Grigory Sokolovs Klavierabend im Beethovensaal Stuttgart

06.
Nov.
2014

Nicht mehr ganz von dieser Welt

PORTUGAL MUSICWie kann ein Flügel klingen? Wenn man vielen Pianisten zugehört hat, meint man es zu wissen: von gröberen Naturen traktiert, tönt er gerne wie ein Schlaginstrument (was er seiner Mechanik nach auch ist), sensiblere vermögen ihm auch sangliche Qualitäten zu entlocken. Manchen gelingt es sogar, den Vorgang des Aufpralls der Hämmer auf die Saiten so zu differenzieren, dass beim Zusammenklang der Töne unterschiedliche Klangfarben entstehen.
Um das Spiel des Pianisten Grigory Sokolov zu beschreiben, der am Mittwoch abend einen Soloabend in der Meisterpianistenreihe im Stuttgarter Beethovensaal gegeben hat, reichen diese Kategorien nicht aus. Ein Sokolov-Konzert ist auch eine Schule des Hörens: denn die Art, wie der russische Pianist den Flügel behandelt, weckt völlig andere musikalische Assoziationen.
Die fließende Polyfonie der Allemande aus Bachs Partita B-Dur etwa lässt an ein Ensemble aus Blasinstrumenten denken, in der frei ausschwingenden Melodiestimme der Sarabande scheinen instrumentale Gesten und Kantabiltät zu einer Einheit verschmolzen zu sein. Sokolov schöpft das artikulatorische Spektrum zwischen Staccato und Legato aus und erreicht hier eine Qualität polyfon-klanglicher Durchgestaltung, die einzigartig ist. Bei allen Stücken dieses denkwürdigen Abends gab es Stellen, die man so noch nie gehört hat – in Beethovens Sonate Nr. 7 D-Dur vor allem im „Largo e mesto“, das Sokolov als zentralen Satz interpretiert. Kalt, fast unbewegt spielt er die Achtelbewegung der ersten Takte, danach erhebt sich in der Oberstimme ein stockender, erschütternder Klagegesang, immer wieder unterbrochen von schwarzen Akkordschlägen. Endlich rieseln, über Akkordflächen der linken Hand, Dreiergruppen aus Zweiunddreißigsteln wie goldene, tröstliche Sternschnuppen herab – eine Stelle zum Atemanhalten, nicht mehr ganz von dieser Welt.
In Chopins 3. Sonate h-Moll wird das Klavier zum Orchester. Nach dem vehementen Auftakt spielt Sokolov das Seitenthema in einem brüchigen Espressivo, dem alle Zärtlichkeit der Welt eingeschrieben ist und dem nichts süß Sentimentalisches mehr anhaftet. Das Scherzo huscht wie ein freundlicher Spuk vorbei, das Largo und vor allem das zersplitterte Presto-Finale weisen in ihrer existenziellen Dringlichkeit schon auf das Spätwerk Franz Liszts.
Dass Sokolov freigiebig mit Zugaben ist, ist bekannt. An diesem Abend schenkt er dem beglückten Publikum insgesamt sechs, was nochmals einen eigenen Programmteil ergibt, der den Abend erst kurz vor 23 Uhr enden lässt. In den drei Klavierstücken Schuberts, den beiden Chopin-Mazurken und Alexander Gribojedows Walzer e-Moll zeigt sich noch einmal Sokolovs unvergleichliche Kunst, den Flügel wie ein Medium zu behandeln, das dem Hörer unbekannte Welten aufschließt. Manche nennen das Transzendenz. (StZ)

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