Hans Christian Andersens Märchen „Die Schneekönigin“ in der Stuttgarter Werkhalle

29.
Nov.
2011

Nadja Stübinger

Na, diese Art von Eltern kennt man doch. Gymnasiallehrer ist Gerdas Vater. Zwar schon etwas älter, will er aber immer noch ein toller Sporthecht sein, und knickt doch schon nach zwei Minuten mit dem Knöchel auf dem Basketballfeld um. Beruflich längst unkündbar, hat Papa seinen verbliebenen Ehrgeiz auf die Ausbildung seiner Kinder und aufs Kochen verteilt: „Bachforelle auf Gemüsebett“ soll´s am Abend geben. Der dezent eleganten Mutter im Hosenanzug ist es recht, dass sie nicht kochen muss. So kann sie noch an ihrem Text arbeiten.

Typische, bildungsorientierte Mittelschichtseltern also, wie sie vermutlich das Gros jener Erziehungsberechtigten stellen dürften, die mit ihren Kindern die Neuinszenierung von Hans Christian Andersens Märchen „Die Schneekönigin“ besuchen. Hasko Weber hat das Stück für die Werkhalle in der Türlenstrasse neu bearbeitet und inszeniert, und dass der Regisseur damit dem Publikum nicht nur in dieser Szene quasi den Spiegel vorhält, gehört zum Konzept. Denn Weber hat die Geschichte um den Jungen Kay, den die Schneekönigin in ein fernes kaltes Land entführt und der dann von seiner Freundin Gerda nach einigen abenteuerlichen Stationen wieder kraft ihres reinen Herzens gerettet wird in die Lebenswelt von heutigen Kindern und Jugendlichen versetzt. Dabei hat er sowohl die originalen Schauplätze wie das Personal kräftigen Retuschen unterzogen.

So zeigt das Bühnenbild ein verlassenes Fabrikgelände: Mit einer Pförtnerloge im Hintergrund, einer Reihe von Spinden und einem Anbau mit großen Lüftungslöchern. Davor eine freie Fläche, die auf der Gerda und Kay sich zum Basketballspielen treffen. Dieses Gelände bildet den Hintergrund für all die wundersamen Dinge, die dann im Verlauf des neunzigminütigen Stücks passieren. Obwohl Webers Bühnenadaption radikal aufräumt mit all den zeittypischen Ingredienzen von Andersens Märchen – es gibt hier weder Prinzessinnen noch Räuberbanden – lässt sie gleichwohl Raum für seinen fantastischen Kern, hält die Geschichte in der Schwebe zwischen Traum und Wirklichkeit. Dazu fährt sie ein Arsenal an schrillen Typen auf, wie man sie auch im Theater nicht allzu häufig erleben kann. Etwa Rolf, die Kanalratte: Ein haariger, verdreckter, aber gutmütiger Zottel, der sich von liegengebliebenen Pausenbroten ernährt und Gerda der ersten Hinweis auf den Verbleib des vermissten Kay gibt. Er ist von der Kostümabteilung mit der gleichen Liebe zum Detail ausgestattet worden wie das erbgeile Paar, das seine spinnerte Mutter im Rollstuhl durch die Gegend schiebt: er ein irrer Professor mit Pullunder und Hornbrille, sie eine Prolltussi mit Leopardenleggins – und die vorgeblich debile und gelähmte Mutter erweist sich schließlich als qietschfidele Alte, die ihre missratenen Kinder bloß zum Narren hält und Gerda schließlich weiterhilft. Nicht nur hier entwirft die Regie eine kleine, hoch verdichtete Farce, die mächtig Tempo in die Geschichte bringt und von Groß und Klein gleichermaßen begeistert akklamiert wird – und kriegt am Ende doch wieder die Kurve zurück in den Plot, der ja auch eine Art Entwicklungsroman ist: zwei Kinder schlagen sich mit der Welt herum und finden am Ende heraus, was wirklich wichtig ist im Leben.

In Andersens Märchen sind sie da gar erwachsen geworden, und erwachsener werden sind sie auch in Webers Fassung. Gerda, da sie quasi im Schnelldurchlauf Bekanntschaft gemacht hat mit allerlei wunderlichen Ausgeburten unserer Zeit – neben den erwähnten sind da noch ein durchgeknalltes Hotelierspaar und ein russischer Taxifahrer mit Rentierpullover, der sie schließlich an den Nordpol ins Schloss der Schneekönigin bringt.

Doch vor allem Kay hat dazugelernt.

Der würde so gerne – wie viele Jugendliche heutzutage – ein singender Superstar werden: mit kreischenden Fans, Ruhm und ganz viel Geld. Dafür würde er alles tun, sogar seine Seele verkaufen. Und indem er der Schneekönigin folgt, die verspricht, aus ihm einen Star zu machen, sofern er nur „cool“ genug ist, erliegt er schließlich genau jener Verführung, der heutige Jugendliche durch Formate wie „Deutschland sucht den Superstar“ dauernd ausgesetzt sind. So moralinsauer das nun klingen mag, so fantasievoll und selbstironisch ist das in der Werkhalle in Szene gesetzt. Nadja Stübinger spielt die Schneekönigin als eine Art vollends zu Eis gewordene Heidi Klum, eine mephistophelisch grinsende Karrierecoachin, die gegen Ende die Kinder im Publikum “Na, ward ihr auch alle schön böse?“ fragt. Und man kann ja die Faszination gut nachvollziehen, wenn Kay im Glitzeranzug im Rampenlicht seinen Song schmettert, begleitet von der exzellenten dreiköpfigen Combo „The frozen snowdogs“, die für die musikalische Begleitung des Abends zuständig ist. Schließlich gibt es ja auch noch eine Tanzbegleitung, und es darf als echter Regiecoup gelten, hierfür einen so spektakulären Breakdancer wie Sebastian Petrascu verpflichtet zu haben. Der wird zum einen schlüssig in den Plot integriert, bietet aber vor allem für die jüngeren im Publikum immer wieder Anlass für staunende Ahs und Ohs, wenn er wieder mal einen Einhandstand oder eine andere hochartistische Einlage gemacht hat.

Dass sie sich auf verschiedenen Ebenen rezipieren lässt, ist ohnehin eine der stärksten Qualitäten dieser am Ende mit Riesenbegeisterung aufgenommenen Inszenierung. Es ist wirklich für jeden etwas dabei: Jüngere Kinder staunen über die fantasievollen Kostüme und bekommen die Grundzüge der Handlung doch gut mit, die Älteren können sich nicht zuletzt an den liebevollen Details ergötzen, mit denen Hasko Weber die Szenerie intellektuell angereichert hat. Jascha, der russische Taxifahrer etwa, trinkt nicht nur gerne ein Gläschen Wodka, sondern übt sich auch im Obertongesang – was man aber nur mitbekommt, wenn man gut aufpasst.

Was aber jeder mitbekommt, sind der Schwung und die Leidenschaft, mit der hier das gesamte Ensemble bei der Sache ist. Michel Brandt (Kay) und Eléna Weiß (Gerda), beides Schauspielstudenten, fügen sich perfekt in das restliche Ensemble ein, bei dem Sabine Bräuning, Christian Schmidt, Anja Lechle und Bernhard Baier in jeweils drei verschiedene Rollen schlüpfen.

Gerdas warmes Herz lässt am Ende dann sogar die eisige Schneekönigin schmelzen. Und irgendwie herzerwärmt macht man sich nach diesem Stück auch auf den Heimweg. (Stuttgarter Zeitung)

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