein dazu, das Bodenseetrinkwasser zwischenzuspeichern und je nach Bedarf an die Stuttgarter Haushalte weiterzuleiten. Allein die Dimensionen der Säulenhalle sind eindrucksvoll, 100 Millionen Liter Wasser kann sie fassen, das allerdings für die beiden Konzerte im Rahmen des Musikfestes vorsorglich abgelassen wurde. So zeugten nur noch minimale Pfützen und feuchte Wände von dem eigentlichen Zweck des Raums, dessen Temperaturen aufgrund der Verdunstungskälte ganzjährig im unteren einstelligen Bereich liegen. Warm anziehen lautete also die Devise für die Besucher, die in zwei Schichten das Konzert der Neuen Vocalsolisten Stuttgart besuchen wollten – aufgrund der großen Nachfrage war ein Zusatztermin angesetzt worden, wobei das große Publikumsinteresse nicht zuletzt damit zusammenhängen dürfte, dass man als Normalsterblicher diesen Ort sonst wohl nicht besuchen könnte. Denn natürlich sind hier die Hygienevorschriften hoch – man stelle sich vor, ein Keim gelänge in das Trinkwasser. So war es mit dicken Jacken und Socken allein nicht getan, vor Betreten des Speichers mussten die Besucher noch weiße Schutzjacken und Überzieher für die Schuhe anlegen, außerdem wurden die Hände sterilisiert. Dazu gab es noch eine kleine Einweisung von seiten Christine Fischers, der Intendantin von Musik der Jahrhunderte, die darauf hinwies, dass das gewohnte Gehen (Sitzplätze gab es nicht) aufgrund der Schuhmanschetten Geräusche verursachen kann – weshalb man sich auf eine Art fortbewegen solle, wie man es man es etwa beim Stapfen durch hohen Schnee zu tun pflegt: Beine hoch und Fuß flach aufgesetzt.

Dass die Mahnung angebracht war, zeigte sich dann rasch. Denn sofort nach Konzertbeginn setzten sich Teile des Publikums in Bewegung, die sensationelle Nachhallakustik des Raums an unterschiedlichen Orten zu erkunden – was ein Geschlurfe hervorbrachte, das eine eigenständige, wenngleich unerwünschte Geräuschschicht zum Gesang der Neuen Vocalsolisten beisteuerte. Viele übten sich allerdings auch im korrekten Stapfgang – und es bedarf nur wenig humoristischer Fantasie, um angesichts der in Schutzkleidung Umherstolzierenden entweder an eine Übung für den atomaren Ernstfall oder an eine Szene aus einer geschlossenen Abteilung denken zu müssen.

Aber natürlich galt´s hier vor allem der Kunst, und es gibt sicherlich nur wenige Werke, denen die Akustik der Säulenhalle besser entgegenkommt als Salvatore Sciarrinos 12 Madrigali, die die Neuen Vocalsolisten Stuttgart 2008 bei den Salzburger Festspielen uraufgeführt und auch auf CD aufgenommen haben. Der Komponist hat sich dafür einen Raum mit großem Hallanteil gewünscht, und einen mit einem längeren Nachhall als den Rohrer Wasserspeicher dürfte schwer zu finden sein. Für die Interpreten heißt das aber auch, dass sie auf diesen Hall reagieren, mit ihm spielen müssen: und das taten die Neuen Vocalsolisten mit der gestenreichen wie reduzierten Musik Sciarrinos auf faszinierende Weise. Die auf Haikus des japanischen Dichters Matsuo Bash komponierten Madrigale bestechen durch ihre verletzliche Schönheit, in der jedes Detail kostbar erscheint: mit feinsten Linien, die an japanische Tuschezeichnungen erinnern, Glissandischwüngen und mikrotonalen Schwebungen, die die im Kreis aufgestellten Sänger quasi im Dialog mit den zurückgeworfenen Raumresonanzen realisierten. Auch wenn man sich gewünscht hätte, die Musik ohne Ablenkung im Sitzen genießen und sich dabei ganz den Klängen und Hallphänomenen widmen zu können– als außergewöhnliche sinnliche Erfahrung wird dieses Konzert in Erinnerung bleiben. (Stuttgarter Zeitung)

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