George Benjamins „Into the little hill“ im Kammertheater Stuttgart

12.
Jun.
2015

Ohne Augen, ohne Nase, ohne Ohren

Keine schöne Geschichte, die vom Hamelner Rattenfänger. 130 Kinder entführen und sie dann aufs Nimmerwiedersehen verschwinden lassen, nur weil der versprochene Lohn nicht bezahlt wurde, das ist ganz schön gruselig. Und ungerecht ist es obendrein, denn was können schließlich die Kinder dafür, dass ihre Eltern sich nicht an Abmachungen halten? Doch gerade das Unheimliche ist es, das Kinder wie Erwachsene an Märchen wie diesem fasziniert, in dem es außer um Gerechtigkeit und Verantwortung vor allem um die Macht der Musik geht. Ein idealer Opernstoff also, den der britische Komponist George Benjamin 2006 nach dem Libretto von Martin Crimp zu einer Kurzoper verarbeitet hat: „Into the little hill“ heißt sein Stück für zwei Sängerinnen und 15-köpfiges Instrumentalensemble. Eine Neuinszenierung durch die Junge Oper Stuttgart hatte nun im Kammertheater Premiere.
In den acht mit surrealen Elementen angereicherten Szenen wird weniger die Geschichte erzählt. Eher werden Situationen entworfen, in denen sich Realität und Fantasie, Bewusstes und Unterbewusstes ineinander auflösen wie die Figuren selber. Denn jede der beiden Sopranistinnen (souverän: Marie-Pierre Roy und Nadia Steinhardt) übernimmt vier Rollen, wobei der Rattenfänger als amorphe Gestalt auftritt – „ohne Augen, ohne Nase, ohne Ohren“, wie es im Programmheft heißt. Auch eine Flöte hat er nicht, was wohl seine Verführungskraft ungreifbar machen soll. Die Rolle des Ministers erweitert das Stück um eine politische Dimension: Die Ratten, die er offenbar aus wahltaktischen Erwägungen ausmerzen will, lassen sich dabei als Metapher für alle unerwünschten Subjekte verstehen, die die soziale Ordnung gefährden könnten.
Der Vieldeutigkeit des Textes entspricht Benjamins Musik, die gleichermaßen dramatisch wie atmosphärisch ist. Das kleine, aus jungen Musikern bestehende Ensemble (Leitung: Nicholas Kok) ist interessant besetzt, zu Streichern und Bläsern treten Banjo und Zymbal – das klangliche Spektrum ist dementsprechend groß. Linien von Bassklarinette und Bassflöte betonen das unheilvoll Dräuende mancher Szenen, schrille, perkussive Klänge sorgen für dramatische Zuspitzungen.
Benjamins Oper ist ein hoch anspruchsvolles Werk zeitgenössischen Musiktheaters auf einem beträchtlichen Abstraktionsniveau, durchaus geeignet für eine ambitionierte Produktion im Opernhaus. Ein „Stück ab 12 Jahren“ wie es die Junge Oper annonciert, ist es aber sicher nicht – und wird es auch dadurch nicht, dass etwa 20 Kinder mitspielen und eine Erzählerin (Julienne Pfeil) zu Beginn einen Überblick über die der Oper zugrundeliegende Handlung gibt. Vielleicht trägt das sogar zur Verwirrung bei, denn wie sollen Kinder und Jugendliche verstehen, dass der Rattenfänger zunächst „als wunderlich gekleideter Mann mit einem bunten Rock“ beschrieben wird, auf der Bühne aber aussieht wie ein Brandverletzter mit Kopfverband? Selbst ältere Kinder dürfe es überfordern überhaupt mitzubekommen, wer da nun eigentlich wer ist bei den ständigen Rollenwechseln, zumal man die Augen permanent auf das über die Bühne projizierte Textband richten muss – denn die Oper wird auch noch auf Englisch gesungen!
Nein, diese Produktion ist gut gemeint, aber ansonsten ein großes Missverständnis. Dass es Opern für Kinder und Jugendliche gibt, die sich an deren Welt- und Hörerfahrungen anlehnen, ohne sich anzubiedern, hat die Junge Oper immer wieder gezeigt. Diese zählt nicht dazu.

3 Kommentare vorhanden

  • Maya
    16. Juni 2015 05:11

    Eine Oper für Jugendliche!
    Eine großartige Oper, ein Klangerlebnis sondergleichen mit einer wahnsinnigen Bandbreite. Einfach ein Erlebnis! Ob diese Oper für Kinder geeignet ist? Nein, sicher nicht. Diesen Anspruch erhebt die Inszenierung aber auch nicht. Für Jugendliche ab 12 Jahren jedoch sehr wohl. Diese werden sich nicht langweilen und nicht ängstigen, vermutlich auch nicht alles verstehen, aber verstehen denn Erwachsene in jeder Inszenierung für Erwachsenen alles? Soll die Oper nicht vielmehr ein neues Spektrum an Erfahrungen öffnen und zum Nachdenken anregen? Ab 14 Jahren sind die Jugendlichen sicher so weit, dass Sie der Geschichte folgen können. Und das sogar in Englisch. Kurze einfache Sätze, glasklar intoniert unterstützt durch knappe Übertexte in Deutsch. Fazit: kein Märchen für Kinder, aber eine wunderbar doppelbödig inszenierte Geschichte, die Stoff zum Reden am Familientisch bietet und an der sogar Erwachsene ohne Kinderbegleitung Spaß haben.

  • Frank Armbruster
    16. Juni 2015 09:03

    Ich glaube nicht, dass Jugendliche der Geschichte folgen können. Und „Spaß“ habe ich ehrlich gesagt auch keinen gehabt.

  • Thomas Feuerlein
    16. Juni 2015 21:14

    Sehr geehrter Herr Armbruster,
    schnappen Sie sich Ihre Kinder und machen Sie die Probe aufs Exempel. Ich war heute mit allen drei Kindern (12, 14 und 15) in der Vorstellung. Und was soll ich sagen? Es hat funktioniert! Und das ganz ohne Opernerfahrung. Vor mir saß sogar eine ganze Schulklasse und hat am Ende begeistert applaudiert. Wir sollten nicht den Fehler machen, den Kindern zu wenig zuzutrauen!

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