Händels Oper „Alcina“ wieder an der Stuttgarter Staatsoper

06.
Okt.
2011

Foto: A.T. Schaefer

Das nennt man wohl Kult: es soll ja Fans gegeben haben, die jede einzelne Aufführung von Händels „Alcina“ am Stuttgarter Opernhaus – und das waren nicht wenige nach der Premiere im Mai 1998 – besucht haben. Es war die Zeit, als es so richtig losging mit der Inszenierung von Barockopern an deutschen Bühnen, und meist versuchte man der starren Dramaturgie der Barockoper beizukommen, indem man unter Einsatz der Bühnenmaschinerie das Illusionstheater mit modernen Mitteln wiederbelebte. Insofern war die Inszenierung von Jossi Wieler und Sergio Morabito – die hier zum ersten Mal gemeinsam Regie führten – in mancherlei Hinsicht ein Novum: statt Maschinentheater inszenierten sie ein psychologisch bis ins Detail ausgefeiltes Kammerspiel, das Innen- und Außenräume, Sein und Schein auf raffinierte Weise verschränkt. Alcinas Zauberinsel ist hier ein derangierter Salon, und der geniale Einfall der Bühnenbildnerin Anna Viebrock, die Bühne mittels eines riesigen Rahmens in Vorder- und Hinterbühne zu teilen, erlaubt im Verlauf der Handlung die vielfältigsten szenischen Assoziationen: der Rahmen blendet Vergangenheit und Zukunft, Realität und Fiktion ineinander, dient mal als Bühne, mal als Spiegel. Und in einer der ergreifendsten Szenen ist er auch schlicht: ein goldener Rahmen. Das Hochzeitspaar Bradamante und Ruggiero hat sich darin wie für den Fotografen aufgestellt, die Musik spielt dazu, doch die Idylle, das spürt jeder im Publikum, ist erzwungen. Es wird böse enden.

Am schlimmsten ergeht es schließlich Alcina, die von Bradamantes Lehrer Melisso erschossen wird, obwohl sie als einzige so etwas wie einen emotionalen Reifeprozess durchlaufen hat: wie sie sich aus ihrer Demütigung, verlassen worden zu sein, löst, und schließlich sogar ihrem einstigen Geliebten Ruggiero verzeiht, hat Catherine Naglestad auf bezwingende Weise sängerisch und darstellerisch beglaubigen können.

So wie damals Naglestad das Herz dieser Inszenierung war, so ist es nun die Sopranistin Myrtò Papatanasiu. Vielleicht waren ja auch deshalb einige Reihen leer geblieben, weil sich viele nicht vorstellen konnten, dass man für die Naglestad einen adäquaten Ersatz finden konnte: doch die junge, attraktive Griechin hat bei ihrem ersten Auftritt im Stuttgarter Haus das Publikum im Sturm erobert. Stimmlich von erlesener Qualität, mit Farbe, Fülle, Glanz und absoluter Koloraturensicherheit, ist sie wie die Naglestad eine Tragödin, die sich singend verzehren kann und dabei das Herz des Zuschauers rührt: herzzerreißend ihre Klage im dritten Akt „Mi restano le lagrime“. Momente, in denen man am liebsten die Zeit anhalten würde. Doch auch die anderen Sänger des bis auf die Rolle des Melisso (ein Bass wie ein Baum: Michael Ebbecke) völlig neu besetzten Ensembles können mit einzelnen Abstrichen überzeugen. Großartig in ihrer Differenzierungskunst und Phrasierungsgenauigkeit Sophie Marilley als Ruggiero: ihr gelingt es auch, Koloraturen als Ausdrucksmittel und nicht als technische Hürden erscheinen zu lassen. Damit hat die ansonsten sehr souveräne Marina Prudenskaja (Bradamante) noch zu kämpfen, im Gegensatz zu Ana Durlovski (Morgana): das wohl geläufigste Kehlchen im Ensemble singt hinreißend in den Arien – berückend das Duett mit dem Solocellisten Francis Gouton – klingt aber in den Rezitativen gelegentlich eng. Tadellos Diana Haller (Oberto), auch Stanley Jackson (Oronte) wirkt sehr engagiert in seiner Bühnenpräsenz.  Sein feiner Tenor besitzt Farbe und lyrische Geschmeidigkeit, allerdings sind seine Linien nicht immer auf jenem Puls, den Händels Musik vorgibt. Den arbeitet Sébastien Rouland mit dem klein besetzten Staatsorchester freilich auch nicht immer mit der nötigen Prägnanz heraus. Der Franzose hat seine Stärken im Atmosphärischen, Farben und Stimmungen zeichnet er sensibel, aber wenn es um Rhythmus und Phrasierung geht, fehlt allzuoft die Balance – die Ouvertüre kam rhythmisch kaum vom Fleck. Gleichwohl: Kultpotential besitzt diese neue alte „Alcina“ allemal. (Stuttgarter Zeitung)

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